Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch

Erstes Kapitel

Die ersten Grüße aus der Stadt

Im Stadtwald fiel das Laub vor die Füße der Spaziergänger. Ilse stand am Fenster und dachte an die Heimat. Die Kränze über der Tür waren verwelkt, Linnen und Kleider lagen eingestaut in den Schränken, das eigene Leben rann so still, und draußen das fremde rauschte so überlaut. Im Nebenzimmer saß der Gatte über seiner Arbeit; nur das Knittern der Blätter, welche er umschlug, drang durch die Tür und dazwischen aus der nahen Küche ein Klappern der Teller. Sehr schön war die Wohnung, aber enge eingehegt, zur Seite die schmale Straße; dahinter das Nachbarhaus mit vielen neugierigen Fenstern; auch nach dem Walde der Horizont verbaut durch graue Stämme und ragende Äste. Und aus der Ferne tönte vom Morgen bis zum Abend das Summen, Rasseln und Rufen der tätigen Stadt in das Ohr, von der Höhe die Klänge eines Flügels, vom Bürgersteig ohne Aufhören die Tritte der Vorübergehenden, Wagen rollten heran, laute Stimmen zankten. Und wie lange man aus dem Fenster schaute, immer neue Menschen und unbekannte Gesichter, viele schöne Herrschaften und wieder sehr ärmliche Leute. Ilse dachte bei jedem Vorübergehenden, der einen modischen Rock trug, wie vornehm er sein müsse, und bei jedem dürftigen Anzug, wie hart den Armen hier das Leben drücke. Alle aber waren ihr fremd, die sie reden hörte, auch die nahe bei ihr wohnten und von allen Ecken auf ihr eigenes Treiben sehen konnten, hatten wenig mit ihr zu schaffen, und wenn sie nach einzelnen fragte, wußten ihre Hausgenossen nur spärliche Nachricht zu geben. Alles fremd und kalt und in endlosem Getümmel! Ilse stand in ihrer Wohnung wie auf einem winzigen Eiland in sturmbewegtem Meere und ihr wurde bange vor dem fremden Leben.

Aber die Stadt, wie riesenhaft und toblustig sie sich gegen Ilse gebärdete, war im Grunde ein freundliches Ungetüm, ja sie hegte vielleicht vor andern eine stille Neigung zu poetischen Gefühlen und zu heimlicher Artigkeit. Zwar hatte ein gestrenger Stadtrat den Brauch aufgegeben, ansehnlichen Fremden den Willkommen mit Wein und Fischen zu überreichen, aber er sandte doch den ersten Morgengruß durch seine geflügelten Schützlinge, über welche sich schon Ilses Vater gefreut hatte. Die Tauben flogen um Ilses Fenster, saßen gedrängt vor den Scheiben und pickten an das Holz, bis Ilse ihnen Futter hinausstreute. Und Gabriel, der das Frühstück abräumte, konnte nicht umhin, sich selbst zu loben: »Ich habe sie seit einigen Wochen an diesem Fenster gefüttert, weil ich mir dachte, daß sie Ihnen recht sein würden.« Und als Ilse ihn dankbar ansah, gestand er offenherzig: »Denn ich bin auch vom Dorfe, und weil ich zuerst in die Kaserne kam, habe ich auch mein erstes Kommißbrot mit einem fremden Pudel aufgegessen.«

Aber die Stadt sorgte noch durch andere Vögel dafür, daß die Frau vom Lande heimisch wurde. Gleich am ersten Tage, wo Ilse allein ausging – es war ein schwerer Gang, denn sie konnte sich mit Mühe enthalten, vor den Schaufenstern stehenzubleiben, und sie errötete, sooft die Leute dreist in ihr Gesicht sahen –, gleich damals hatte sie vor einer Konditorei arme Kinder getroffen, welche begehrlich durch die Fensterscheiben auf das Backwerk starrten; die sehnsuchtsvollen Blicke hatten sie gerührt, sie war hineingetreten und hatte Kuchen unter sie verteilt. Seitdem machte sich's, daß jeden Mittag leise an Ilses Klingel gezogen wurde und kleine Jungen mit zerrissenen Höschen leere Töpfe darboten und gefüllte heimtrugen, zum Ärger des Herrn Hummel, der ein solches Anlocken von Spitzbuben nicht loben konnte.

Als Ilse am Abend ihrer Ankunft von dem Gatten in ihr Zimmer geführt wurde, fand sie über den Tisch eine schöne Decke gebreitet, ein Meisterstück sorgfältiger Frauenarbeit, daran einen Zettel mit dem Wort: »Willkommen«. Gabriel bekannte, daß Fräulein Laura dieses Geschenk aufgelegt habe. Deshalb wurde am nächsten Morgen der erste Besuch im Unterstock gemacht. Als Ilse in das Wohnzimmer der Familie Hummel trat, sprang Laura errötend auf und stand verlegen der Frau Professorin gegenüber; ihre ganze Seele flog der Fremden entgegen, aber Ilses Wesen flößte ihr Scheu ein. Ach, die Ersehnte war allerdings erhaben und würdevoll, weit mehr als Laura gedacht hatte, Laura kam sich auf der Stelle sehr klein und unreif vor, sie empfing schüchtern den Dank und zog sich einige Schritte zurück, der Mutter die Pflicht der Worte überlassend. Aber sie wurde nicht müde, die schöne Frau anzusehen und ihre Gestalt in Gedanken mit dem edelsten Kostüm der tragischen Bühne zu schmücken.

Laura erklärte der Mutter, daß sie den Gegenbesuch allein machen wolle, und schlüpfte am nächsten schicklichen Tage in der Dämmerung hinauf, mit pochendem Herzen, aber entschlossen, eine gute Unterhaltung zu suchen. Doch da wollte der Zufall, daß gleich nach ihr der Doktor als Störenfried eintrat, und es gab nichts als ein zerpflücktes Gespräch und verblichene Redensarten, durch welche gar nichts erreicht wurde. Und sie empfahl sich wieder, böse auf den Doktor und unzufrieden mit sich selbst, weil sie nichts Besseres zu sagen gewußt.

Seit diesen Tagen war die Hausgenossin für Laura ein Gegenstand stiller unablässiger Verehrung. Sie setzte sich nach Tische an das Fenster und wartete auf die Stunde, in welcher Ilse am Arm des Gatten auszugehen pflegte. Dann lauschte sie hinter der Gardine hervor und sah ihr bewundernd nach. Sie huschte oft über den Hausflur und um die Entreetür der Mieter, aber wenn Ilse einmal von weitem sichtbar wurde, verbarg sie sich, oder wenn sie mit ihr zusammentraf, verneigte sie sich tief und wußte in der Schnelle nur Gewöhnliches zu reden. Sie war sehr bekümmert, ob ihr Klavierspiel nicht stören würde und ließ hinauffragen, in welchen Stunden sie am wenigsten damit lästig sei; und als er, der rote Kobold ohne Namen, einst gegen Ilse geknurrt und ihr tückisch in das Kleid gebissen hatte, geriet sie in solchen Zorn, daß sie ihren Sonnenschirm holte und das Scheusal damit bis unter die Treppe verfolgte

Unter dem Namen der Mutter – denn für sich selbst wagte sie es nicht – begann sie einen Feldzug von kleinen Aufmerksamkeiten gegen den Oberstock. Wenn Verkäufer gute Dinge für die Küche anboten, wurde Laura den Mittagsfreuden des Herrn Hummel verhängnisvoll, denn sie fing junge Gänse und fette Hühner ab und sandte sie regelmäßig nach der Höhe, bis das Dienstmädchen Susanne über das Vorkaufsrecht der Mieter in Erbitterung geriet und Frau Hummel zu Hilfe holte. Als durch eine Frage Gabriels offenbar wurde, daß sich die Frau Professorin nach einer bestimmten Art feiner Äpfel erkundigt hatte, eilte Laura auf den Markt, suchte so lange, bis sie ein Körbchen davon heimbrachte, und diesmal zwang sie sogar Herrn Hummel selbst, den Korb mit vielen Empfehlungen hinaufzusenden. Ilse freute sich des artigen Hauswirts, aber sie ahnte nicht den geheimen Quell.

»Vor einem Volk habe ich große Scheu,« sagte Ilse zu ihrem Gatten, »und das sind die Studenten. Ich war kaum flügge und zum Besuch bei unserer Tante, da sah ich eine ganze Gesellschaft zum Tore hereinziehen, mit großen Degen, mit Federhüten und samtenen Röcken. Taten die wild! Ich durfte den Tag nicht auf die Straße gehen. Wenn ich jetzt als deine Frau mit den wilden Männern verkehren muß, ich fürchte mich nicht gerade, aber sie sind mir bangsam.«

»Nicht alle sind so arg,« tröstete der Professor, »du wirst sie bald gewöhnt werden.«

Trotzdem erwartete Ilse mit Spannung den ersten Studenten. Und es traf sich, daß an einem Morgen die Schelle gezogen wurde, als gerade der Professor auf der Bibliothek weilte, Gabriel und das Mädchen ausgeschickt waren. Ilse öffnete selbst die Tür. Betroffen prallte ein junger Mann zurück, der durch die bunte Mütze als Student deutlich wurde und außerdem eine schwarze Mappe unter dem Arme trug. Dieser sah freilich anders aus, ohne Straußenfeder und Degen, er war auch bleich und schmächtig; aber Ilse fühlte doch Respekt vor dem gelehrten jungen Herrn und fürchtete nebenbei, daß die Wildheit seines Standes plötzlich aus ihm hervorbrechen könnte. Indes, sie war ein tapferes Mädchen gewesen und nahm den Besuch von der praktischen Seite: Das Unglück ist einmal da, jetzt gilt's artig sein. – »Sie wünschen meinen Mann zu sprechen, er ist im Augenblick nicht zu Hause, wollen Sie sich nicht gütigst hereinbemühen?«

Der Student, ein armer Philolog, welcher als Bewerber um ein kleines Stipendium anlief, geriet solchem majestätischen Willen gegenüber in starke Beklemmung. Er machte viele Verbeugungen, aber er wagte nicht zu widerstreben. Ilse führte ihn also in das Besuchzimmer, nötigte ihn, auf einem Lehnsessel niederzusitzen und fragte, ob sie ihm mit irgend etwas dienen könne. Der arme Schelm wurde immer verlegener, und auch Ilse wurde durch seine Unruhe ein wenig angesteckt. Sie fing aber entschlossen eine Unterhaltung an und erkundigte sich, ob er aus dieser Stadt stamme. Dies war nicht der Fall. – Aus welcher Gegend er zugezogen, auch sie sei eine Fremde. – Da ergab sich, daß er aus ihrer Landschaft war, zwar nicht aus der Nähe ihrer Heimat, sondern, wie beide miteinander berechneten, etwa zehn Meilen ab aus anderer Ecke, indes er hatte doch von klein auf dieselben Berge gesehen und kannte die Mundart ihres Landes und die Sprache seiner Vögel. Nun rückte sie ihm näher und machte ihn gesprächig, bis beide wie gute Gesellen miteinander plauderten. Endlich sagte Ilse: »Mein Mann kommt vielleicht nicht so bald, ich möchte ihn aber des Vergnügens nicht berauben, Sie zu sprechen, wie wäre es, Herr Landsmann, wenn Sie uns den nächsten Sonntag die Freude machten, unser Mittagsgast zu sein?« Überrascht und unter vielen Danksagungen erhob sich der Student und entfernte sich, von Ilse bis an die Tür begleitet. Er hatte aber, umstrickt durch das Abenteuer, seine Mappe vergessen; noch einmal ertönte schüchtern die Schelle, er stand noch einmal verlegen an der Tür und bat mit vielen Entschuldigungen um seine Mappe.

Ilse freute sich der Begegnung und daß sie so gut die erste Schwierigkeit überwunden hatte. Froh rief sie ihrem Mann an der Tür zu: »Felix, der erste Student war hier.«

»So?« erwiderte der Gatte, durch die Nachricht keineswegs erschüttert, »wie hieß er?«

»Den Namen weiß ich nicht, er trug aber eine rote Mütze und sagte, er sei kein Fuchs. Ich habe mich nicht gefürchtet, ich habe ihn dir für Sonntag zum Essen gebeten.«

»Nun,« versetzte der Professor, »wenn du das bei jedem tust, so wird unser Haus voll werden.«

»War's nicht recht?« fragte Ilse bekümmert. »Ich sah wohl, daß es keiner von den Großen war, aber ich wollte um deinetwegen doch lieber zu viel, als zu wenig tun.«

»Laß gut sein,« sagte der Professor, »es soll ihm nicht vergessen werden, daß er der erste war, der in dein liebes Angesicht schaute.«

Der Sonntag kam, und in der Mittagstunde unter vielen Verbeugungen der Studiosus. Obwohl er sonst Freitische in Familien als eine zwar wertvolle, aber lästige Einrichtung leidend ertrug, so hatte er doch diesmal in Weste und sogar in Handschuhen eine außerordentliche Anstrengung gemacht. Und Ilse erhielt durch die Haltung des Gatten gegen den Studenten sogleich eine ruhig mütterliche Würde. In solcher Stimmung legte sie ihm ein zweites Bratenstück auf den Teller und versah ihn mit gehöriger Zukost. Die wohlwollende Behandlung und einige Gläser Wein, deren letztes Ilse eingoß, stärkten dem Studenten das Herz und hoben ihn über die Erbärmlichkeiten des irdischen Daseins. Nach Tische besprach der Professor mit dem Doktor etwas Gelehrtes. Ilse aber setzte gütig die Unterhaltung mit dem jungen Herrn fort und kam, da dies am bequemsten war, auf seine Familienverhältnisse zu sprechen. Da wurde der Student warm und weich und begann Enthüllungen von sehr traurigem Inhalt. Natürlich zunächst, daß er kein Geld hatte, dann aber wagte er auch schmerzliche Offenbarungen über ein zartes Verhältnis zu der Tochter eines Juristen, mit welcher er in demselben Hause gewohnt und die er ein Jahr lang innig verehrt hatte, zuletzt mit Poesie. Endlich kam der Vater dahinter. Dieser verbot mit einer Tyrannei, wie sie Geheimen Justizräten eigen ist, seiner Tochter die Annahme der Gedichte und bewirkte sogar die Entfernung des Studiosus aus dem Hause. Seitdem war das Innere des Studenten ein Abgrund von Verzweiflung; kein Gedicht – es waren Sonette – drang mehr bis zu der umschlossenen Geliebten. Ja, er hatte Grund, anzunehmen, daß auch sie ihn verachte. Denn sie besuchte Bälle, und er hatte sie erst den Abend vorher gesehen, wie sie mit Blumen im Haar aus dem Wagen des Vaters in ein hell erleuchtetes Haus getreten war. Traurig hatte er an der Haustür unter dem zuschauenden Volk gestanden, sie aber war rosig, lächelnd, strahlend bei ihm vorübergeglitten. Jetzt wandelte er mit seinem Abgrunde dahin, allein, ohne eine menschliche Seele, des Lebens müde und voll schwarzer Gedanken, über welche er sehr düstere Andeutungen machte. Zuletzt bat er Ilse um Erlaubnis, ihr diejenigen Gedichte, welche die Zustände seines Innern am deutlichsten ausdrückten, übersenden zu dürfen.

Natürlich gab das Ilse in warmem Mitleid zu.

Der Studiosus empfahl sich, und Ilse erhielt am nächsten Morgen durch Stadtpost ein ziemliches Päckchen mit einem ehrerbietigen Briefe, worin der Student sich entschuldigte, daß er nicht alle poetischen Aktenstücke, welche sein Unglück ins richtige Licht setzten, übersende, da er mit dem Abschreiben nicht fertig geworden sei. Beilage war ein Sonett an Ilse selbst, sehr hochachtungsvoll und zart, doch war daraus allerdings die stille Neigung des Studenten erkennbar, Ilse an Stelle seiner Ungetreuen zur Herrin ferner Träume zu machen.

Ilse trug verlegen diese Sendung auf den Arbeitstisch ihres Gatten. »Habe ich etwas versehen, Felix, so sag' mir's.« Der Professor lachte. »Ich schicke ihm selbst seine Gedichte zurück, das wird die Huldigung wohl bändigen; du weißt jetzt, daß es nicht ohne Gefahr ist, das Vertrauen eines Studenten zu gewinnen. Die Gedichte sind übrigens schlechter als nötig wäre.«

»Das war also eine Lehre,« sagte Ilse, »die ich mir geholt. In Zukunft wollen wir vorsichtiger sein.«

Aber so schnell wurde sie die Erinnerung an den Studenten nicht los.

Jeden Nachmittag, wenn das Wetter nicht gar zu unfreundlich war, ging zu derselben Stunde Ilse am Arm des Gatten in den Stadtwald. Die Glücklichen suchten einsame Nebenpfade, wo das Astgeflecht dichter ragte und das Grün des Grundes fröhlich gegen die gelben Blätter abstach. Dann dachte Ilse an die Bäume des Gutes, und da machte sich's, daß die Gatten immer wieder vom Vater und von den Geschwistern sprachen und von den ersten Nachrichten, die sie aus der Heimat bekommen. An dem Wiesengrund, welcher sich von den letzten Gebäuden in den Wald zog, stand unter dichtem Gebüsch eine Bank, dort übersah man im Vordergrund die feindlichen Häuser, dahinter Giebel und Türme der Stadt. Als Ilse das erstemal aus dem Gebüsch an die Stelle trat, freute sie sich des Anblicks ihrer Fenster und der umdämmerten Türme, dabei fiel ihr der Sitz in der Höhle ein, von dem sie oft auf das Vaterhaus geblickt hatte; sie saß auf der Bank nieder, zog Briefe ihrer Geschwister hervor, die sie eben erhalten, und las dem Gatten die schmucklosen Sätze, in denen die letzten Ereignisse des Gutes berichtet wurden. Seitdem war ihr die Ruhestelle lieb, jedesmal lenkten sich die Schritte auf dem Heimwege dorthin, und sie schaute von der Bank nach der Wohnung, den Dächern der Stadt und dem Himmel darüber.

Als sie nun am Tage nach jener Sendung des Studenten wieder aus dem Gehölz zu der Bank trat, sah sie einen kleinen Blumenstrauß darauf liegen; neugierig griff sie danach, ein zierlich zusammengelegtes Briefchen aus Rosapapier hing daran, mit der Ausschrift: »Ein Gruß aus B.« Dahinter gerade so viel Punkte, als der Name des väterlichen Gutes Buchstaben enthielt. Überrascht reichte sie den Zettel dem Professor, er öffnete und las die anspruchslosen Worte: »Unterm Stein die kleinen Zwerge senden dir den Blumenstrauß, grüßend über Tal und Berge, aus dem lieben Vaterhaus.« – »Das gilt dir,« sagte er verwundert.

»Wie allerliebst,« rief Ilse.

»Die Zwerge sind jedenfalls ein Scherz des Doktors,« entschied der Professor, »freilich hat er seine Hand gut verstellt.«

Erfreut steckte Ilse den Strauß an: »Wenn der Doktor heut abend kommt, soll er nicht merken, daß wir ihn erraten haben.« Der Professor erzählte von den neckischen Einfällen des Freundes, und Ilse, die sonst den Doktor mit einem geheimen Zweifel betrachtete, stimmte herzlich bei.

Als aber der Doktor am Abend die größte Unbefangenheit heuchelte, wurde fröhlich seine Verstellungskunst gescholten und der Dank doch an ihn abgegeben. Da aber erklärte er fest, daß Strauß und Gedicht nicht von ihm kämen; es erhob sich eine fruchtlose Erörterung über den Urheber, und der Professor sah zuletzt sehr ernsthaft aus.

Die Begrüßung im Walde wiederholte sich. Wenige Tage darauf lag wieder ein kleiner Strauß mit derselben Aufschrift und einem Verse auf der Bank. Noch einmal versuchte Ilse leise eine Mitwirkung des Doktors zu behaupten, aber der Professor wies das kurz ab und steckte den rosafarbenen Zettel ein. Ilse nahm den Strauß mit, diesmal nicht im Gürtel. Als der Doktor herüberkam, wurde das Abenteuer wieder in Erwägung gezogen.

»Es kann niemand sein als der kleine Student,« gestand Ilse gedrückt.

»Das fürchte auch ich,« sagte der Professor, und erzählte dem Doktor zu Ilses Kummer von der vertraulichen Sendung des Musensohns. »So harmlos die Sache an sich ist, hat sie doch eine ernste Seite. Das Auflegen dieser Adressen setzt eine genaue Beobachtung voraus, die nichts weniger als angenehm ist, und solche emsige Tätigkeit kann den Verehrer bis zu größerem Wagnis führen. Dem muß gesteuert werden. Ich muß morgen versuchen, ihn von seinem Unrecht zu überzeugen.«

»Und wenn er dir die Täterschaft ableugnet,« warf der Doktor ein. »Dies wenigstens sollte man ihm vorher unmöglich machen. Der Strauß kann, wenn er andern Vorübergehenden entgehen soll, erst im letzten Augenblicke vor eurer Ankunft hingelegt werden, und es ist nicht schwer, euer Kommen abzuwarten, da der Spaziergang in größter Regelmäßigkeit stattfindet. Man muß den Dreisten zu überraschen suchen.«

»Ich werde also morgen allein gehen,« sagte der Professor.

»Du darfst einem Studenten nicht im Walde aufpassen,« entschied der Doktor, »auch wird, wenn Frau Professorin zu Hause bleibt, der Strauß wahrscheinlich nicht auf der Bank liegen. Überlaß mir die Sache. Geht morgen und in den nächsten Tagen aus wie gewöhnlich, ich will von anderer Seite her die Stätte des Frevels beobachten.«

Das wurde beschlossen, der Professor nahm die beiden kleinen Sträuße aus dem Glase und warf sie zum Fenster hinaus.

Den Tag darauf ging der Doktor als Spion verkleidet in grauem Rock und dunkelm Hut eine Viertelstunde vor den Freunden in den Stadtwald, um aus einem Versteck den vermessenen Versifex zu überfallen; er nahm sich vor, den Täter im Gebüsch so zu zerknirschen, daß seinem Professor jede persönliche Einmischung erspart wurde. Gerade gegenüber der Bank fand er eine gute Stelle, wo dauerhaftes Buchenlaub den Jäger vor dem Wilde verbarg. Dort stellte er sich auf dem Anstand zurecht, zog einen großen Operngucker aus der Tasche, zwang ihn durch Drehen zu der schärfsten Wirrung und starrte unverwandt nach der verhängnisvollen Bank. Noch war die Bank leer, wenige Spaziergänger gingen gleichgültig an ihr vorüber, die Zeit wurde lang, der Doktor sah eine halbe Stunde durch die Gläser, daß ihm die Augen schmerzten, aber er hielt aus, sein Stand war ausgezeichnet, der Verbrecher konnte nicht entrinnen. Da plötzlich, gerade als sein Auge zufällig nach Herrn Hummels Haus abschweifte, sah er dort die Gartentür nach dem Stadtpark geöffnet, etwas Dunkles fuhr heraus zwischen die Bäume, kam bei der Bank aus dem Gehölz, sah sich vorsichtig um, strich längs der Bank dahin und verschwand wieder hinter den Kulissen der Bäume und hinter der feindlichen Gartenpforte. Ein unendliches Erstaunen lagerte sich auf dem Antlitz des Doktors, er drückte das Opernglas zusammen und lachte still vor sich hin, richtete wieder die Gläser und spähte der verschwundenen Gestalt nach, schüttelte mit dem Kopf und verfiel in ein tiefes Sinnen. Da, horch, der ruhige Schritt zweier Lustwandelnden. Der Professor und Ilse traten in seiner Nähe aus dem Holz, sie blieben einige Schritte von der Bank stehen und sahen auf einen verhängnisvollen Strauß, welcher recht unschuldig dalag. Der Doktor brach lachend aus dem Gebüsch, er nahm den Strauß und bot ihn Ilse an. »Es ist nicht der Student,« sagte er.

»Wer also?« fragte der Professor unruhig.

»Das darf ich nicht sagen,« versetzte der Doktor, »aber die Sache ist harmlos, der Strauß ist von einer Dame.«

»Im Ernst?« fragte der Professor.

»Verlaß dich darauf,« tröstete Fritz überzeugend, »er ist von jemand, den wir beide kennen. Und deine Frau darf keinen Augenblick anstehen, sich den Gruß gefallen zu lassen, er ist in bester Meinung gegeben.«

»Sind die Städter so reich an Versen und Geheimnissen?« fragte Ilse neugierig und nahm mit leichtem Herzen die Blumen. Wieder wurde geraten, leider fand sich kein Mensch, dem man dergleichen zutrauen konnte. »Es ist mir lieb, daß sich die Sache so löst,« sprach der Professor, »doch sage deiner Dichterin, daß solche Sendung sehr leicht in falsche Hände kommen kann.«

»Ich habe keinen Einfluß auf sie,« erwiderte der Doktor, »aber weshalb sie sich diese Grüße auch in den Kopf gesetzt hat, es wird euch nicht ewig Geheimnis bleiben.«

Endlich kam die heißersehnte Stunde, in welcher Laura mit der hohen Fremden – so wurde Ilse bis zu diesem Tage in den Memoiren bezeichnet – ohne Beobachter zusammentraf. Die Mutter war ausgegangen, als Ilse mit einer häuslichen Frage in das Wohnzimmer trat. Laura gab Auskunft, wurde im Reden herzhaft und wagte endlich die Bitte, daß Ilse mit ihr in den Hausgarten hinabsteigen möchte. Dort saßen beide nebeneinander in dem letzten Strahl der Oktobersonne und begutachteten mild den Kahn, den chinesischen Tempel und die Vorübergehenden. Endlich faßte Laura mit den Fingerspitzen Ilses Hand und zog sie in die Gartenecke, um ihr die größte Seltenheit, das verlassene Nest eines Zaunschlüpfers, zu zeigen. Die Vögel waren längst entflogen, das Gewebe hing an halbentlaubten Ästen. »Hier waren sie,« rief Laura nachdrücklich; »himmlische kleine Wesen, fünf gesprenkelte Eier lagen darin, und sie haben die Kleinen glücklich heraufgebracht. Ich stand die ganze Zeit Todesangst aus wegen der Katzen, die hier sehr umherschleichen.«

»Sie sind ein liebes Stadtkind,« sagte Ilse. »Ach, die Menschen sind hier glücklich, wenn sie nur einen armen Plattmönch im Garten erhalten. Zu Hause schwirrte, flog und sang das von allen Bäumen, und wenn's nicht etwas Besonderes war, konnte man sich gar nicht um das einzelne kümmern. Hier wird einem jedes Tierchen wertvoll und wehmütig. Zuletzt auch die Sperlinge. Ich bin am ersten Morgen erschrocken über diese armen Geschöpfe. Sie sind ihren Kameraden draußen gar nicht zu vergleichen, so struppig und abgestoßen sind ihre Federn, und am ganzen Leibe sind sie schwarz und rußig wie Kohlenbrenner. Ich hätte gern einen Schwamm genommen und die ganze Bande abgewaschen.«

»Es würde nichts helfen, denn sie werden gleich wieder angemalt,« sagte Laura kleinlaut, »das macht der Ruß in den Dachrinnen.«

»Wird man in der Stadt so verstäubt und von allen Seiten gestoßen? Das ist traurig. Es ist doch schöner auf dem Lande,« und als Ilse das leise gestand, wurden ihr bei dem Gedanken an den fernen Waldhügel wider Willen die Augen feucht. »Ich bin nur noch fremd hier,« setzte sie mutiger hinzu. »Die Stadt wäre schon gut, wenn nur nicht gar zu viel Menschen darin wären, die kränken mich noch mit ihrem Anstarren, so oft ich allein auf der Straße gehe.«

»Ich will Sie begleiten,« rief Laura hingerissen, »wenn Sie wollen, ich will immer bereit sein.«

Das war ein freundliches Anerbieten, und es wurde dankbar angenommen. Und Laura bat in ihrer Freude darüber, daß Ilse sie jetzt auch in ihr Geheimzimmer begleite. Sie stiegen in den Oberstock hinauf. Dort wurde das kleine Sofa, der Efeu, Schäfer und Schäferin bewundert, zuletzt das neue Fortepiano.

»Spielen Sie mir etwas vor,« bat Ilse. »Ich kann nichts. Wir hatten ein altes Klavier, da habe ich nur wenig Takte von meiner lieben Mutter gelernt, wenn die Kinder tanzten.« Laura ergriff ein schönes Notenheft, dessen erstes Blatt kunstvoll mit vergoldeten Elfen und Lilien geziert war, und spielte innerlich bebend, aber mit hübscher Fingerfertigkeit das Elfenstück herunter. Und sie erklärte lachend und ihre dunkeln Löckchen schüttelnd die Stellen, wo die Geister angehuscht kamen und geheimnisvoll durcheinander schwatzten. Ilse war hoch erfreut. »Wie schnell die kleinen Finger fliegen!« sagte sie und betrachtete mit Bewunderung die feine Hand Lauras, »sehen Sie, wie groß meine Hand dagegen ist, und wie hart die Haut, das kommt vom Anfassen in der Wirtschaft.« Und Laura sah bittend zu ihr auf: »Wenn ich nur Sie singen hörte.«

»Ich vermag nichts als Gesangbuchlieder und ein paar alte Dorfmelodien.«

»O singen Sie doch,« bat Laura, »ich will Sie zu begleiten suchen.«

Ilse begann eine alte Weise, und Laura suchte eine bescheidene Begleitung und horchte hingerissen auf den kräftigen Klang der Stimme, sie fühlte ihr Herz in den Tonwellen zittern und wagte beim letzten Vers leise einzustimmen.

Sofort suchte sie nach einem Liede, das beide kannten, und als der gemeinsame Gesang so ziemlich gelungen war, klatschte Laura begeistert in die Hände, und es wurde der Beschluß gefaßt, ein oder das andere Lied einzuüben und den Professor damit zu überraschen.

Dabei ergab sich, daß Ilse nur selten ein kleines Konzert gehört und nur einige Male auf Reisen in ihrer Umgegend ein Schauspiel gesehen hatte, und nicht mehr als eine Oper.

»Das Stück hieß der Freischütz,« sagte Ilse. »Sie war des Oberförsters Tochter, und sie hatte eine Freundin, geradeso lustig und mit solchen hübschen Locken und treuen Augen, wie Sie haben. Und der Mann, den sie liebte, verlor sein Vertrauen auf des Himmels gnadenvollen Schutz, und um das Mädchen für sich zu erhalten, verleugnete er, und gab sich dem Bösen. Das war fürchterlich. Ihr wurde das Herz schwer, und die Ahnung kam über sie, aber sie verlor nicht die Kraft und nicht das Vertrauen zu der Hilfe von oben. Und ihr Glaube rettete den Geliebten, über den der Böse schon seine Hand hielt.« Darauf schilderte sie getreulich den ganzen Verlauf des Stückes. »Es war hinreißend,« sagte sie, »ich war damals noch jung, und als ich in unser Quartier kam, konnte ich mich nicht fassen, und der Vater mußte mich schelten.« Laura lauschte auf dem Fußbänkchen zu Ilses Füßen, hielt die Hand der Professorin fest, ließ sich wie ein kleines Kind, das ein Märchen hört, erzählen, was sie doch so gut wußte, und die Fremde war ihr unendlich rührend. »Wie warm Sie das schildern, es ist, als ob man ein Gedicht liest.«

»Ach nein,« erwiderte Ilse kopfschüttelnd, »gerade diese Artigkeit verdiene ich am wenigsten, ich habe in meinem ganzen Leben keinen Vers gemacht, und ich bin so prosaisch, daß ich gar nicht weiß, wie ich mit meinem ungeschickten Wesen in der Stadt zurechtkommen werde. Denn hier macht man Verse! Sie summen um einen in der Luft wie die Mücken im Sommer.«

»Meinen Sie?« fragte Laura, das Köpfchen senkend.

»Denken Sie, auch ich Fremde habe Verse erhalten.«

»Das finde ich natürlich,« sagte Laura und drückte ihr Taschentuch in Falten, um die Verwirrung zu verbergen.

»Auf der Bank im Park habe ich kleine Sträuße gefunden mit lieben kleinen Gedichten, und den Namen meiner Heimat mit Buchstaben und Punkten. Sehen Sie, erst ein großes B und dann –«

Laura sah in ihrem Entzücken über den Bericht vom Taschentuch auf, ihre Wangen waren mit Purpur übergossen, aber aus den Augen lachte der Schelm. Ilse blickte in das strahlende Gesicht, und während sie sprach, erriet sie die Geberin. Da beugte sich Laura auf Ilses Hand, sie zu küssen, Ilse aber hob ihr den Lockenkopf in die Höhe, drohte ihr mit dem Finger und küßte sie auf den Mund.

»Sie sind mir nicht böse,« bat Laura, »daß ich so dreist war.«

»Es war lieb und schön. Aber denken Sie, es hat uns doch in Verwirrung gesetzt, der Doktor hat Sie wohl beobachtet, aber er hat uns Ihren Namen nicht genannt.«

»Der Doktor?« rief Laura aufspringend, »muß der überall dazwischen kommen.«

»Er hat Ihr Geheimnis treu bewahrt. Nicht wahr, jetzt darf ich meinem Hausherrn alles sagen? Denn unter uns, ihm war's eine Zeitlang gar nicht recht.«

Das war nun für Laura ein Triumph. Wieder flog sie zu Ilses Füßen und bat schelmisch, zu erzählen, was der Herr Professor gesagt.

»Das geht nicht an,« entgegnete Ilse gravitätisch, »denn das ist sein Geheimnis.«

So schwand eine Stunde in süßem Geplauder, bis die Uhr schlug und Ilse schnell aufstand. »Mein Mann wird sich wundern, wohin ich verschwunden bin,« sagte sie, »Sie sind ein liebes Fräulein, ist's Ihnen recht, so wollen wir treu zusammenhalten.«

Ach, Laura war das sehr recht, sie begleitete ihren Besuch bis zur Treppe, auf den Stufen fand Laura, daß sie eine Hauptsache vergessen hatte, ihre Stube lag gerade über dem Zimmer der Frau Professorin, und wenn Ilse das Fenster öffnete, konnte sie im Notfall der Hausgenossin schnelle Nachricht hinaufwinken. Und als Ilse an ihrer Tür schloß, kam Laura noch einmal herabgelaufen, um ihre Freude auszusprechen, daß Ilse ihr diese Stunde geschenkt habe.

Laura ging in ihrem Zimmer mit schnellen Schritten auf und ab und schnippte mit den Fingern, wie einer, der das große Los gewonnen hat. Sie vertraute dem geheimen Werke die ganze Weihestunde an, jedes Wort, das Ilse gesprochen, und schloß mit den Versen: »Ich fand dich, Reine! Leben wird mein Traum. Dir schwebt die Seele zwischen Freud' und Schmerzen, ich aber rühr' an deines Kleides Saum und trage liebend dich in meinem Herzen.« Dann setzte sie sich an das Piano und spielte noch einmal mit leidenschaftlichem Ausdruck die Melodie, welche Ilse ihr vorgesungen hatte. Und Ilse hörte unten den innigen Dank für ihren Besuch.


 << zurück weiter >>