Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Viertes Kapitel

Neckereien

Das Jahr ließ sich nach jeder Richtung leichtfertig an. Die Schnepfen waren häuslich eingerichtet, bevor die Jäger ihre Wasserstiefel angelegt hatten, und die Märzbecher hatten wirklich im März geblüht. Der Mond lachte zwischen dem ersten und letzten Viertel jeden Abend mit schiefgezogenem Mund, an den Höfen begannen Prinzessinnen mit Professoren nach verlorenen Handschriften zu suchen und in den Städten zeigten die Bürger eine ungewöhnliche Neigung zu Maitrank und zu gewagten Unternehmungen. Auch ruhige Köpfe erfaßte der Taumel, Stroh und Papier wurden mächtig. Alle Welt trug nicht nur Hüte, auch Mützen von Stroh, alle Welt beteiligte sich an Papiergeschäften und neuen Aktien. Das Haus Hahn kam obenauf. Die Bestellungen der kleinen Kaufleute liefen so massenhaft ein, daß sie gar nicht mehr ausgeführt werden konnten, in allen Winkeln des Hauses saßen Mädchen und nähten Strohbänder zusammen, der Schwefelgeruch wurde auf der Straße und in den Nachbargärten unerträglich. Herr Hummel saß des Abends auf seinem umgestürzten Kahn, wie Napoleon auf Helena als ein überwundener Standpunkt und aufgegebener Mann. Mit zorniger Verachtung schaute er auf den Taumel der Menschheit. Wiederholt forderten ihn seine Bekannten auf, die große Bewegung auf sich wirken zu lassen, Mitglied zu werden von irgendeiner Gesellschaft, eine Bank zu gründen, Kohlen zu graben, Eisen zu schmelzen. Er wies alle diese Zumutungen kurz von sich ab. Wenn er in seine tatlosen Werkstätten ging, welche sich fast nur durch den Kampf gegen Motten erhielten, und sein Buchhalter eine Vermutung über die nächsten Pariser Hutformen wagte, so lachte er wild und entgegnete: »Ich verbitte mir jede Mutmaßung über die Deckel, welche die Leute brauchen werden, wenn dieser Schwindel aufhört. Wollen Sie aber durchaus die nächste Mode wissen, so will ich sie Ihnen andeuten. Pechkappen werden die Leute tragen. Ich wundere mich, daß Sie noch an Ihrem Pulte sitzen. Warum machen Sie es nicht wie andere Ihrer Kollegen, welche jetzt überall in den Weinhäusern liegen?«

»Herr Hummel, das erlauben mir meine Mittel nicht,« versetzte der gedrückte Mann.

»Ihre Mittel?« rief Hummel, »wer fragt jetzt danach? Schwefelhölzer sind so gut wie bar Geld, die Eckensteher machen Wechselgeschäfte und schenken einander ihre Brustbilder. Warum leben Sie nicht wie der Buchhalter Knips von drüben? Als ich meiner Frau beim Italiener eine Apfelsine kaufte, sah ich ihn in der Hinterstube sitzen mit einer Flasche Champagner in Eis. Warum setzen Sie sich nicht auch ins Eis in dieser hitzigen Zeit? Es ist alles ein greulicher Schwindel geworden, ein Sodom und Gomorrha, das Strohfeuer brennt, aber es wird ein Ende mit Schrecken nehmen.«

Herr Hummel schloß sein Kontor und schritt im Zwielicht nach dem Stadtpark, wo er wie ein Geist an der Grenze seines Grundstücks auf und ab wandelte. Aus seinen Betrachtungen wurde er durch ein wildes Gekläff des roten Hundes geweckt, welcher an eine umschattete Bank des Parks stürzte und wütend in die Stiefel und Beinkleider eines Mannes biß. Herr Hummel trat näher, ein Männlein und ein Fräulein flogen auseinander. Hummel war Weltmann genug, sich nichts merken zu lassen, aber er zog sich eilig in seinen Garten zurück und setzte dort seine Wanderung im Sturmschritt fort. »Ich hab's gewußt, ich hab's gesagt, ich habe gewarnt. Der arme Teufel.« Dabei trat er zornig auf den eigenen Buchsbaum und vergaß die Stunde des Abendessens, so daß seine Frau zweimal in den Garten rufen mußte. Auch als er bei Tische saß, finster und mit einem Wetter geladen, äußerte er eine so tiefe Menschenverachtung, daß die Frauen bald verstummten. Laura machte noch einen Versuch, das Gespräch auf die Frau Bürgermeisterin zu bringen, welcher Hummel große Verehrung bewies, sooft sie vorbeiging, aber er brach in die entsetzlichen Worte aus: »Sie ist auch nichts Besseres als ein Weib.«

»Jetzt ist's genug, Hummel,« rief seine Frau, »dieses Benehmen ist sehr unerfreulich, und ich muß dich ersuchen, deine üble Laune nicht so weit zu treiben, daß sie dich des Urteils über weiblichen Wert beraubt. Ich kann vieles verzeihen, aber niemals einen Frevel am Adel menschlicher Natur.«

»Bleib mir vom Leibe mit deinem menschlichen Adel,« versetzte Hummel, stand vom Tisch auf, rückte heftig den Stuhl an seinen Platz und stürmte in die Nebenstube, wo er im Halbdunkel wieder zornig auf und ab schritt; denn Gabriel lag ihm sehr im Sinn. Allerdings war die gesellschaftliche Stellung dieses Mannes keine hervorragende, er war nicht Verwandter, nicht Hausbesitzer, nicht einmal Bürger. Deshalb erwog Herr Hummel, daß eine Einmischung in die geheimen Gefühle desselben ihm selbst schwerlich anstehe. Aber zu dieser Erkenntnis drang er nicht ohne Kämpfe durch. Und er vermochte die Stimme, welche in einem Winkel seines Herzens zugunsten Gabriels brummte, durchaus nicht zum Schweigen zu bringen.

Unterdes saßen die Frauen an dem verstörten Tisch. Laura sah finster vor sich nieder, ihr waren solche Auftritte nicht neu und sie wurden ihr immer schmerzlicher. Die Mutter aber war über den unverhohlenen Zorn gegen die Frauenwelt sehr bestürzt und versank unter den Wogen sturmbewegter Gedanken. Sie kam endlich zu der Überzeugung, daß Hummel eifersüchtig sei. Das war sehr lächerlich, und es gab durchaus keine erträgliche Veranlassung zu solcher Leidenschaft. Aber die Einfälle der Männer waren von je unberechenbar. Der Mime war den Tag vorher auf ihren Wunsch erschienen, er war sehr unterhaltend gewesen, Braten und Wein hatten ihm vortrefflich geschmeckt und er hatte ihr beim Abschiede mit kühnem dramatischen Blick die Hand geküßt. War es möglich, daß dieser Blick das Unheil angerichtet hatte? Jetzt ging auch Frau Hummel auf und ab, sah im Vorbeigehen nach dem Spiegel und beschloß als tapfere Hausfrau ihrem Mann noch heut abend seine Torheit vorzuhalten. »Geh hinauf, Laura,« sagte sie leise zu ihrer Tochter, »ich habe mit deinem Vater allein zu sprechen.«

Laura nahm schweigend den Leuchter und trug ihn auf ihren Geheimtisch, sie stellte sich an das Fenster und sah nach dem Nachbarhause hinüber, wo die Lampe des Doktors durch die Vorhänge schimmerte. Sie rang die Hände und rief: »Fort, fort von hier, das ist die einzige Rettung für mich und ihn.«

Unterdes hatte Frau Hummel das Nachtmahl abräumen lassen, sie sammelte noch einmal Mut zu der bevorstehenden schweren Stunde und trat endlich an die Tür des Nebenzimmers, in welchem Herr Hummel noch immer umhertobte. »Heinrich,« begann sie feierlich, »bist du jetzt imstande, den Fall, welcher dir alle Haltung geraubt hat, ruhig zu betrachten?«

»Nein,« rief Hummel und warf einen Stiefel an die Tür.

»Ich kenne die Veranlassung deines Zorns,« fuhr Frau Hummel fort und blickte verschämt vor sich nieder. »Darüber bedarf es keiner Erklärung. Es ist möglich, daß er sich zuweilen mit Blicken und kleinen Bemerkungen mehr herauswagt als nötig wäre, aber er ist doch ein talentvoller und liebenswürdiger Mann und man muß seinem Beruf etwas zugute halten.«

»Er ist ein elender Laffe,« rief Herr Hummel und schleuderte den zweiten Stiefel von sich.

»Das ist nicht wahr,« rief Frau Hummel eifrig. »Aber wenn es wäre, Heinrich, selbst wenn du ihm jede Unwürdigkeit zutrauen könntest, vergiß nicht, daß in dem Herzen des Weibes Stolz und Pflichtgefühl wohnen, und daß dein Verdacht eine Beleidigung gegen diese schützenden Genien wird.«

»Sie ist eine gefallsüchtige, einfältige Gans,« rief Hummel und riß seine Schlafschuhe unter dem Bett hervor.

Frau Hummel fuhr entsetzt zurück. »Diese Behandlung hat dein Weib nicht verdient. Du trittst mit Füßen, was dir heilig sein sollte. Komm zu dir, ich beschwöre dich, deine Eifersucht bringt dich dem Wahnsinn nahe.«

»Ich eifersüchtig auf solche Person?« rief Hummel verächtlich und klopfte heftig die Asche seiner Pfeife aus. »Dann müßte ich in der Tat verrückt sein. Laß mich mit all dem Unsinn in Ruhe.«

Frau Hummel ergriff ihr Taschentuch und begann zu schluchzen. »Er war mir manchmal eine Erheiterung, er erzählte Geschichten, wie ich sie in meinem Leben nie wieder hören werde, aber wenn er dich so aufregt, daß alle Vernunft deiner Seele schwindet und du deine Frau durch die unwürdigsten Vogelnamen beschimpfst – ich habe manches Opfer gebracht in unserer Ehe, auch er soll noch am Altar des häuslichen Friedens fallen. Nimm ihn hin, er soll nie wieder eingeladen werden.«

»Wer ist Er?« fragte Hummel.

»Wer sonst als unser Komiker?«

»Wer ist sie?«

Frau Hummel sah ihn mit einem Blick an, der unzweifelhaft machte, daß sie selbst die Dame war.

»Ist es möglich?« rief Hummel erstaunt. »So schwimmen wir Äpfel? Warum willst du deinen Theaterhanswurst am häuslichen Altar schlachten? Setze ihm lieber etwas Geschlachtetes vor, das wird für alle Teile bequemer sein. Sei ruhig, Philippine. Du bist manchmal undeutlich in deinen Reden und du machst zuviel Geklatsch, du hast deine Theatergespinste im Kopfe und du hast deine Launen und verwirrten Einfälle, aber im übrigen bist du meine brave Frau, auf die ich nichts kommen lasse, weder vor andern noch in meinen Gedanken. Und jetzt fahre mir nicht mehr vor dem Lichte herum, denn ich habe mich entschlossen, und ich will ihm einen Brief schreiben.«

Während Frau Hummel sich betäubt auf das Sofa setzte und überlegte, ob sie durch das Lob ihres Gatten gekränkt oder beruhigt sein dürfe und ob sie sich selbst närrisch getäuscht, oder ob Heinrichs Wahnsinn nur die neue furchtbare Form der Bonhomie angenommen habe, schrieb Herr Hummel wie folgt:

»Mein guter Gabriel, gestern, den 17. hujus, abends 7¾ Uhr, sah ich auf der Bank Numero 4 der Waldwiese die Dorothee von drüben und Knips junior zusammensitzen. Da Speihahn attackierte, flohen sie auseinander. Dies zur Warnung und weitern Beschlußfassung. Ich bin bereit, nach Ihrer Order zu verfahren. Stroh, Gabriel! Ihr affektionierter H. Hummel.«

Zu gleicher Zeit mit diesem Schreiben flog ein Brief Lauras an Ilse in den Pavillon. Recht kummervoll schrieb die treue Seele. Die kleinen Händel des Hauses und der Nachbarschaft kränkten sie mehr als nötig war, von dem Doktor sah sie wenig, und was ihr den bittersten Schmerz machte, sie hatte das letzte Lied ausgegeben, sie wußte dem Doktor nichts mehr zu senden und wollte den Briefwechsel ohne Beilage fortsetzen. Verwundert las Ilse einen Satz, dessen Sinn ihr nicht recht verständlich war. »Ich habe mir bei Fräulein Jeannette Erlaubnis ausgewirkt, einzelne Lehrstunden in ihrer Anstalt zu geben, ich will nicht länger ein unnützer Brotesser sein. Seit ich Dich aus meiner Nähe verloren, ist es um mich kalt und öde, mein einziger Trost bleibt, daß ich wenigstens vorbereitet bin, auch in die Fremde zu fliegen und dort die Körnchen einzusammeln, welche ich zur Fristung meines Lebens brauche.«

»Wo ist mein Mann?« fragte Ilse ihr Mädchen.

»Der Herr Professor ist zu Ihrer Hoheit der Frau Prinzessin gegangen.«

»Rufen Sie Gabriel.«

»Er hat eine traurige Nachricht erhalten, er sitzt auf seiner Stube.«

Gleich darauf trat der Diener mit verstörtem Wesen ein. »Was ist geschehen, Gabriel?« fragte Ilse erschrocken.

»Es ist nur in meinen eigenen Sachen,« versetzte Gabriel mit bebender Stimme, »es ist keine gute Nachricht, welche mir dies Papier zugetragen hat.« Er griff in den Rock und holte Hummels zerknitterten Brief hervor, wandte sich ab und legte den Kopf auf das Holz des Fensters.

»Armer Gabriel!« rief Ilse. »Aber noch ist eine Erklärung möglich, welche das Mädchen rechtfertigt.«

»Ich danke Ihnen für den guten Glauben, Frau Professor,« sagte Gabriel feierlich, »aber dieser Brief meldet mein Unglück. Der ihn geschrieben hat, ist zuverlässig wie Gold. Ich wußte alles, bevor ich ihn erhielt. Sie hat mir auf mein letztes Schreiben nicht geantwortet, sie hat mir die Brieftasche nicht geschickt, und gestern gegen Abend, als ich draußen umherging und gerade an sie dachte, flog neben mir eine Lerche in die Höhe und sang mir ein Lied, das mir Gewißheit gab.«

»Das ist Torheit, Gabriel, Sie dürfen nicht dadurch Ihr Urteil bestimmen lassen, weil Ihnen zufällig bei einem Vogel trübe Gedanken kommen.«

»Es war deutlich, Frau Professorin,« erwiderte Gabriel traurig. »Gerade als die Lerche aufflog und ich an die Dorothee dachte, fielen mir Worte ein, die ich als Kind gehört hatte und seit der Zeit nicht wieder. Es ist kein Aberglaube dabei und ich kann Ihnen den Spruch erzählen: Lerche, liebe Lerche, hoch über dem Rauch, was hast du mir Neues zu sagen? Dieser Gedanke kam mir, und darauf vernahm ich so deutlich, als wenn mir jemand die Antwort ins Ohr spräche: Zwei Verliebte seh' ich am Haselstrauch, den dritten hör' ich klagen, zwei treten über den Stein in das geweihte Haus, der dritte sitzt allein und wischt sich die Augen aus.« Gabriel fuhr nach seinem Taschentuch. »Das war eine sichere Vorbedeutung, die Dorothee verleugnet mich.«

»Gabriel, ich fürchte, sie war immer ein Flattergeist,« rief Ilse.

»Sie hat selbst ein Herz wie ein Vogel,« entschuldigte Gabriel, »sie ist keine ernste Person und hat die Art, alle freundlich anzulachen. Das wußte ich. Aber daß sie fröhlich und sorglos war und angenehm scherzte, hat sie mir lieb gemacht. Es war ein Unglück für mich und sie, daß ich von ihr weggehen mußte, gerade da sie ihr Gemüt auf mich richtete und die andern abhielt, welche hübsch gegen sie taten. Denn ich weiß, der Buchhalter hatte schon lange ein Auge auf sie, er hatte ihr Aussicht gemacht, sie zu heiraten, und das war eine bessere Versorgung, als ich ihr geben konnte.«

»Hier muß etwas geschehen,« rief Ilse. »Wollen Sie nach der Stadt zurück und selbst zum Rechten sehen? Mein Mann wird Ihnen sogleich die Erlaubnis geben. Vielleicht ist es doch nicht so schlimm.«

»Für mich ist es so schlimm, als es sein kann, Frau Professorin. Wollen Sie die Güte haben und für die Dorothee sorgen, daß sie nicht unglücklich wird, so danke ich Ihnen von Herzen. Ich will sie nie wieder sehen. Ja, Frau Professorin, hat man jemanden lieb, soll man ihn nicht alleinlassen, wenn er in Versuchung ist.«

Ilse versuchte zu trösten, aber sie fühlte die Worte Gabriels tief in ihrem Herzen. »Der dritte sitzt allein,« klagte es in ihr fort.

Sie stand wieder allein im Saal und sah scheu auf die fremden Wände. Aller Schmerz, der je in diesem Raume eine Menschenseele bewegt hatte, Eifersucht und verletzter Stolz, fieberhafte Erwartung und hoffnungsloses Sehnen, Trauer um zerstörtes Glück und Grauen vor der Zukunft, Schrei der Angst und Stöhnen eines gequälten Gewissens, herbe Mißtöne aus ferner Vergangenheit, längst verhallt, zerflossen, verweht, sie sandten heut einen undeutlichen zitternden Nachklang in das arglose Herz des Weibes. »Es ist unheimlich hier, und wenn ich in Worte fassen soll, was mich ängstigt, so versagen sie. Ich bin keine Gefangene, und doch umgibt mich die Luft eines Kerkers. Der Kammerherr ließ sich seit Tagen nicht sehen, und der Prinz, der sonst zu mir sprach wie zu einer Freundin, kommt selten, nur auf Minuten, und dann ist es schlimmer, als ob er nicht da wäre. Er ist gedrückt wie ich und sieht mich an, als fühlte er dieselbe namenlose Angst. Und sein Vater? Wenn er vor mich tritt, ist er ein freundlicher Herr, dem man gut sein könnte, und sobald er mir den Rücken wendet, verzerren sich vor meiner Seele die Züge seines Antlitzes. Es tut nicht wohl, den Großen der Erde nahe zu sein, sie neigen sich einem zu, öffnen ihre Seele wie gute Freunde, und kaum fühlt man die Erhebung, daß das Höchste einem so großes Anrecht gewährt, dann ziehen sich die neckenden Geister plötzlich wieder in ihr unsichtbares Reich zurück, und man kümmert sich, denkt an sie und regt sich auf. Solch Leben nimmt den Frieden.

»Felix sagt, man soll nicht sorgen um diese Sorglosen. Wie kann man Anteil und Sorge meiden, wenn ihrer Seele Wohlfahrt ein Segen für alle ist?

»Ist es nur darum, Ilse,« fragte sie, »daß die Gedanken ruhelos fliegen? Oder ist es Stolz, bald verletzt und bald wieder geschmeichelt, ist es Angst um Geliebtes, das sie mir in der Stille entreißen wollen?

»Weshalb bangt mir um dich, mein Felix? Warum zage ich, weil er hier ein Weib gefunden hat, das seinem Geiste ebenbürtig ist? Bin ich es nicht auch? An seinem Licht bin ich heraufgewachsen, ich bin nicht mehr die unwissende Landfrau, die er sich einst von den Herden geholt hat. Fehlt mir auch der lockende Reiz der vornehmen Dame, was kann sie ihm mehr geben als ich? Er ist kein Knabe und er weiß, daß ich jede Stunde nur für ihn lebe. Ich verachte euch, ihr kläglichen Bilder, wie habt ihr Zugang zu meiner Seele gefunden? Ich bin keine Gefangene dieser Wände, und wenn ich hier weile, wo ihr Macht habt über die Menschen, ich bleibe um seinetwillen. Man soll nicht verlassen, den man liebt, das Wort ist auch für mich gesprochen. Aber meines Vaters Kind steht nicht kläglich in der Kammer und wischt sich die Augen, wenn der Geliebte auch einmal mit einer Prinzessin unter dem Haselstrauch sitzt.«

Gabriel schlich in einem abgelegenen Teil der Anlagen dahin, da fühlte er einen Schlag auf der Schulter, Prinz Viktor stand hinter ihm. »Freund Gabriel?« »Zu Befehl, Hoheit.« »Wo gedient?« »Blaue Husaren.« »Gut,« nickte der Prinz, »wir sind von derselben Waffe. Ich höre, Sie sind ein zuverlässiger Bursch. Wo fehlt's Ihnen?« Er zog seine Börse heraus. »Wir teilen, nehmen Sie, was Sie brauchen.«

Gabriel schüttelte den Kopf.

»Dann sind die Weiber schuld,« rief der Prinz, »das ist schlimmer. Ist sie stolz?« Gabriel verneinte. »Ist sie ungetreu?« Der arme Bursch wandte sich ab. »Bei den Eltern bin ich leider ein schlechter Fürsprecher,« sagte der Prinz teilnehmend, »das Geschlecht der Väter gönnt mir wenig Zutrauen. Wenn's aber gilt, einem Mädchen ins Gewissen zu reden, dann rufen Sie mich.«

»Ich danke für den guten Willen, Hoheit, mir ist nicht zu helfen. Das muß hinuntergearbeitet werden.« Er wandte sich wieder ab.

»Pfui, Kamerad, haben Sie den Soldatenspruch vergessen: Alle gern haben, eine lieben, sich um keine grämen? Wird ja einmal das Herz schwer, so muß man nicht allein umherlaufen, wie Sie tun. In Ermangelung eines andern Gefährten nehmen Sie vorläufig mit mir vorlieb.«

»Das ist zuviel Ehre,« sagte der arme Gabriel, nach der Mütze greifend.

Der Prinz hatte ihn während dieser Reden von dem offenen Wege abgeführt in ein dichtes Gebüsch, er setzte sich jetzt auf die Wurzel eines alten Baumes und wies mit einer Handbewegung Gabriel an den nächsten Stamm.

»Hier liegen wir im Versteck, Sie sehen dort hinaus, ich hier auf den Weg, daß uns niemand überrascht. Wie sind Sie mit Ihrem Quartier zufrieden? Haben Sie gute Bekannte gefunden?«

»Ich meine, es ist klug, hier niemandem zu trauen,« antwortete Gabriel vorsichtig.

»Nun,« versetzte der Prinz, »ich bin nicht von hier, ich habe nichts dagegen, wenn Sie mit mir eine Ausnahme machen. Nehmen Sie an, wir säßen im Felde, an demselben Feuer und tränken aus einer Feldflasche. Sie haben recht, es ist hier nicht alles so sicher, wie es aussieht. Das nächtliche Spuken im Schlosse gefällt mir auch nicht. Sie haben davon gehört?« Gabriel bestätigte lebhaft. »In solchem alten Schloß,« fuhr der Prinz behaglich fort, »sind manche Türen, die wenige kennen, vielleicht auch Gänge in der Wand. Ob's Geister sind oder etwas anderes, wer weiß es. Das schleicht daher und kommt auf einmal hervor, wo man nicht dran denkt, und wenn man gerade sein Nachthemd angezogen hat, öffnet sich eine geheime Tür oder eine Diele des Fußbodens steigt in die Höhe und eine verdammte Erscheinung schwebt herauf, räumt ab, was auf den Tischen ist, und ehe man sich besinnt, ist's wieder verschwunden.«

»Wer's leidet, Hoheit,« erwiderte Gabriel tapfer.

»Ja, wer sich zur Wehr setzen könnte,« lachte der Prinz, »es streckt die Hand aus, und man ist unbeweglich, es hält dem Schlafenden einen Schwamm vor die Nase, und er erwacht nicht.«

Gabriel horchte hoch auf.

»Die Leute erzählen, auch in Ihrem Pavillon soll's nicht geheuer sein,« fuhr der Prinz fort. »Es wäre doch gut, wenn ein sicherer Mann einmal in der Stille alles durchsuchte. Findet man einen Zugang, der nicht in Ordnung ist, so sperrt man ihn mit einer Schraube oder mit einem Riegel zu. Es ist freilich unsicher, ob man etwas findet. Denn dergleichen Teufelswerk ist schlau angebracht.«

Er winkte bedeutsam zu Gabriel, der gespannt auf ihn starrte.

»Das ist nur ein Gedanke von mir,« sagte der Prinz, »wenn aber ein Soldat in fremdem Quartier liegt, so sieht er sich nach einer Sicherheit um für die Zeit, wo seine Leute schlafen.«

»Ich verstehe alles,« versetzte Gabriel leise.

»Man muß andern nicht unnötige Angst machen,« fuhr der Prinz fort. »Aber in der Stille tut man seine Pflicht als braver Junge. Ich sehe, das sind Sie.« Der Prinz erhob sich von seiner Baumwurzel. »Können Sie mich einmal brauchen oder hätten Sie mir etwas zu sagen, was niemand sonst zu wissen braucht, ich habe einen Burschen, den mit dem großen Schnauzbart, einen guten stillen Menschen, machen Sie seine Bekanntschaft. Im übrigen pflegen Sie sich hier. Da lungert ja bei Ihnen noch ein Lakai herum, ist ein Gang zu tun, so kann der ihn abmachen. Es ist gut für eine Herrschaft, wenn in fremdem Hause immer ein zuverlässiger Mann zur Hand ist. Guten Tag, Kamerad. Hoffe, ich habe Sie auf andere Gedanken gebracht.«

Er entfernte sich, Gabriel blieb in tiefem Nachdenken zurück. Die Neckerei des Prinzen hatte den treuen Mann aus seinem Schmerz aufgerüttelt, er wirtschaftete jetzt den ganzen Tag geschäftig im Hause, nur des Abends, wenn seine Herrschaft im Theater war, sah man ihn zuweilen neben dem Diener des Prinzen in geräuschloser Unterhaltung auf einer einsamen Gartenbank.

An die Wände des Pavillons heftete der Geist trüber Ahnung seine grauen Schleier, im Fürstenschloß aber wirtschaftete unterdes ein unsichtbarer Kobold anderer Art, Große und Kleine verstörend.

Der Stall war in Bestürzung. Das liebste Reitpferd des Fürsten war ein weißer Ivenacker. Als der Reitknecht am Morgen zu dem Pferde trat, fand er ihm auf die Brust ein großes schwarzes Herz gemalt. Die schändende Farbe ließ sich nicht abwaschen, wahrscheinlich hatte der Bösewicht eine Tinktur, welche für das Haupthaar der Menschen ersonnen war, zu diesem Frevel angewendet. Die Sachverständigen erklärten, nur die Zeit könne den Schaden heilen. Es war unvermeidlich, dem Fürsten Anzeige zu machen, der Herr geriet in heftigen Zorn, strengste Untersuchung wurde angestellt. Die Nachtwache des Stalles hatte niemand gesehen, kein fremder Fuß hatte den Raum betreten, nur der Reitknecht des Prinzen, ein schnauzbärtiger Kunde aus fremdem Volk, hatte zugleich mit der übrigen Stallbedienung ein Pferd seines Prinzen besorgt, welches dieser vor kurzem von einem Verwandten zum Geschenk erhalten. Der Mann wurde verhört, er sprach wenig Deutsch, war nach der Aussage des übrigen Personals harmlos und einfältig, es war durchaus nichts auf ihn zu bringen. Zuletzt wurde der Stallknecht, welcher die Wache gehabt, aus dem Dienst gejagt. Er verschwand aus der Hauptstadt und wäre sehr ins Elend gekommen, wenn nicht Prinz Viktor den armen Teufel in seiner Garnison untergebracht hätte.

Das Ballett geriet in Aufruhr. In dem neuen Ballo tragico »Der Nix« hatte die Prima ballerina Giuseppa Scarletti eine glänzende Rolle, in der sie grünseidene Höschen mit reichem Silberbesatz tragen sollte. Als sie vor der ersten Aufführung dies Gewandstück, welches für die Rolle bedeutsam war, anlegen wollte, war die Helferin so ungeschickt, ihr dasselbe verkehrt, die Rückseite nach vorn, zu reichen. Die Dame sprach kräftig ihre Ungeduld aus, die Garderobiere drehte das Stück um, wieder war die Rückseite vorn. Das Kunstwerk wurde näherer Betrachtung unterworfen, man fand mit Entsetzen, daß es wie eine geschlossene Muschel aus zwei Hohlseiten zusammengesetzt war. Die Scarletti geriet in Wut, dann in Tränen und nervöse Zufälle, der Regisseur, der Intendant wurden gerufen, die Künstlerin erklärte, nach dieser Schmach und Aufregung nicht tanzen zu können. Erst als Prinz Viktor, den sie hochschätzte, selbst in das Ankleidezimmer kam, ihr seine tiefe Entrüstung auszusprechen, und erst als der Fürst ihr sagen ließ, daß die Kränkung aufs strengste bestraft werden solle, gewann sie den Mut zurück, welchen die schwierige Rolle nötig machte. Unterdes hatte auch die elfenhafte Schnelligkeit des Theaterschneiders den Schaden ihres Kleides gebessert. Sie tanzte entzückend, aber mit einem schmerzlichen Ausdruck, der ihr sehr gut stand. Schon war der Intendant froh, daß das Unglück so vorübergegangen war, schon wurde in der letzten Dekoration die ganze Tiefe der Bühne erschlossen, da zeigten sich plötzlich in der Nixengrotte unter bengalischem Feuer die ausgetauschten Beinkleider, sie hingen friedlich an zwei Zacken eines silbernen Felsens, als wären sie von einem Wassergeist zum Trocknen aufgehängt. Daraus unruhige Bewegung, lautes Gelächter im Publikum, der Vorhang mußte fallen, bevor das bengalische Feuer niedergebrannt war. Alles schnob Rache, aber der Missetäter war wieder nicht zu ermitteln.

Der Dienerschaft sträubte sich das Haar. Man wußte, daß in schweren Zeiten des fürstlichen Hauses eine schwarze Dame durch Gänge und Säle schritt und daß diese Erscheinung der hohen Familie ein Unglück bedeute. Der Glaube war allgemein, selbst der Hofmarschall teilte ihn, seinem eigenen Großvater war die schwarze Frau erschienen, als dieser einst in einsamer Nacht auf die Rückkehr seines gnädigsten Herrn wartete. An einem Abend hatte sich der Hof entfernt, und der Hofmarschall schritt, den Lakaien mit der Leuchte vor sich, durch die leeren Säle, dem Flügel zu, in welchem der Prinz Viktor als Gast wohnte, um nach Verabredung bei diesem eine stille Zigarre zu rauchen. Plötzlich fuhr der Lakai zurück und wies zitternd in eine Ecke. Dort stand die schwarze Gestalt, das Haupt mit dem Schleier verhüllt, sie erhob drohend die Hand und verschwand durch eine Tapetentür. Dem Lakaien fiel die Leuchte aus der Hand, der Hofmarschall tappte im Finstern bis zum Vorzimmer des Prinzen und sank dort auf das Sofa. Als der Prinz aus seinem Ankleidezimmer eintrat, fand er den Herrn in einem Zustand der höchsten Aufregung, selbst ein Glas Punschessenz, welches er ihm eigenhändig eingoß, vermochte den Gebeugten nicht aufzurichten. Die Kunde, daß die schwarze Dame erschienen sei, flog durch alle Räume des Schlosses, die bange Erwartung eines Unheils beschäftigte den Hofstaat und die Dienerschaft. Die Lakaien liefen des Abends im Schnellschritt durch die Korridore und erschraken vor dem Widerhall ihrer eigenen Tritte, die Hofdamen wollten ihre Zimmer gar nicht mehr ohne Begleitung verlassen. Auch der Fürst erfuhr davon, er zog die Augen finster zusammen und sah bei der Tafel verächtlich nach dem Hofmarschall hinüber.

Sogar die Hofdamen blieben nicht verschont. Fräulein von Lossau, welche in dem Damenschloß, einem Flügel des Palastes, über den Gemächern der Prinzessin wohnte, kam zur Nacht in der glücklichsten Stimmung nach ihren Zimmern. Prinz Viktor hatte sie auffallend ausgezeichnet, er war sehr drollig gewesen und hatte ihr dabei einigemal Gefühl gezeigt, das bei ihm selten durchbrach. Sie ließ sich von ihrem Mädchen entkleiden und legte sich unter anmutigen Gedanken auf ihrem Lager zurecht, alles wurde still, sie sank in den ersten Schlummer, das Bild des Prinzen gaukelte im Kontertanz vor ihr. Da, horch, ein leises Geräusch, es knisterte, etwas strich langsam unter ihrem Bett dahin. Sie fuhr in die Höhe, der unheimliche Ton hörte auf; schon war sie im Begriff, sich selbst zu belügen, daß alles nur eine Einbildung des Schlafes sei, da knisterte und fuhr es wieder unter dem Bett, es stieß an ihre Schlafschuhe, es kam rasselnd hervor, sie hörte ein furchtbares Stöhnen und sah beim matten Schein der Nachtlampe, daß sich eine Kugel langsam hinter dem Stuhle heranschob und vor dem Bette haltmachte. Halb bewußtlos vor Entsetzen fuhr sie aus dem Bett, berührte mit dem nackten Fuß einen fremden Gegenstand, fühlte an der Stelle einen scharfen Schmerz und sank mit einem Schrei zurück. Jetzt erhob sie im Bett gellende Hilferufe, bis ihr Mädchen herbeistürzte und zitternd das Licht anzündete; das Fräulein wies immer noch schreiend in eine Ecke, wo die stachelige Gespensterkugel jetzt in ruhiger Furchtbarkeit verweilte und sich allmählich als ein großer Igel darstellte, der noch träumerisch von seinem Winterschlaf mit einer Träne an der Nase dasaß. Das Fräulein wurde vor Schrecken krank. Als der Arzt am frühen Morgen zu ihr eilte, fand er Lakaien und Kammermädchen in geschlossenem Haufen vor ihrer Tür versammelt. An der Tür war ein weißes Schild von Pappe befestigt, darauf mit großen Buchstaben zu lesen: Bettina von Lossau, fürstliche Hofspionin. Wieder wurde strengste Untersuchung befohlen und wieder wurde der Missetäter nicht ermittelt.

Aber der neckende Geist, welcher sich unter dem Schieferdache des Schlosses einquartiert hatte, trieb nicht nur mit Hof und Dienerschaft seine Possen, er wagte auch den Professor in gelehrter Arbeit zu stören.

Ilse saß allein und betrachtete zerstreut die Bilder zu Reineke Fuchs, als der Lakai die Tür aufriß: »Des Fürsten Hoheit.«

Der Fürst sah über das aufgeschlagene Bild des Buches: »Das ist also die Laune, mit welcher Sie unsere Zustände betrachten. Die Satire der Blätter ist bitter, aber sie enthalten eine unvergängliche Wahrheit.«

Ilse schloß errötend das Buch. »Die unartigen Tiere sind rohe Egoisten, das ist bei Menschen doch anders.«

»Meinen Sie?« fragte der Fürst. »Wer darüber Erfahrungen gemacht hat, wird nicht so wohlwollend urteilen. Die zweibeinigen Tiere, welche ihre Zwecke in der Nähe des Herrschers verfolgen, sind in der Mehrzahl ebenso rücksichtslos in ihrer Selbstsucht und ebenso geneigt, ihre Anhänglichkeit zu beteuern. Es ist nicht leicht, ihre Ansprüche zu bändigen.«

»Neben einzelnen Argen bilden doch Bessere die Mehrzahl, bei denen das Tüchtige überwiegt,« wandte Ilse mit bittender Stimme ein.

Der Fürst neigte artig das Haupt. »Wer alle übersehen soll, muß die Beschränktheit jedes einzelnen lebhaft empfinden, denn er muß wissen, wo und wieweit er ihm vertrauen darf. Solche Beobachtung fremder Natur, welche stets bemüht ist, das Wesen von dem Schein zu trennen, die Brauchbarkeit zu prüfen und dem Beobachter ein überlegenes Urteil zu bewahren, schärft den Blick für die Mängel anderer. Es ist möglich, daß wir bisweilen in der Stille streng urteilen, während Sie, eine Frau mit warmem Gemüt, in die liebenswerte Schwäche verfallen und das Menschenvolk allzu günstig betrachten.«

»Dann ist mein Los doch glücklicher,« rief Ilse und sah den Fürsten mit ehrlichem Kummer an.

»Es ist schöner und beglückender,« sagte dieser mit Empfindung, »sich ohne Zwang seinem Gefühl hinzugeben, arglos mit den wenigen zu verkehren, welche man sich frei erwählt, Unholdes durch eine leichte Wendung zu vermeiden, den Geliebten ein fröhliches Herz zwanglos zu öffnen. Wer aber in der kalten Luft der Geschäfte zu leben verurteilt ist, im Kampf gegen zahllose Ansprüche, welche einander feindlich kreuzen, der vermag dieses Dasein nur zu ertragen, wenn er sein Tagesleben mit einer Ordnung umgibt, welche ihm wenigstens eine gehäufte Last des Unwillkommenen fernhält und die Füchse und Wölfe zwingt, ihre harten Köpfe zu beugen. Solche Ordnung des Hofes und der Regierung ist kein vollkommenes Werk, oft wird darüber geklagt, vielleicht wurde Ihnen selbst Gelegenheit zu bemerken, daß Brauch und Etikette eines Hofes nicht ohne Härte sind. Dennoch sind sie notwendig. Denn sie erleichtern uns den Rückzug und erhalten uns in einer gewissen Absonderung, dadurch aber helfen sie uns die innere Freiheit bewahren.« Ilse sah vor sich nieder.

»Doch glauben Sie mir,« fuhr der Fürst fort, »auch wir bleiben Menschen, wir möchten uns gern der Stunde warm hingeben, und mit solchen, die uns wert geworden, zwanglos zusammenleben. Wir müssen uns oft bescheiden, und wir erleben Augenblicke, wo solche Entsagung sehr schwer wird.«

»Aber innerhalb der hohen Familie fallen diese Rücksichten doch weg,« rief Ilse. »Der Vater und seine Kinder, die Geschwister untereinander, diese heiligen Verhältnisse dürfen niemals gestört werden.«

Die Miene des Fürsten verfinsterte sich. »Auch sie leiden in der außergewöhnlichen Stellung. Man lebt nicht zusammen, man sieht sich weniger allein, und häufig von andern beobachtet. Jeder kommt zum andern aus seinem besonderen Kreise von Interessen, aus einer Umgebung, die ihn beeinflußt, und die ihm vielleicht das Zutrauen zu seinen nächsten Verwandten mindert. Mein Sohn ist Ihnen bekannt. Er hat alle Anlage zu einem gutherzigen offenen Menschen, Sie werden bemerkt haben, wie argwöhnisch und versteckt er geworden ist.«

Ilse vergaß kluge Gedanken und fühlte sich wieder ein wenig stolz als Vertraute.

»Verzeihung,« rief sie, »das habe ich nie gefunden, er ist nur schüchtern und zuweilen ein wenig ungelenk.«

Der Fürst lächelte. »Sie haben neulich eine Ansicht darüber ausgesprochen, was seiner Zukunft vorteilhaft sein würde. Er soll einmal die Geschäftsführung großer Familiengüter übersehen, ihm wäre allerdings gut, wenn er die Arbeit des Landwirts aus eigener Anschauung kennenlernte. Er fühlt sich ohnedies am Hofe nicht wohl.« Ilse nickte mit dem Kopfe. »Auch das haben Sie schon bemerkt?« fragte der Fürst heiter.

Ich will meinem Prinzen doch Gutes raten, dachte Ilse, wenn es ihm auch nicht ganz bequem ist. »Dann wage ich zu sagen,« rief sie, »daß gerade jetzt die beste Zeit gekommen ist. Denn, gnädigster Herr, er muß doch die Frühjahrsbestellung lernen, und die ist in vollem Gange, er kommt nur noch zur Gerste zurecht, da darf man nicht aufschieben.«

Dem Fürsten gefiel dieser Eifer sehr. »Nicht so leicht ist der Ort gefunden,« sagte er.

»Wenn Ew. Hoheit hier in der Nähe eine Domäne haben, wobei ein Schlößchen ist.«

»Dann könnte er recht oft nach der Stadt kommen,« bemerkte der Fürst mit rauher Stimme.

»Das taugt nicht,« fuhr Ilse eifrig fort. »Er muß zuerst die Arbeit der Leute gründlich kennen und dazu regelmäßig auf den. Felde sein.«

»Einen besseren Ratgeber konnte ich nicht finden,« sagte der Fürst in vortrefflicher Laune. »In der Nähe fehlt die Gelegenheit. Ich habe an das Gut Ihres Vaters gedacht.«

Ilse stand überrascht auf. »Aber unser Hauswesen ist gar nicht eingerichtet, einen solchen Herrn aufzunehmen,« erwiderte sie mit Zurückhaltung. »Nein, gnädigster Herr, die bürgerliche Ordnung unserer Familie würde nicht für die Ansprüche eines jungen Fürsten passen. Ich schweige von andern Bedenken, die mir früher unbekannt waren und die mir erst hier auf die Seele gefallen sind. Deshalb, wenn ich nach meinem Gefühl sprechen darf, bin ich der Meinung, daß dies aus vielen Gründen nicht gut angeht.«

»Es war nur ein Gedanke,« versetzte der Fürst in der glücklichsten Stimmung. »Der Zweck würde sich vielleicht erreichen lassen, ohne Herrn Bauer unbillig zu beengen. Meine Absicht war,« fuhr er mit ritterlicher Artigkeit fort, »Ihnen und Ihrem Vater einen offenkundigen Beweis meiner Achtung zu geben, ich habe dazu besondere Veranlassung.« Er sah Ilse bedeutsam an, sie dachte an den Geburtstag der Prinzessin.

»Ich weiß warum,« sagte sie leise.

Der Fürst rückte seinen Stuhl näher. »Ihr Vater hat eine große Familie?« fragte er. »Ich erinnere mich dunkel, einige rotbäckige Knaben gesehen zu haben.«

»Das waren die Brüder,« lachte Ilse, »es sind prächtige Jungen, gnädiger Herr, wenn ich als Schwester loben darf. Sie werden einmal Ew. Hoheit Freude machen. Noch sind sie etwas ungelenk, aber brav und gescheit. Mein Franz hat mir erst gestern geschrieben, ich möchte Ew. Hoheit von ihm grüßen. Das kleine Kerlchen denkt, dergleichen geht nur so. Nun will ich doch, weil es die Gelegenheit gibt, den Gruß an meinen lieben gnädigen Herrn ausgerichtet haben, es ist ein dummer Kindergruß, aber er kommt aus gutem Herzen.« Sie nestelte an ihrer Tasche und brachte einen Brief hervor, der mit schönen Buchstaben bemalt war. »Sehen Ew. Hoheit, so hübsch schreibt das Kind. Ach, aber ich darf den Brief nicht zeigen, denn Hoheit werden darin wieder eine Bestätigung finden, daß die Menschen immer eigennützige Wünsche im Hintergrund haben, wenn sie an ihren Fürsten denken. Der unglückliche Junge hat auch einen Wunsch.«

»Da haben wir's!« sagte der Fürst.

Ilse wies ihm den Brief, der Fürst faßte gnädig das Papier mit ihr an und seine Hand lag auf der ihren. »Er ist so unverschämt, Ew. Hoheit um einen großen Lederball zum Aufblasen zu bitten. Der Ball ist bereits gekauft.«

Sie sprang auf und trug einen riesigen bunten Ball herzu. »Den schicke ich noch heut, und ich schreibe ihm dazu, daß es sich gar nicht zieme, einen so großen Herrn um etwas anzubetteln. Er ist schon neun Jahre, aber er ist noch sehr kindisch. Ew. Hohen müssen ihm das zugute halten.«

Ergriffen von der unbefangenen Herzlichkeit entgegnete der Fürst: »Schreiben Sie ihm zugleich, daß ich ihm sagen lasse, er soll sich den heiteren Sinn und das loyale Gemüt seiner ältesten Schwester durch die Gefahren des Lebens retten. Auch ich fühle, wie sehr Ihr Wesen denen zum Segen ist, welche das Glück haben, in Ihrer Nähe zu atmen. In einem Treiben, welches mit aufreibenden Eindrücken angefüllt ist, wo Haß und Argwohn mehr von dem Frieden der Seele nehmen als die Stunden der Ruhe zurückgeben können, habe ich mir doch Empfänglichkeit bewahrt für die unschuldige Frische eines Gemütes wie das Ihre ist. Ich freue mich Ihrer von Herzen.«

Wieder legte er seine Hand leise auf die ihre, Ilse sah beschämt durch das Lob ihres lieben Landesherrn vor sich nieder.

Da nahte ein eiliger Schritt, der Fürst erhob sich, der Professor trat ein. Er verneigte sich vor dem Fürsten und sah überrascht auf seine Frau. »Du bist nicht unwohl?« rief er fröhlich. »Verzeihung, gnädigster Herr, ich kam in Sorge um meine Frau. Ein fremder Knabe zog die Klingel am Antikenkabinett und brachte die Botschaft, der Fremde möge sogleich nach seiner Frau sehen, sie sei erkrankt. Gut, daß es eine Verwechslung war.«

»Ich bin dem Irrtum dankbar,« versetzte der Fürst, »da er mir Gelegenheit gibt, Ihnen selbst zu sagen, was ich vor Madame Werner niederlegen wollte: der Stall hat Befehl, Ihnen zu jeder Stunde einen Wagen bereit zu halten, wenn Sie bei Ihren geheimnisvollen Nachforschungen eine Reise in die Umgegend wünschen.« Er empfahl sich gnädig.

Der Fürst öffnete das Fenster seines Arbeitszimmers, die Luft war schwül, lange hatte die Sonne über der frohen Erde geglänzt, jetzt war sie verschwunden, schwere Wolken wälzten sich wie unförmliche Wasserschläuche über die Stadt und das Schloß. Der Fürst holte tief Atem, aber die Gewitterluft preßte den Dampf aus den Essen des Schlosses herab an sein Fenster, und der Rauch fuhr wie ein grauer Nebel um sein Haupt. Er riß die Tür der Galerie auf, welche zu seinen Audienzzimmern führte, und schritt hastig über den Teppich. An den Wänden hing eine Reihe Ölbilder, Köpfe schöner Frauen, denen der Fürst einmal Beachtung geschenkt hatte. Sein Blick irrte von der einen zur andern, am Ende der Reihe war noch ein leerer Platz, er blieb davor stehen und seine Phantasie malte ein Bild hin mit blonden Haaren und einem treuherzigen bürgerlichen Licht in den Augen, rührend wie keines der andern Gesichter.

»So spät!« klang es in ihm. »Es ist die letzte Stelle und es ist das stärkste Gefühl. Toren, die uns sagen, daß die Jahre gleichgültig machen. Wenn sie mir begegnet wäre am anderen Ende,« er sah die Galerie hinab, »bei dem Beginn meines Lebens, als ich noch vor einem Rosenstrauch sehnsüchtig an die Wangen des Mädchens dachte und durch den Gesang einer Grasmücke empfindsam gerührt wurde, hätte damals ein solches Weib mir schützend erhalten, was ich für immer verlor?

»Unnütze Frage, die um Vergangenes sorgt. Festhalten muß ich für die Gegenwart, was in den Bereich meiner Hand gekommen ist. Der schwache Jüngling ist ihr gleichgültig, aber sie selbst fühlt sich hier unheimisch, und wenn sie sich mir entwindet, ich bin ohnmächtig, sie zurückzuhalten. Ich bleibe allein, täglich dieselben gelangweilten Gesichter, deren Gedanken man kennt, bevor sie ausgesprochen werden, denen man ansieht, bevor sie den Mund öffnen, was sie für sich wollen und wie sie sich vorbereiten, eine Empfindung zu lügen. Was sie von Witz und Willen haben, das arbeitet in der Stille gegen mich; was ich von ihnen erhalte, ist nur der künstliche Schein des Lebens. Es ist traurig, ein Meister zu sein, vor dem sich lebendige Seelen in Maschinen verwandeln, jahraus jahrein die Klappen am Kopf zu öffnen und das Räderwerk zu betrachten. Ich selbst habe es ihnen eingesetzt,« lächelte er, »aber mich langweilt meine Arbeit.«

»Ich weiß,« murmelte er, »daß unter diesen künstlichen Uhren der Zweifel aufkommt, ob meine unselige Kunst sie zu Lügen der Menschennatur gemacht hat, oder ob ich selbst nur ein Automat bin, welcher aufgezogen nickt und gedankenlos dieselben gnädigen Worte wiederholt. Ich weiß, es gibt Stunden, wo ich über mich selbst die Achseln zucke, wenn ich als Pantalon oder Bramarbas auf der Bühne stolziere, ich merke den Draht, der meine Gelenke bewegt, ich fühle ein Gelüst, meinen eigenen Kopf in den Schraubstock zu stellen und zu bessern, was in mir schadhaft wurde, und ich sehe einen großen Kasten geöffnet, in den man mich wirft, wenn meine Rolle ausgespielt ist.

»Oh,« stöhnte er aus tiefer Brust, »ich weiß, daß ich wirklich bin, wenn nicht bei Tage, doch bei Nacht. Keinen von meiner Umgebung quälen die einsamen Stunden wie mich, ihnen pocht's nicht fieberheiß an die Schläfe, wenn sie sich in den Winkel legen, nachdem ihr Tagewerk abgeschnurrt ist.

»Wo habe ich Freude zwischen den Ledertapeten dieser Räume oder unter den alten Schildereien der Mutter Natur? Lachen ohne Freude, Zorn über Nichtigkeiten, alles kalt, gleichgültig, seelenlos.

»Nur in den seltenen Augenblicken, wo ich bei ihr bin, fühle ich mich wie ein anderer Mensch, dann empfinde ich, daß flüssiges Blut in meinen Adern rollt. Wenn sie in ihrer ehrlichen Einfalt von dem Vielen spricht, was sie liebt und worüber sie sich freuen kann, die Frau mit dem Kinderherzen, dann werde auch ich wieder jung wie sie. Sie erzählte von ihrem Bruder Krauskopf. Ich sehe den Knaben vor mir, ein draller Bursch, mit den Augen seiner Schwester, ich sehe, wie der kleine Dummkopf in sein Butterbrot beißt, und mir ist das so beweglich, als läse ich eine rührende Geschichte. Ich möchte den Jungen zu mir heraufheben, als wenn ich sein guter Vetter wäre.

»Sie selbst ist wahr und geradsinnig, es ist ein klares Gemüt und hinter ruhiger Milde birgt sich die starke Leidenschaft. Wie sie auffuhr gegen meinen Boten, den armen Widder Bellyn, der ihr den Adelsbrief in der Tasche zutragen sollte! Sie ist ein Weib, mit der zu leben der Mühe wert ist und für die ein Mann viel tun kann, sie zu erwerben.

»Doch was vermag ich ihr gegenüber? Was ich ihr geben kann, das gilt ihr wenig, was ich ihr nehmen muß, wie wird sie das überwinden?« Er sah scheu auf die leere Stelle der Wand. »Dort soll einst ein anderes Bild hängen,« rief er, »warum hängt es nicht da? Warum liegt die Erinnerung an eine Verschwundene seit alter Zeit in meinem Hirn wie ein Stein, dessen Druck ich fühle bei Tage unter den Menschen und bei Nacht, wenn ich das müde Haupt mit meinen Händen presse? Das Weib von damals schlief in demselben Zimmer vor vielen, vielen Jahren, wo jetzt die Fremde ruht, und sie wachte nicht auf, als es klug gewesen wäre. Und da sie erwachte und zur Besinnung kam, zersprang in ihrem schwachen Geist eine Feder und sie schwand dahin, wo die Leiber fortleben ohne vernünftige Seelen.«

Ein Fieberschauer fuhr ihm durch den Leib, er schüttelte sich und sprang mit einem Satze aus der Galerie, blickte scheu hinter sich und schlug die Tür zu.

»Die rohe Leidenschaft ist verglüht,« fuhr er nach einer Weile fort, »man wird bedächtiger mit den Jahren. Festhalten will ich sie, wie es auch sei. Es ist nicht mehr die sengende Glut der Jugend, es ist das Herz eines gereiften Mannes, das ich ihr entgegentrage. Mit fester Geduld will ich erwarten, was die Zeit mir bereitet, langsam wird diese Frucht in der warmen Sonne reifen, ich harre aus. Aber festhalten will ich sie. Auch der Mann bei ihr wird aufmerksam, es war ein ungeschickter Vorwand, den er log, auch er entringt sich meiner Hand. Ich muß sie halten, und für diese Kinderherzen gibt es nur ein kindisches Mittel.«

Die Schelle tönte, der Diener trat ein und erhielt einen Auftrag.

Magister Knips stand vor dem Fürsten, seine Wangen waren gerötet, in seinen Zügen arbeitete heftige Erregung.

»Haben Sie die Denkschrift gelesen, welche Professor Werner über die Handschrift abgefaßt hat?« fragte der Fürst herablassend. »Was ist Ihre Ansicht darüber?«

»Es ist eine ungeheure staunenswerte Nachricht, Allerdurchlauchtigster, allergnädigster Fürst und Herr. Wohl darf ich sagen, daß ich diese Entdeckung in allen Gliedern fühle. Wenn es gelänge, die Handschrift zu finden, der Ruhm wäre unvergänglich, er würde bei jeder Ausgabe, worin von Handschriften die Rede ist, bis an das letzte Ende der Welt im Vorwort erneuert werden, er müßte den Gelehrten, welchem dieser größte irdische Glücksfall zuteil wird, auf einmal hoch herausheben über seine Mitmenschen. Auch der erhabene Fürst, dem nach Titel 22 § 127 eines neuen Landesgesetzes unzweifelhaft das nächste Recht an dem gefundenen Schatz zusteht, Höchstderselbe würde als Schirmherr eines hohen Zeitalters unserer Kenntnis des betreffenden Römers von den Zungen aller Völker gefeiert werden.«

Der Fürst hörte zufrieden diesen schwärmerischen Ausbruch des Magisters, der in der Begeisterung seine demütige Haltung vergaß und pathetisch den Arm nach der Richtung ausstreckte, wo er die Strahlenkrone über dem Haupte des Fürsten schweben sah.

»Dies alles würde geschehen, wenn man den Schatz fände,« sagte der Fürst, »noch ist er nicht gefunden.«

Knips sank zusammen. »Allerdings ist der Gedanke vermessen, daß ein solches Glück einem Lebenden beschieden sei, dennoch wäre Frevel, an der Möglichkeit zu zweifeln.«

»Dem Professor Werner scheint viel an dem Funde gelegen,« warf der Fürst gleichgültig hin.

»Derselbe müßte nicht ein Gelehrter von gediegenem Urteil sein, wenn er nicht die Wichtigkeit dieses Gewinstes ebensotief empfände als Höchstdero alleruntertänigster Diener und Knecht.«

Der Fürst unterbrach den Redenden. »Herr von Weidegg hat Ihnen den Antrag gestellt, in meinem Dienst zu bleiben. Sie haben angenommen?«

»Mit den Gefühlen eines geretteten Menschen,« rief Knips, »welcher Dank und Segenswünsche in unbegrenzter Verehrung zu Ew. Hoheit Füßen niederzulegen wagt.«

»Haben Sie sich bereits verpflichtet?«

»In feierlichster Weise.«

»Gut,« sagte der Fürst und hielt mit einer Handbewegung den Strom ehrfurchtsvoller Beteuerung in den Lippen des Magisters zurück.

»Man hat mir gerühmt, Herr Magister, daß Sie besonders Glück haben, dergleichen Seltenheiten aufzufinden. Glück,« wiederholte der Fürst, »oder was dasselbe ist, Geschick. Halten Sie im Ernst für glaublich, daß die undeutlichen Spuren zu dem verlorenen Schatz führen?«

»Wer darf noch behaupten, daß ein solcher Fund unmöglich ist?« rief der Magister. »Ja, wäre mir erlaubt, in tiefster Ehrfurcht meine Ansicht auszusprechen, welche wie ein Freudenschrei aus meinem Innern bricht, es ist sogar – ich darf nicht sagen wahrscheinlich – aber es ist doch nicht unwahrscheinlich, daß ein Zufall daraufführt. Jedoch wenn ich mir gestatten darf, eine ehrfurchtsvolle Erfahrung in Worte zu fassen, welche vielleicht nur Aberglaube ist: wenn sich die Handschrift findet, so findet sie sich nicht da, wo man sie erwartet, sondern irgendwo anders. So oft mir bis jetzt in meinem bescheidenen Dasein das Glück eines Fundes zuteil geworden ist – ich erwähne nur den italienischen Homer von 1488, so war dies immer gegen alles Vermuten; und was Allerhöchste Huld meine Geschicklichkeit nannte, das ist, wenn ich das Geheimnis meines Glückes zu offenbaren mich unterfange, im letzten Grunde nichts als der Umstand, daß ich häufig da gesucht habe, wo nach gemeiner menschlicher Vermutung ein Schatz zu liegen keine Veranlassung hatte.«

»Die Aussicht, welche Sie eröffnen, ist jedenfalls für einen Ungeduldigen nicht tröstlich,« versetzte der Fürst, »denn das kann lange währen.«

»Menschengeschlechter mögen schwinden,« rief Knips, »aber die Gegenwart und Zukunft wird suchen, bis der Kodex gefunden ist.«

»Das ist ein schlechter Trost,« lächelte der Fürst, »und ich gestehe, Herr Magister, Sie täuschen durch diese Worte die heitere Erwartung, welche ich hegte, daß Ihre Spürkraft und Geschicklichkeit mir recht bald das Vergnügen machen würde, das Buch in den Händen des Professors zu sehen, das Buch selbst oder doch einen handgreiflichen Beweis seiner Existenz. Ich bin Laie in all diesen Sachen und ich habe durchaus kein Urteil über die Wichtigkeit, welche Sie der Entdeckung beilegen. Mir ist es zur Zeit nur um einen Scherz zu tun, oder, ich wiederhole die Worte, welche Sie mir neulich vor den Miniaturen sagten, um eine Neckerei.«

Ausdruck und Haltung des Magisters veränderten sich allmählich wie unter der Beschwörung eines Zauberers, er sank zusammen, legte das Haupt auf die Achsel und sah in ängstlicher Spannung auf den Fürsten.

»Kurz gesagt, ich wünsche, daß Herr Werner recht bald auf eine sichere Spur der Handschrift geleitet werde, wenn es nicht möglich ist, die Handschrift selbst herbeizuschaffen.«

Knips schwieg und starrte auf den Sprechenden.

»Ich ersuche Sie,« fuhr der Fürst nachdrücklich fort, »Ihr bereits bewährtes Talent für diesen Zweck in Tätigkeit zu setzen. Ihre Hilfe dabei müßte allerdings mein Geheimnis bleiben, denn ich möchte Herrn Werner gönnen, daß er selbst das Vergnügen empfindet, einen Fund zu machen. So ist ja wohl der Ausdruck.«

»Es muß eine große Handschrift sein,« stöhnte Knips.

»Ich fürchte,« versetzte der Fürst nachlässig, »sie ist längst in Stücke zerrissen. Nicht unmöglich, daß sich einige zerstreute Blätter irgendwo erhalten haben.«

Der Magister stand wie vom Donner gerührt. »Es ist schwer, den Herrn Professor zu befriedigen.«

»Um so größer wird Ihr Verdienst sein, Verdienst und Lohn.«

Knips blieb zusammengesunken stehen und schwieg.

»Ist Ihre Zuversicht geschwunden, Herr Magister?« spottete der Fürst. »Es ist doch nicht das erstemal, daß Ihnen ein solcher Fund gelingt.« Er trat dem kleinen Mann näher. »Ich weiß etwas von früheren Proben Ihrer Kunstfertigkeit und ich bin über den Umfang Ihres Talentes durchaus nicht mehr im Zweifel.«

Knips schreckte zusammen, aber er fand noch keine Worte.

»Im übrigen bin ich mit Ihrer Tätigkeit zufrieden,« fuhr der Fürst mit veränderter Stimme fort, »ich zweifle nicht, daß Sie nach mehrfacher Richtung verstehen werden, sich den Beamten meines Hofes nützlich zu machen und dadurch Ihre eigene Zukunft wohl zu beraten.«

»Hohe Ehre,« jammerte Knips und zog sein Taschentuch.

»Was die verlorene Handschrift betrifft,« fuhr der Fürst fort, »so wird der Aufenthalt des Herrn Werner, wie ich fürchte, nur vorübergehend sein. Ihnen würde die Aufgabe zufallen, die Nachforschungen in unserem Lande fortzusetzen.«

Knips erhob sein Haupt, und ein Strahl von Freude zuckte über sein verstörtes Gesicht.

»Hat die Handschrift in der Tat so großen Wert wie die Herren Gelehrten meinen, so würde, im Fall nach der Abreise des Professors noch etwas zu entdecken bliebe, für Sie bei uns gerade die Tätigkeit gefunden sein, welche Ihnen besonders zusagt.«

»Diese Aussicht ist die höchste und gnädigste, welche meinem Leben zuteil werden kann,« erwiderte Knips mutiger.

»Gut,« sagte der Fürst, »verdienen Sie sich jetzt dieses Anrecht und versuchen Sie zunächst, was Ihre Geschicklichkeit vermag.«

»Ich werde mir Mühe geben, Ew. Hoheit zu dienen,« versetzte der Magister, die Augen auf den Boden geheftet.

Knips verließ das Kabinett. Der kleine Mann, welcher jetzt die Treppe hinabschlich, sah anders aus als jener glückliche Magister, der vor wenig Minuten hinaufgestiegen war. Das bleiche Gesicht war nach vorn gebeugt und sein Auge irrte scheu über die Mienen der Diener, welche ihn neugierig betrachteten. Er griff in Verwirrung nach seinem Hut und er, der Magister, setzte ihn noch im Fürstenschlosse auf sein Haupt. Er trat hinaus auf den Platz, der Sturm fegte durch die Straßen, trieb Staub in Wirbeln um ihn her und jagte ihm die Rockschöße vorwärts. »Er treibt,« murmelte Knips, »er treibt, wie kann ich widerstehen? Soll ich zurückkehren in die kalte Kammer zu meinen Korrekturen, soll ich mein Lebtag von der Professorengnade abhängen und den stolzen Tröpfen Bücklinge machen, immer in Sorge, daß ein Zufall diesen Gelehrten verrät, wie auch ich einmal ihr Meister war und sie höhnte?

»Hier aber ein gutes Leben und Gelegenheit, unter Unwissenden der Klügste zu sein und ihnen unentbehrlich zu werden. Ich bin es schon jetzt, der Fürst hat sich zu mir gestellt wie ein Kamerad zum andern, und er kann, wenn ich seinen Willen tue, sich so wenig von mir scheiden wie das Pergament von der Schrift.«

Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Ich selbst finde den Kodex,« fuhr er zuversichtlicher fort. » Jacobi Knipsii sollertia inventum. Ich kenne das große Geheimnis, und ich will suchen Tag für Tag, wo nur ein Kellerwurm kriecht und eine Spinne ihr Gewebe anhängt. Bei mir steht es dann, ob ich den Professor zum Gehilfen nehme bei der Herausgabe oder einen andern. Vielleicht nehme ich ihn und er soll mir dankbar sein. Denn er findet schwerlich den Schatz, er ist viel zu vornehm, um zu horchen und zu spionieren, wo die Truhen versteckt sind.«

Der Magister beflügelte seine Schritte, hinter ihm pfiff der Wind in scharfen Tönen, riß vertrocknete Zweige des letzten Jahres vom Baum und warf sie an den Hut des kleinen Mannes. Schneller kreisten die Staubwirbel um seinen Leib, sie bargen das schwarze Festkleid in fahlem Grau, glitten fort mit dem Schreitenden und hüllten ihn ein, daß ihm das Grün der Bäume und die Gestalten der Menschen entschwanden und er in einer Wolke dahinlief, bedeckt mit Erdenstaub und toten Blättern. Er aber hob wieder sein Taschentuch, seufzte und wischte den Schweiß von seinen Schläfen.


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