Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Siebentes Kapitel

Die Erkrankung

Über dem Stadtwald und den Gärten rührte sich das junge Leben des Frühlings. In stillem Wintertraum hatten Knospen und Raupen nebeneinander geschlafen, jetzt schoß das Blatt aus seiner Hülle und der Wurm kroch über das junge Grün. Unter dem hellen Schein einer höheren Sonne begann der Kampf des Lebens, das Blühen und Welken, die bunten Farben und der Spätfrost, in dem sie erblichen, das lustige Laub und der Käfer, der daran nagte. Der uralte Streit erhob sich um Knospen und Blüten wie im Herzen des Menschen.

In Ilses Lehrstunden wurde jetzt Herodot gelesen. Auch er ein Frühlingsbote des Menschengeschlechts an der Grenze zwischen träumender Poesie und heller Wirklichkeit, der frohe Verkünder einer Zeit, in welcher das Volk der Erde sich der eigenen Schönheit freute und die Wahrheit mit Ernst zu suchen begann. Wieder las Ilse in leidenschaftlicher Spannung die Seiten, welche ihr eine verschüttete Welt so lebendig und herzlich vor Augen stellten. Aber es war nicht mehr die ungetrübte erhebende Freude an dem Erzählten, wie bei dem Werk des großen Dichters, der Schicksal und Taten seiner Helden so lenkte, daß sie mit Gemüt auch da wohltaten, wo sie Leid und Schrecken erregten. Denn das ist ein Recht der menschlichen Erfindung, die Welt zu gestalten, wie das weiche Herz des Menschen sie ersehnt: Wechsel und billiges Verhältnis in Glück und Leid, jedem einzelnen nach seiner Kraft und seinem Tun Anerkennung und klug zugemessene Vergeltung. Der Geist aber, welcher hier das geschwundene Leben regierte, waltete übermenschlich; die Fülle des Lebendigen drängte sich, eines verwüstete das andere, erbarmungslos brach die Zerstörung ein, sie traf die Guten wie die Bösen, es war auch eine Vergeltung, es war auch ein Fluch, aber sie schlugen unbegreiflich, grausam, herzzermalmend. Das Gute blieb nicht gut, und das Böse behielt den Sieg. Was erst zum Segen war, wurde später zum Verderben, was heut wohltätig Größe und Herrschaft gab, das wurde morgen eine Krankheit, welche den Staat zerstörte. Wenig galt jetzt der einzelne Held; wo sich eine große Menschenkraft für Augenblicke herrschend erhob, sah Ilse gleich darauf, wie sie dahinschwand in dem wirbelnden Strom der Ereignisse. Krösus, der übersichere gutherzige König, fiel, der starke Cyrus verging, und Xerxes wurde geschlagen. Aber auch die Völker versanken, die große Wunderblume Ägypten verdorrte, das goldene Reich der Lyder zerbrach, die mächtigen Perser verdarben zuerst andere, dann sich selbst. Und in dem jungen Hellenenvolk, das sich so heldenkräftig erhob, sah sie bereits den Zorn, die Missetat und die feindlichen Gegensätze geschäftig, durch welche das schönste Gebilde des Altertums nach kurzem Gedeihen vergehen sollte.

Ilse und Laura saßen einander gegenüber, zwischen ihnen lag das aufgeschlagene Buch. Zwar wurde Laura nicht bei dem geheimen Vortrag des Professors zugelassen, aber ihre Seele flog getreulich auf der Wildbahn nebenher. Ilse teilte ihr von dem Erwerb ihrer Stunden mit und genoß die süße Freude, neues Wissen in den Geist einer Vertrauten zu senken.

»Auf diesen Xerxes habe ich einen großen Zorn,« rief Laura, »schon von der Fibel her: Der Perser Xerxes war ein reicher König, Xanthippe war ein Weib, doch taugten beide wenig. Ich dachte lange, Xanthippe wäre seine Frau gewesen, ich hätte sie ihm gegönnt. Sehen Sie dagegen die dreihundert Spartaner, sie senden die andern nach Haus, kränzen sich und salben sich und ziehen ihr Festkleid an zum Tode. Das erhebt das Herz. Sie waren Männer. Und könnte ich ihrem Gedächtnis etwas Liebes erweisen durch meinen dummen Kopf und meine schwachen Hände, ich wollte dafür arbeiten, bis mir die Finger schmerzten. Aber was kann ich Armselige tun! Höchstens Reisetaschen sticken für ihren Weg in die Unterwelt, und sie kämen zweitausend Jahre zu spät. Wir Frauen sind erbärmlich dran,« rief sie ärgerlich.

»Ich weiß andere aus der Schlacht,« sagte Ilse, »die mir rührender sind als die dreihundert von Sparta. Das sind die Thespier, welche zugleich mit ihnen kämpften und starben. Die Spartaner zwang ihr stolzes Herz, die strenge Zucht und Befehl ihrer Obrigkeit. Die Thespier aber starben freiwillig. Sie waren kleine Leute und sie wußten wohl, daß die größte Ehre ihren vornehmen Nachbarn bleiben würde. Sie aber standen treu in bescheidenem Sinn, und das war weit selbstloser und edler. – Ach, ihnen allen war es leicht,« fuhr sie traurig fort, »aber die zurückblieben, ihre armen Eltern, die Frauen und Kinder, das zerstörte Glück und der unsägliche Jammer daheim.«

»Jammer!« rief Laura, »wenn sie dachten wie ich, waren sie stolz auf den Tod ihrer Lieben und trugen, wie diese, Kränze in ihrem Schmerz. Wozu ist unser Leben, wenn man sich nicht freuen darf, es für Höheres hinzugeben?«

»Für Höheres?« fragte Ilse. »Was den Männern höher gilt als Weib und Kind, ist das höher auch für uns? Unser Amt ist, das ganze Herz auf sie, die Kinder und das Haus zu richten. Wenn sie uns genommen werden, uns ist das ganze Leben verwüstet, und nichts bleibt als unendliche Trübsal. Das ist für uns wohl natürlich, wenn wir ihren Beruf anders ansehen als sie selbst.«

»Ich will auch ein Mann sein,« rief Laura. »Sind wir denn so schwach an Geist und Gemüt, daß wir weniger Begeisterung und Ehrgefühl und Liebe zum Vaterland haben müssen als sie? Der Gedanke ist furchtbar, durch das ganze Leben nur Dienerin zu sein eines Gebieters, der auch nicht stärker und besser ist als ich, der Gummischuhe trägt, sich die Füße nicht naß zu machen, und einen wollenen Schal, sobald ein rauhes Lüftchen weht.«

»Man trägt dergleichen hier in der Nachbarschaft,« versetzte Ilse lächelnd.

»Es tun's die meisten,« sagte Laura ausweichend, »und glauben Sie mir, Frau Ilse, dies Männervolk hat kein Recht darauf, daß wir unser ganzes Herz und Leben auf sie richten. Gerade die tüchtigsten haben kein volles Herz für uns. Wie sollten sie auch? Wir sind ihnen gut zur Unterhaltung und ihre Strümpfe zu stopfen und vielleicht ihre Vertrauten zu werden, wenn sie einmal nicht Rat wissen, aber die besten von ihnen sehen immer über uns weg auf das Ganze, und dort ist ihr eigentliches Leben. Was ihnen recht ist, das sollte uns billig sein.«

»Haben wir nicht genug an dem, was sie uns von ihrem Leben geben?« fragte Ilse. »Ist's auch nur ein Teil, er macht uns glücklich.«

»Ist es ein Glück, die größten Gefühle zu entbehren?« rief Laura wieder, »können wir sterben wie Leonidas?«

Ilse wies auf die Tür ihres Gatten. »Mein Hellas sitzt dort drin und arbeitet, und mir pocht das Herz, wenn ich seinen Tritt höre oder auch nur das Knistern seiner Feder. Für den einen Geliebten zu leben oder zu sterben, ist doch auch eine erhebende Idee, und sie macht glücklich. Ach, nur glücklich, wenn man weiß, daß man ihm ein Glück ist.«

Laura flog zu den Füßen der Freundin, sah ihr in das sorgenvolle Antlitz und schmeichelte. »Ich habe Sie ernsthaft gemacht mit meinem Geschwätz, und das war unrecht, denn ich möchte Ihnen jede Stunde ein Lächeln um die Lippen zaubern und immer ein freundliches Licht in die sanften Augen. Haben Sie Geduld mit mir, ich bin ein Querkopf und ein unwirsches Ding und oft unzufrieden mit mir und andern, und ich weiß manchmal selbst nicht warum. – Aber Xerxes taugt nichts, dabei bleibe ich, und wenn ich ihn hätte, ich könnte ihn alle Tage ohrfeigen.«

»Ihm wenigstens ist es vergolten worden,« versetzte Ilse. Laura sprang wieder auf. »Ist das eine Vergeltung für den Buben, Hunderttausende hat er umgebracht oder elend gemacht, und er fährt mit heiler Haut nach Hause. Es gibt keine Strafe, die hart genug ist für solchen frevelhaften König. – Ich weiß aber recht gut, wie er war, er war ein verzogenes Muttersöhnchen, er hatte immer in seinem elterlichen Hause gelebt, er war aufgewachsen im Überfluß, und alle Menschen waren ihm untertänig. Deswegen behandelte er alle mit Verachtung. Es würde andern ebenso gehen, wenn sie in die Lage kämen. Ich kann mir's recht gut denken, daß ich selbst so ein Ungetüm sein würde, und mancher Bekannte auch.«

»Etwa mein Mann?« fragte Ilse.

»Der ist mehr Cyrus oder Kambyses,« versetzte Laura.

Ilse lachte. »Das ist nicht wahr. Aber wie wäre es mit dem Doktor drüben?«

Laura hob strafend die Hand gegen das Nachbarhaus. »Der wäre Xerxes, gerade wie er im Buche steht. Wenn Sie sich den Doktor denken ohne Brille, in einem goldenen Schlafrock, mit einem Zepter in der Hand, ohne sein gutes Herz, was Fritz Hahn allerdings hat, und etwas weniger gescheit als er ist, und noch mehr verzogen als er ist, und als einen Menschen, der kein Buch geschrieben hat, und nichts gelernt hat als andere schlecht behandeln, so ist er ganz Xerxes. Ich sehe ihn vor mir auf dem Throne sitzen hier am Bach und mit seiner Peitsche in das Wasser schlagen, weil es ihm die Stiefel naß macht. Der hätte wohl gefährlich werden können, wenn er nicht hier am Stadtpark geboren wäre.«

»Das meine ich auch,« versetzte Ilse.

Aber am Abend in der Lehrstunde sprach Ilse zum Gatten: »Als Leonidas mit seinen Helden starb, rettete er seine Landsleute vor der Herrschaft fremder Barbaren, aber nach ihm endeten viele Tausende des schönen Volkes im innern Kampf der Städte, und in solchem Streite verdarb das Volk, und nicht lange währte es, da kamen andere Fremde und nahmen ihren Enkeln doch die Freiheit. Wozu sind die vielen Tausende gestorben, was half der Haß und die Begeisterung und der Parteieifer, alles war eitel und alles ein Zeichen des Untergangs. Der Mensch ist hier wie ein Sandkorn, das in den Boden getreten wird, ich stehe vor einem schrecklichen Rätsel und mir wird bange auf der Erde.«

»Ich will versuchen, dir eine Lösung zu geben,« versetzte der Gatte ernst, »aber die Worte, welche ich dir heute sagen darf, sind wie die Schlüssel zu den Gemächern des bösen Blaubart. Öffne nicht zu hastig jedes Zimmer, denn in einigen ist zu schauen, was dir jetzt vorzeitig neue Unsicherheit aufregt.«

»Ich bin dein Weib,« rief Ilse, »und hast du eine Antwort für die Fragen, welche mich peinigen, so fordere ich sie.«

»Es ist auch dir kein Geheimnis, was ich dir antworte,« sprach der Professor. »Du bist nicht nur, wofür du dich hältst, ein Mensch, geschaffen zu Leid und Freude, durch Natur, Liebe, Glauben mit einzelnen verbunden, du bist zugleich mit Leib und Seele einer irdischen Macht verpflichtet, um die du nur wenig sorgst, und die doch vom ersten bis zum letzten Atemzuge dein Leben leitet. Wenn ich dir sage, daß du ein Kind deines Volkes und daß du ein Kind des Menschengeschlecht bist, so ist dir dies Wort so geläufig, daß du wohl nicht mehr an die hohe Bedeutung denkst. Und doch ist dies Verhältnis das höchste irdische, in dem du stehst. Zu sehr werden wir von klein auf gewöhnt, nur die einzelnen, mit denen uns Natur und freie Wahl verbindet, in unser Herz zu schließen, und selten denken wir daran, daß unser Volk der Ahnherr ist, von dem die Eltern stammen, der uns Sprache, Recht, Sitte, Erwerb und jede Möglichkeit des Lebens, fast alles, was unser Schicksal bestimmt, unser Herz erhebt, geschaffen oder zugetragen hat. Freilich nicht unser Volk allein; denn auch die Völker der Erde stehen wie Geschwister nebeneinander, und ein Volk hilft Leben und Schicksal der andern bestimmen. Alle zusammen haben gelebt, gelitten und gearbeitet, damit du lebst, dich freust und schaffst.«

Ilse lächelte. »Auch der böse König Kambyses und seine Perser?«

»Auch sie,« versetzte der Professor, »denn das große Netz, in welchem dein Leben einer Masche gleicht, ist aus unendlich vielen Fäden zusammengewebt, und wenn einer gefehlt hätte, wäre das Gewebe unvollständig. Denke zuerst an Kleines. Der Tisch, an welchem du sitzest, die Nadel, welche du in der Hand hältst, die Ringe an Finger und Ohr verdankst du Erfindungen einer Zeit, aus welcher Kunde fehlt; damit dein Kleid gewebt werden konnte, ist der Webstuhl in einem unbekannten Volke erfunden, und ähnliche Palmenmuster, wie du trägst, sind in einer Fabrik der Phönizier erdacht worden.«

»Gut,« sagte Ilse, »das lasse ich mir gefallen, es ist ein hübscher Gedanke, daß die Vorzeit so artig für mein Behagen gesorgt hat.«

»Nicht dafür allein,« fuhr der Gelehrte fort, »auch was du weißt und was du glaubst, und vieles, was dein Herz beschäftigt, ist dir durch dein Volk aus eigener und fremder Habe überliefert. Jedes Wort, das du sprichst, ist durch Hunderte von Generationen fortgepflanzt und umgebildet worden, damit es den Klang und die Bedeutung bekam, welche du jetzt spielend gebrauchst. In diesem Sinne sind unsere Ahnen aus Asien ins Land gezogen, hat Armin mit den Römern für Erhaltung unserer Sprache gekämpft, damit du an Gabriel einen Befehl geben kannst, den ihr beide versteht. Für dich haben die Dichter gelebt, welche dir in der Jugendzeit des Hellenenvolkes den kräftigen Klang des epischen Verses erfanden, den ich so gern von deinen Lippen höre. Und ferner, damit du glauben kannst, wie du glaubst, war vor dreihundert Jahren in deinem Vaterlande der großartigste Kampf der Gedanken nötig, und wieder anderthalbtausend Jahre früher in einem kleinen Volke Asiens ein machtvolleres Ringen der Seele, und wieder fünfzig Generationen früher ehrwürdige Gebote unter den Zelten eines wandernden Wüstenvolkes. Das meiste, was du hast und bist, verdankst du einer Vergangenheit, die anfängt von dem ersten Menschenleben auf Erden. In diesem Sinne hat das ganze Menschengeschlecht gelebt, damit du leben kannst.«

Ilse sah mit Spannung auf den Gatten. »Der Gedanke erhebt,« rief sie, »und er kann den Menschen stolz machen. Aber wie stimmt dazu, daß derselbe Mensch wieder ein Nichts ist und wie ein Wurm zertreten wird in dem großen Treiben deiner Geschichte?«

»Wie du ein Kind deines Volkes und des Menschengeschlechtes bist, so ist es zu jeder Zeit der einzelne gewesen, und wie er sein Leben und fast den ganzen Inhalt desselben dem größeren Erdengebilde verdankt, von dem er ein Teil ist, so ist auch sein Schicksal an das größere Schicksal des Volkes, an die Geschicke der Menschheit gefesselt. Dein Volk und dein Geschlecht haben dir vieles gegeben, sie verlangen dafür ebensoviel von dir. Sie haben dir den Leib behütet, den Geist geformt, sie fordern auch deinen Leib und Geist für sich. Wie frei du als einzelner die Flügel regst, diesen Gläubigern bist du für den Gebrauch deiner Freiheit verantwortlich. Ob sie als milde Herren dein Leben friedlich gewähren lassen, ob sie es mit hoher Mahnung in einer Stunde fordern, deine Pflicht ist dieselbe; indem du für dich zu leben und zu sterben meinst, lebst und stirbst du für sie. Das einzelne Leben ist für solche Betrachtung unermeßlich klein gegen das Ganze. Uns ist der einzelne verstorbene Mensch nur erkennbar, sofern er auf andere Menschen eingewirkt hat, nur im Zusammenhange mit denen, die vor ihm waren und nach ihm kamen, hat er Wert. Wert hat aber in diesem Sinne der Große und der Kleine. Denn in solcher Pflicht gegen sein Volk arbeitet jeder von uns, wer seine Kinder erzieht, wer den Staat regiert, wer Wohlstand, Behagen, Bildung seines Geschlechtes mehrt. Unzählige wirken dies, ohne daß von ihnen eine persönliche Kunde bleibt, sie sind wie Wassertropfen, die mit andern eng verbunden als große Flut dahinrinnen, für spätere Augen nicht erkennbar. Aber vergebens haben darum auch sie nicht gelebt. Und wie die zahllosen Kleinen Bewahrer der Bildung und Arbeiter für Fortdauer der Volkskraft sind, so stellt auch die höchste Kraft des einzelnen, der größte Held, der edelste Reformator durch sein Leben nur einen kleinen Teil der Volkskraft dar. Während er für sich und seine Zwecke kämpft, arbeitet er zugleich umgestaltend für seine Zeit, vielleicht über seine Zeit und sein Volk hinaus, für alle Zukunft. Auch er zahlt nur die Schuld seines Lebens, indem er die Verpflichtung späterer Menschen größer und edler macht. Sieh, Geliebte, bei solcher Auffassung schwindet der Tod aus der Geschichte. Das Resultat des Lebens wird wichtiger als das Leben selbst, über dem Mann steht das Volk, über dem Volk die Menschheit, alles, was sich menschlich auf Erden regte, hat nicht nur für sich gelebt, sondern auch für alle anderen, auch für uns, denn es ist ein Gewinn geworden für unser Leben. Wie die Griechen in schöner Freiheit herauswuchsen und vergingen und wie ihre Gedanken und Arbeiten den späteren Menschen zugute kamen, so wird auch unser Leben, das in kleinem Kreise verläuft, nicht vergeblich für die Geschlechter der Zukunft.«

»Ach,« rief Ilse, »das ist eine Ansicht über das Erdenleben, die nur solchen möglich ist, welche Großes tun, und um die man sich in später Zeit immer wieder kümmert. Mich friert dabei. Der Mensch ist hier nur wie Blume und Kraut und das Volk wie eine Wiesenfläche, und sind sie gemäht durch die Zeit, so ist, was übrigbleibt, nur nützliches Heu für die Spätern. Alle, die einst waren und die jetzt sind, sie haben doch auch für sich selbst gelebt und für die, welche sie sich mit freier Liebe suchten, für Weib und Kind und ihre Freunde, und sie waren doch etwas anderes als eine Ziffer unter Millionen und als ein Blatt am ungeheuren Baume. Und wenn ihr Dasein so klein ist und so unnütz, daß euer Auge keine Spur seines Schaffens erkennt, das Leben des armen Bettlers, meines Kranken am Dorffenster, ihre Seelen werden doch behütet von einer Macht, welche größer ist als dein großes Netz, das aus Menschenseelen gewebt ist.« Sie sprang auf und starrte dem Gatten ängstlich in das Antlitz. »Beugt euren Menschenstolz vor einer Gewalt, die ihr nicht versteht.«

Der Gelehrte sah besorgt auf sein Weib. »Auch ich beuge mich in Demut vor dem Gedanken, daß die große Einheit des Lebendigen auf dieser Erde nicht die höchste Macht des Lebens ist. Nur der Unterschied ist zwischen dir und mir, daß ich gewöhnt bin, in meinem Geist mit den hohen Gewalten der Erde zu verkehren. Auch mir sind die Offenbarungen so ehrwürdig und heilig, daß ich dem Ewigen und Unbegreiflichen am liebsten auf diesem Wege zu nahen suche. Du bist gewohnt, das Unerforschliche im Bilde zu schauen, welches fromme Überlieferung in dein Gemüt gelegt hat, und ich wiederhole die Worte, welche ich dir früher sagte: Dein Suchen und Vertrauen und das meinige entspringen aus derselben Quelle, und es ist dasselbe Licht, zu dem wir aufblicken, wenn auch auf verschiedene Weise. Was dem Glauben früherer Geschlechter die Götter und wieder die Engel und Erzengel waren, höhere Gewalten, welche als Boten des Höchsten das Leben der einzelnen umschweben, das sind in anderem Sinne für uns die großen geistigen Einheiten der Völker und der Menschheit, Persönlichkeiten, welche dauern und vergehen, aber nach andern Gesetzen als die einzelnen Menschen. Und daß ich dieses Gesetz zu verstehen suche, das ist ein Teil meiner Frömmigkeit. Du selbst wirst allmählich die bescheidene und erhebende Auffassung des Heiligen, in welcher ich lebe, kennenlernen. Auch du wirst allmählich erfahren, daß dein und mein Glaube im Grunde derselbe ist.«

»Nein,« rief Ilse, »ich sehe nur eines, eine tiefe Kluft, welche meine Gedanken von deinen scheidet. O nimm mir die Angst, welche mich jetzt um deine Seele peinigt.«

»Nicht ich kann das tun, und nicht ein Tag kann das tun, nur unser Leben selbst, tausend Eindrücke, tausend Tage, an denen du dich gewöhnst, die Welt so anzusehen wie ich.«

Er zog die Gattin, welche starr vor ihm stand, näher an sich und sagte leise: »Gedenke an den Spruch: Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Auch er, der so gesprochen, wußte, daß Mann und Weib eines sind durch das stärkste Gefühl der Erde, welches alles trägt und alles duldet.«

»Was kann ich dir sein, dem der einzelne so wenig und klein ist?« fragte Ilse tonlos.

»Das Höchste und Liebste auf Erden, die Blüte meines Volkes, ein Kind meines Geschlechts, in dem ich ehre und liebe, was vor uns war und was uns überleben wird,« rief der Professor.

Ilse stand allein unter den fremden Büchern, draußen schlug der Wind an die Mauern, er jagte die Wolken an dem Monde vorüber, bald wurde die Stube dunkel, bald füllte sie sich mit fahlem Scheine. Und in dem wechselnden Lichte der Dämmerung dehnten sich ihre Wände zu einem unabsehbaren Raum, aus den Büchern stiegen fremde Gestalten, sie hingen an den Wänden und schwebten von der Höhe, ein Heer von grauen Schatten, die bei Tage in die geradlinigen Gehäuse der Bücher gebannt waren, zogen gegen das Weib heran, und die Toten, die gespenstig fortlebten auf der Erde, streckten die Arme nach ihr und forderten ihre Seele für sich.

Ilse richtete sich hoch auf, sie hob die Hände nach oben und rief sich die hellen Bilder zu Hilfe, die von klein auf ihre Tage segnend umgeben hatten, weiße Gestalten mit leuchtendem Antlitz. Sie neigte das Haupt und bat: »Schützet mir den Frieden meiner Seele.«

Als Ilse in ihr Zimmer trat, lag ein Brief ihres Vaters auf dem Tisch, sie öffnete hastig und sank, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen, schluchzend darüber hin.

Der Vater zeigte der Tochter den Tod eines alten Freundes an. Der gute Herr Pfarrer war aus dem engen Tal hinausgetragen zu der Ruhestätte, die er sich auf dem Friedhof neben seiner Frau erwählt. Von der Aufregung, die ihm Ilses Scheiden verursacht, hatte er sich nicht wieder erholt, der Winter war in langem Siechtum vergangen, an einem warmen Frühlingsabend überraschte ihn im Garten vor seinem Pfirsichbaume das schnelle Ende. Dort fand ihn die treue Magd und lief mit der Schreckensbotschaft nach dem Schlosse. Er hatte wenige Stunden vorher Klara gebeten, seinem lieben Kinde in der Stadt zu schreiben, daß es ihm jetzt wohl gehe.

Ilse hatte oft im Winter um das Leben des Freundes gesorgt, und die Nachricht kam ihr nicht überraschend. Und doch fühlte sie gerade jetzt seinen Verlust als entsetzliches Unglück. Das war ein Leben, welches fest und treu an dem ihren hing, sie wußte wohl, in den letzten Jahren war sie der Mittelpunkt seiner Gedanken und fast ausschließlich der Inhalt seines Herzens gewesen. Sie hatte dies Leben, das ganz ihr gehörte, um eine stärkere Neigung verlassen, und ihr schien jetzt ein Unrecht, daß sie von ihm geschieden war. Sie sah den Stab zerbrochen, der sie festband an die Gefühle der Kindheit. Und ihr war, als wankte der Boden und als sei alles unsicher geworden, das Herz des Gatten, die eigene Zukunft.

So fand sie der Professor, über den Brief gebeugt, in Tränen aufgelöst, ihr Schmerz erschütterte auch ihm das Herz und er bat sie ängstlich, ihrer selbst zu gedenken. Lange redete er zärtlich in sie hinein. Endlich sah sie ihn wieder mit treuen Augen an und versprach ruhig zu sein.

Aber es gelang ihr nicht. – Nach wenigen Stunden mußte er sie zu ihrem Lager führen.

Es wurde eine gefährliche Krankheit. Ilse hatte Tage, wo sie in tödlicher Schwäche bewußtlos lag. Wenn sie einmal die müden Augen aufschlug, sah sie in das abgehärmte Antlitz ihres Gatten, und sie sah Lauras Lockenkopf zärtlich über ihr Lager geneigt, dann schwand wieder alles in dumpfer Betäubung.

Es war ein langes Ringen zwischen Leben und Vergehen, aber sie überwand. Der erste Eindruck, den sie empfand, als sie schmerzlos wie aus einem Schlummer erwachte, war das Rauschen eines schwarzen Kleides und die große Locke der Struvelius, welche ihren Kopf durch die geschlossenen Vorhänge gesteckt hatte und kummervoll aus den grauen Augen auf sie herabsah. Leise rief sie den Namen ihres Gatten, und im nächsten Augenblick kniete er selbst an ihrem Lager und bedeckte ihre Hand mit Küssen, und der starke Mann war so außer Fassung, daß sein Leib in krampfhaftem Weinen bebte. Sie legte ihm die Hand auf das Haupt, strich ihm das verworrene Haar zurück und sagte ihm leise: »Felix, Geliebter, ich will leben.«

Jetzt kam eine Zeit großer Schwäche und zögernder Genesung, noch manche Stunde kraftloser Schwermut, aber auch ein leises Lächeln flog zuweilen über ihre bleichen Lippen.

Draußen grünte der Frühling, nicht alle Knospen hatte der Nachtreif vernichtet, und die Stadtvögel zwitscherten vor ihren Fenstern. Mit Rührung sah Ilse, welch guter Krankenpfleger ihr Mann war, wie geschickt er ihr die Arznei reichte und die Tasse mit Brühe herzutrug, wie er kaum dulden wollte, daß einmal andere seine Stelle an ihrem Lager einnahmen, und wie er auch jetzt noch trotzig weigerte, sich in der Nacht einige Stunden Schlaf zu gönnen, aber als sie selbst bat, ganz widerstandslos und mit feuchten Augen nachgab. Von Laura erfuhr Ilse, daß dieser Mann sehr große Not gemacht habe, er war in der argen Zeit ganz verstört gewesen, finster und heftig gegen jedermann, er hatte bei Tag und Nacht an dem Lager gesessen, daß man gar nicht begriff, wie er selbst den Zustand ausgehalten hatte. »Der Arzt konnte ihn nicht zwingen,« sagte Laura, »ich aber fand das rechte Wort, denn ich drohte ihm ernsthaft, daß ich Ihnen seine Widersetzlichkeit klagen würde. Da überließ er mir endlich auf einzelne Stunden den Platz, und zuletzt auch der Struvelius, aber ungern, weil er behauptete, daß diese zu viel raschele.«

Laura selbst bewies jetzt prächtig ihre Liebe; sie war stets zur Stelle, schwebte geräuschlos wie ein Vogel um das Krankenbett, saß stundenlang unbeweglich, und wenn Ilse die Augen aufschlug und ein wenig bei Kräften war, hatte sie immer eine hübsche Geschichte bei der Hand. Wie sie erzählte, war die Struvelius gleich am zweiten Tage herzugekommen, hatte dem Professor eine kleine Rede gehalten, worin sie feierlich die Rechte einer Freundin in Anspruch nahm, und sich dann auf die andere Seite des Bettes gesetzt. Er aber hatte gar nichts von ihren Perioden gehört, war plötzlich aufgefahren und hatte sie gefragt, wer sie sei und was sie hier wolle. Da antwortete die Frau Professorin ihm ruhig, sie heiße Flaminia Struvelius und sie habe ebenfalls ein Recht, hier zu sein durch ihr Herz, und darauf hielt sie ihm die Rede noch einmal, bis er sich's endlich gefallen ließ. »Sogar ihr Mann war hier,« setzte Laura vorsichtig hinzu, »als es gerade am schlimmsten war, und der stieß auf den Gemahl, und ich sah, wie dieser ihm die Hand reichte, aber, unter uns, ich glaube, er kannte ihn gar nicht. – Und dann,« erzählte Laura, »kam auch der törichte Mensch, der Doktor, gleich am ersten Abend mit seiner Schlafdecke und einer Kaffeemaschine von Blech und erklärte, er werde hier wachen. Da er nicht in die Krankenstube gelassen werden konnte, setzte er sich mit seinem Blech in des Professors Stube und es war wie bei der Geschichte mit dem Jokel, den sein Herr ausschickt: der Professor pflegte Sie, und der Doktor pflegte den Professor.« Ilse zog Lauras Kopf zu sich nieder und sagte ihr ins Ohr: »Und Schwester Laura pflegte den Doktor.« Worauf Laura sie auf den Mund küßte, aber heftig mit dem Kopf schüttelte. »Wenigstens lästig war er nicht,« fuhr sie fort, »er verhielt sich still, und wir haben ihn als Zerberus gebraucht, der die Besuche und die vielen, welche anfrugen, abfertigte. Das hat er treulich getan. Wenn es möglich wäre, ihn zu sehen, so glaube ich, es würde ihm große Freude sein.«

Ilse nickte. »Laßt ihn herein.« Der Doktor kam, Ilse streckte ihm den Arm entgegen und empfand aus dem treuen Händedruck und dem bewegten Gesicht des Nachbars, daß auch der gelehrte Vertraute des Geliebten, auf dessen Beifall sie nicht immer rechnete, als ein wackerer Freund an ihrem Lager saß. Und Ilse erlebte, daß noch andere fremde Herren an ihr Bett drangen. »Wenn die Frau Kollega Audienz gibt, so bitte ich mich zu melden,« sprach eine fröhliche Stimme draußen.

»Herein, Herr Professor Raschke,« sprach Ilse von ihrem Lager.

»Da ist sie,« rief er lauter, als in einem Krankenzimmer üblich ist. »Zum frohen Licht entronnen dem schweren Verhängnis.«

»Was machen die Tierseelen, lieber Herr Professor?« fragte Ilse.

»Sie fressen im Stadtwald die Blätter ab,« versetzte Raschke, »es hat in diesem Jahre zahllose Maikäfer gegeben. – Siehe, da fliegt einer um die Arzneiflasche, ich fürchte, er hat mich als Omnibus benutzt, um zu Ihnen zu dringen. Die Bäume stehen wie Besen, und das Federvieh ist so gemästet, daß alle Vorurteile gegen den Genuß dieser Mitlebenden gänzlich beseitigt sind. Ich zähle die Tage bis zu dem frohen Augenblick, wo die Freundin mir erlauben wird, einen Beweis meiner Besserung abzulegen.«

Es war eine langsame Genesung, aber sie war reich an tröstender Empfindung. Denn das Schicksal gönnt dem Genesenden gern als Entschädigung für Gefahr und Schmerz, daß er seine Umgebung frei von dem Staub der Werktage schaut in reinen Umrissen und frischem Glanz. Diese milde Poesie des Krankenlagers fühlte jetzt Ilse, als sie dem ehrlichen Gabriel die Hand entgegenhielt, die der Bursch küßte, sein Schnupftuch in der Hand, während der Professor rühmte, wie sorglich er seinen Dienst getan. Sie fühlte dies Behagen, als sie an Lauras Arm in den Garten hinabstieg und Herr Hummel in seinem besten Rocke ehrbar auf sie zuschritt, das Haar glattgebürstet und die trotzigen Augen in milder Stimmung halb zusammengedrückt, und hinter ihm langsam sein Hund Speihahn, der den Kopf ebenfalls in widerwilliger Achtung senkte. Als Herr Hummel seine Huldigung dargebracht hatte, sagte er in seinem Mitgefühl sogar: »Wenn Sie sich einmal eine ruhige Bewegung antun wollen, so bitte ich, sich meines Kahns ganz nach Belieben zu bedienen.« Das war die höchste Gunst, die Herr Hummel erweisen konnte, denn er traute den Bewohnern des Landes, in welchem er lebte, keine von den Fähigkeiten zu, welche für das Wasser notwendig sind. Und er hatte allerdings recht, wenn er seine Reise auf einem Kahn ein ruhiges Vergnügen nannte, denn der Kahn blieb bei dem niedrigen Wasserstand dieses Jahres häufig auf dem Grunde sitzen, und die größte Aufregung welche er gestattete, war, daß man die Hände nach beiden Ufern ausstreckte und mit jeder ein Grasbüschel abriß.

Als Ilse wieder in ihrem Zimmer saß, geschah es oft, daß sich die Tür leise öffnete, der Gatte eintrat, ihr Stirn und Mund küßte und dann vergnügt unter seine Bücher zurückging. Wenn sie die zärtliche Sorge aus seinen Augen las und sein Glück, daß er sie wieder genesen und in seiner Nähe wußte, da zweifelte sie nicht mehr an seiner Liebe, und ihr war, als dürfe sie sich auch nicht mehr um das sorgen, was er über Leben und Untergang der einzelnen und der Völker dachte.


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