Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Elftes Kapitel

Der Obersthofmeister

Zu derselben Stunde, in welcher Ilse den tröstenden Worten ihres Hauswirts lauschte, fuhr der Wagen des Obersthofmeisters an das Turmschloß der Prinzessin. Erstaunt hörte die Prinzessin die Meldung des Dieners und flog in ihr Empfangzimmer hinab. Der Professor ließ die Truhe mit ihrem Inhalt in sein Zimmer schaffen und hatte sich eben über die Handschrift gebeugt, als der Hofmarschall eintrat, um seines Auftrags ledig zu werden.

Unterdes erwartete die Prinzeß den alten Herrn.

Das Amt des Obersthofmeisters teilte ihm den Ehrendienst bei der Prinzessin zu, es galt für eine achtungsvolle Entfernung von der Person des Fürsten. An dem Flügel des Schlosses, den die Prinzessin bewohnte, sah man seinen Wagen jeden Morgen zu derselben Stunde vorfahren. Sein persönliches Verhältnis zu der jungen Herrin schien kühl, in Hofgesellschaften wurde er von ihr, nur soweit schicklich war, ausgezeichnet, die Bittsteller erfuhren zuweilen, daß ihre Gesuche ihm mitgeteilt waren. In der Stadt galt er für einen gutherzigen Mann, er wurde wegen seiner Wohltätigkeit von den Bürgern mit Achtung betrachtet und war der einzige unter den Herren des Hofes, über welchen nie ein abgeneigtes Urteil laut wurde. Er wohnte in einem altfränkischen Hause, von Gärten umgeben, war unverheiratet und lebte als reicher Mann, ohne nahe Verwandte, still vor sich hin. Er war, wie man annahm, ohne regelmäßigen Einfluß, er stand nicht in Gunst und wurde deshalb von den jüngeren Kavalieren mit ritterlicher Achtung behandelt. Trotzdem war er dem Fürsten und Hofe unentbehrlich. Er war der Großwürdenträger, notwendig für die Repräsentation, er war Ratgeber in Familienangelegenheiten, Gesandter und Begleiter bei feierlichen Staatshandlungen. Denn er war von früher an den meisten Höfen Europas wohl bekannt, hatte Verbindungen in der großen Diplomatie, er genoß die besondere Gnade einiger auswärtiger Herrscher, an deren gutem Willen dem Fürsten gelegen sein mußte, und da bei unseren Höfen die Meinung, die ein Hofmann in der Fremde genießt, auch für das Urteil des Schlosses maßgebend zu sein pflegt, so machte den Obersthofmeister der Briefwechsel, in dem er mit den Leitern auswärtiger Politik stehen sollte, und die reiche Auswahl, welche ihm unter breiten Bändern freistand, für den Fürsten selbst zu einer Autorität, welche ebenso lästig als schätzenswert war, für den Hof aber zum stillen Berater und zur letzten Zuflucht in schwierigen Fragen.

Jetzt öffnete dem alten Herrn der Diener mit tiefer Verbeugung die Tür zum Empfangsraum der Prinzessin. Gleichgültige Fragen und Antworten wurden gewechselt, dann trat die Prinzessin in das Nebenzimmer und forderte ihre treue Kammerfrau durch einen Wink auf, vorn Wache zu halten. Als die Unterredung vor dem Ohr jedes Lauschers gesichert war, änderte sich die Haltung der Prinzessin, sie eilte auf den alten Herrn zu und sah ihm fragend in das ernste Gesicht: »Ist etwas vorgefallen? Nichts Kleines hat Sie veranlaßt, sich hierher in die Wildnis zu bemühen. Was haben Sie Ihrem Töchterchen zu sagen? ist es Lob oder sind es Schelte?«

»Ich erfülle nur meine Pflicht,« versetzte der alte Herr, »wenn ich mich einstelle, um Ew. Hoheit Befehle entgegenzunehmen und nachzusehen, ob der Aufenthalt meiner gnädigsten Herrin schicklich vorgerichtet ist.«

»Exzellenz kommen zu schelten,« rief die Prinzessin zurücktretend, »denn Sie haben kein freundliches Wort für Ihr kleines Weibchen.«

Der Obersthofmeister neigte entschuldigend das weiße Haupt. »Wenn ich Ew. Hoheit ernster erscheine als sonst, so sind es vielleicht nur die Grillen eines alten Mannes, welche sich zu ungelegener Zeit eingestellt haben. Ich bitte um Erlaubnis, mich durch Ew. Hoheit Anblick davon zu befreien. Die leidende Gesundheit des Fürsten legt uns allen Sorge auf, sie mahnt an die Vergänglichkeit jedes Lebens. Selbst der guten Laune des Prinzen Viktor gelang nicht, mich von trüben Gedanken zu lösen.«

»Wie geht es dem Vetter?« fragte die Prinzessin leicht.

»Er überwindet die Schwierigkeit, ein Prinz zu sein, in seiner wunderlichen Weise,« erwiderte der Obersthofmeister, »aber es ist ein tüchtiger Kern in ihm, er vermag wohl ernste Sachen klug zu behandeln. Mich freut,« setzte der Hofmann hinzu, »daß meine gnädigste Herrin warm für einen Verwandten empfindet, der Höchstderselben treu ergeben ist.«

»Er war gegen mich stets nett und zuverlässig,« sagte die Prinzessin obenhin. »Jetzt aber haben Sie mich hart genug gestraft. Was Sie mir zu sagen haben, darf zwischen uns beiden nicht so verhandelt werden.« Sie faßte einen Sessel und schob ihn in die Mitte der Stube. »Hier sitzen Sie nieder, mein würdiger Herr, und mir erlauben Sie, daß ich die Hand des Freundes fasse, wenn er mir sagt, was ihm um meinetwillen Sorge macht.« Sie rückte sich ein niedriges Taburett herzu, hielt mit beiden Händen die Rechte des alten Herrn und sah ihm spähend in die Augen. »Hoheit kennen das Mittel, mir zu dreister Bitte Mut zu machen,« sagte der Hofmann lächelnd.

»So ist's besser,« rief die Prinzessin erleichtert, »ich höre die Stimme und ich halte die Hand, denen ich am liebsten vertraue.«

»Ich aber wünsche Ew. Hoheit eine stärkere und nähere Stütze als mich selbst,« begann der alte Herr ernsthaft.

Die Prinzessin fuhr in die Höhe. »Das also war's, was Exzellenz zu dieser Reise bestimmte?« rief sie ängstlich.

»Das war die Sorge, welche mich beschäftigte. Es ist nichts weiter als eine Ansicht,« entschuldigte der Obersthofmeister, sein Haupt neigend.

»Und das soll mich ruhiger machen?« rief die Prinzessin. »Was hat mir bis jetzt die Möglichkeit geschafft, zu leben, als Ew. Exzellenz Ansichten?«

»Da Ew. Hoheit, noch in der Witwentrauer, zur Heimat gefordert wurden, war mir der Wunsch des Fürsten willkommen, weil ich dadurch das Recht erhielt, dies Gespräch mit Ew. Hoheit zu führen.« Er wies mit seiner Handbewegung auf den Sitz, die Prinzessin eilte wieder an seine Seite. »Auch jetzt, wo ich Ew. Hoheit vor mir sehe in dem heitern Glanz der Jugend, überreich ausgestattet, andere zu beglücken und des besten Glückes teilhaftig zu werden, vermag ich den Gedanken nicht abzuwehren, daß Ihnen unrecht ist, auf die Freuden des Hauses zu verzichten.«

»Ich habe dies Glück genossen und habe es verloren,« rief die Prinzessin. »Jetzt bin ich vertraut mit dem Gedanken, manchem zu entsagen. Ich suche nur dafür eine Entschädigung, welche auch Sie nicht für unwürdig halten.«

»Es ist ein Unterschied zwischen uns von mehr als fünfzig Jahren,« sagte der alte Herr. »Was mir, dem unbedeutenden Manne, freisteht, das wird der Tochter des hohen Geschlechtes nicht ebenso leicht gestattet. Ich bitte meine geliebte Herrin um Erlaubnis,« fuhr er mit leiser Stimme fort, »heut an den Vorhang zu rühren, welcher ein finsteres Bild aus Ihrer frühen Jugend verhüllt. Sie waren Zeugin der Szene, welche den Fürsten von Ihrer erlauchten Mutter schied.«

»Es ist eine dunkle Erinnerung,« flüsterte die Prinzessin, ängstlich zu dem alten Herrn aufsehend, »die Mutter machte dem Fürsten Vorwürfe, es war etwas über den unseligen Pavillon. Der Fürst geriet in eine Aufregung, die furchtbar war. Ich, das kleine Mädchen, lief herzu und umschlang das Knie der Mutter, er schleuderte mich fort –« die Prinzeß verhüllte die Augen. Der alte Herr machte eine abwehrende Bewegung und erwiderte ablenkend: »Die Nachwirkung dieses Ereignisses wurde verderblich für das Leben einer edeln Frau, aber auch für Sie selbst. Damals äußerte sich zuerst die krankhafte Reizbarkeit des Fürsten, welche seitdem seine Stimmung verdüstert. Von jener Stunde sieht der Fürst in Ihnen eine lebendige Zeugin dessen, was er selbst als seine Krankheit und seine Schuld empfindet. Er hat sich jahrelang gemüht, Ihnen durch Güte und Aufmerksamkeit jenen Eindruck zu verwischen, er hat nie geglaubt, daß ihm das gelungen ist. Scham, Argwohn, Furcht haben ihm stets wieder das Verhältnis zu Ihnen verdorben. Er will Sie nicht von sich lassen, weil er fürchtet, daß Ihr Vertrauen einem andern Menschen verraten konnte, was er selbst sich zu bergen bemüht ist. Er hat widerwillig der ersten Werbung nachgegeben, er wird auch eine zweite sehr unfreundlich empfangen, denn er wünscht nicht, Ew. Hoheit wiedervermählt zu sehen. Wohl aber freut er sich in den Stunden, wo über seinem ungewöhnlichen Geist finstere Wolken liegen, des Gedankens, daß Ew. Hoheit das Recht verlieren könnten, ihm in der Stille Vorwürfe zu machen. In ihm nagt, daß er die fürstliche Würde seiner Gemahlin tödlich gekränkt hat, ihn beschäftigt jetzt der Gedanke, daß auch Ew. Hoheit über andern Verhältnissen vergessen könnten, was Beruf einer Fürstin ist.«

»Er hofft vergebens,« rief die Prinzessin außer sich. »Nie wird eine unwürdige Leidenschaft mich vor seine Füße werfen; nicht umsonst bin ich das Kind Ihrer Sorge gewesen.«

»Was ist unwürdig für eine Fürstin?« fragte der Obersthofmeister nachdenkend. »Daß Ew. Hoheit sich frei erhalten von den kleinen Passionen, welche bei der Quadrille eines Maskenballes aufflattern, davon ist man überzeugt. Aber auch das geistvolle Spiel mit schönen und großen Interessen vermag einer Frau das Leben zu stören. Leicht hängt sich Schwärmerei an den feinsten geistigen Genuß, mehr als einmal ist ein Weib gerade da in der größten Gefahr gewesen, wo sie, von außen kräftig angeregt, sich höher, freier, edler fühlte als sonst. Es ist schwer, eine entzückende Musik zu hören und dem Künstler, der sie uns geschaffen, warme Teilnahme zu versagen.«

Die Prinzessin sah vor sich nieder.

»Gesetzt den Fall,« fuhr der Obersthofmeister fort, »daß ein Kranker in galliger Laune so grübelte und für solchen Zweck handelte, die Gesunde würde sich wohl hüten, ihm den Willen zu tun.«

»Sie würde sich aber auch nicht stören lassen in dem, was sie für Ehre und Reichtum ihres Lebens hält,« rief die Prinzessin, zu dem Alten aufsehend.

»Gewiß nicht,« versetzte dieser, »wenn solche Güter in der Tat durch die spielende Hingabe einer Frau an Kunst oder Wissenschaft zu erwerben sind. Am schwersten wird eine Fürstin dabei Befriedigung finden. Niemand verdenkt einer Frau aus dem Volke, wenn sie eine große Begabung zum Lebensberuf macht; vermag sie, als Sängerin oder Malerin sich zu befriedigen und anderen zu gefallen, so lacht ihr alle Welt freudig entgegen. Wenn aber meine gnädigste Prinzessin ihre schöne musikalische Anlage benutzen wollte, öffentliche Konzerte zu geben, weshalb würden die Menschen darüber die Achseln zucken? Nicht, weil Ew. Hoheit Talent geringer ist als das einer andern Künstlerin, sondern weil man Ihrem Leben andere Aufgaben zuteilt. Die Nation stellt an ihre Fürsten sehr bestimmte ideale Forderungen. Wenn leider den fürstlichen Herren unserer Zeit nicht leicht wird, diesen Idealen zu entsprechen, für die Frauen der erlauchten Geschlechter macht die ernste Richtung der Gegenwart dies eher möglich als in meiner Jugend. Eine Fürstin unseres Volkes soll das edle Vorbild einer guten Hausfrau sein, nichts mehr, nichts anderes. Treu und wohltuend und fest gegen ihren Gatten, sorgfältig in den Pflichten des Tages, warmherzig gegen Bedürftige, gütig und teilnehmend gegen alle, denen der Vorzug wird, ihr zu nahen. Hat sie Geist, sie soll sich hüten zu glänzen, hat sie Talent für die Geschäfte, sie soll sich wahren, eine Intrigantin zu werden. Sogar die schöne Meisterschaft geselliger Tugenden wird sie mit größter Bescheidenheit üben. Wohlgewogenes Gleichgewicht der weiblichen Vorzüge ist der beste Schmuck einer Fürstin, ihre höchste Ehre, daß sie liebenswerter und besser ist als die andern, ohne daß man darüber erstaunt, in allem gut und tüchtig, nach keiner Richtung anspruchsvoll. Denn sie steht zu hoch, um für sich zu begehren und zu erobern.«

Die Prinzessin saß neben dem Sprechenden, das Haupt auf den Arm gestützt, sie sah traurig vor sich hin.

»Meine teure Fürstin hört dergleichen nicht zum erstenmal aus meinem Munde. Oft habe ich um die Gefahr gesorgt, welche Ihnen ein hochfliegender Geist und die behende Einbildungskraft bereiten, das Wiegengeschenk einer neidischen Fee, welche Ew. Hoheit zu glänzend und verführerisch machte. Denn diese herrliche Begabung trägt die Schuld, daß Sie keine vornehme Natur sind, wie Ihr erlauchter Bruder, der Erbprinz. Zu lebhaft ist das Bedürfnis, sich geltend zu machen und auf andere zu wirken. Den Bruder durfte man mit vollem Vertrauen seiner guten Art überlassen, jedes Einreden in seine Seele war bei dem vielgeplagten Kinde vom Übel. Die reiche Künstlernatur aber, welche mit so großen Augen auf mich sieht, habe ich stets vor einer feinen Koketterie der Empfindung zu schützen gesucht. Ich bin jetzt ein harter Mahner an hohe Pflichten, weil ich Gefahren ahne, welche diese eroberungslustige Seele über sich und andere heraufbeschwört.«

»Ich höre aus liebevollen Worten einen harten Vorwurf,« erwiderte die Prinzessin gehalten. »Ich soll mich vermählen – um vornehm zu werden.«

»Meiner lieben Hoheit wünsche ich, daß sie dieses große Ziel erreiche als Hausfrau eines Gemahls, der Ihrer Hingabe nicht unwert ist. Nur auf diesem Wege darf eine Fürstin wahres Glück erwarten. Auch dies Glück wird nicht ohne Entsagung erworben, ich weiß es, jedem ist schwer, sich selbst zu beschränken, wer im Purpur geboren ist, übt diese Tugend zehnmal schwerer als ein anderer. Verzeihung,« fuhr er fort, »ich bin geschwätzig geworden, wie uns Alten vom Hofe zuweilen begegnet.«

»Nicht zuviel hat mir mein Freund gesagt, noch zuwenig,« rief die Prinzessin bewegt. »Mir ist der Gedanke lieb geworden, still vor mich hinzuleben, umgeben von Männern, die mich das Höchste lehren, was eine Frau zu erwerben vermag. Auch auf diesem Wege finde ich zarte Pflichten, edle Bande, welche mich mit den Besten vereinen, auch ein solches Leben ist einer Fürstin nicht unwert; mehr als eine hat in früherer Zeit dies Los gewählt, und die Nachwelt denkt ihrer mit Achtung.«

»Ew. Hoheit meint nicht Königin Christine von Schweden,« versetzte der Obersthofmeister. »Aber auch anderen war solche Wahl selten zum Heil. Denn Ew. Hoheit erwäge, wenn eine Fürstin sich mit weisen Männern umgibt, sie meint dabei immer einen Mann, der ihr der weiseste ist.«

Die Prinzessin schwieg und sah vor sich hin.

»Wir haben lange der Fürstinnen gedacht,« begann der alte Herr, »man darf auch das Schicksal der Männer beachten, welche durch zarte Bande an das Leben einer erlauchten Frau geschlossen werden. Gesetzt, es gelänge, einen Freund zu finden, der ohne unziemliches Fordern mit Selbstverleugnung und völliger Ergebenheit sein Leben den bewegten und wechselvollen Tagen einer Fürstin widmet: viel muß er aufopfern und entbehren. Recht des Mannes ist, daß das Weib sich ihm hingibt; hier soll ein Mann die Kraft, ja auch die Leidenschaft seiner Natur in Fesseln legen für eine Frau, welche nicht ihm gehört, der er nur vorsichtig in einzelnen Stunden nahen darf wie der Freund dem Freunde, die ihn selbst betrachtet als eine gewiß sehr wertvolle Habe, zuerst als schönen Schmuck, zuletzt im besten Fall als nützliches Hausgerät. Am schlechtesten steht auf diesem Posten der Künstler, der Gelehrte, ich habe immer vor solchem wandelnden Konversationslexikon eines fürstlichen Haushalts Bedauern gefühlt. Auch große Talente gleichen dann den Philosophen des alten Roms, welche mit langem Bart und dem Mantel ihrer Schule im Schweif einer vornehmen Dame durch die Straßen zogen.«

Die Prinzessin stand auf und wandte sich ab.

»Besser allerdings ist die Lage des Mannes,« schloß der Obersthofmeister, »dem seine Persönlichkeit gestattet, das ganze Leben seiner hohen Freundin durch stille Arbeit zu leiten. Aber auch er muß nicht nur selbst das Schönste missen, er wird auch seiner Herrin beim reinsten Willen nicht immer ein Glück sein. Wer mehr sein will als ein treuer Diener, der vermindert die Sicherheit seiner Herrin. Wird solche ritterliche Hingabe angeboten, so mag ein edles Weib zögern, sie anzunehmen; sie hervorzulocken, ziemt einer Fürstin nicht.«

Der Prinzessin stürzten die Tränen aus den Augen, sie wandte sich schnell dem Alten zu. »Ich kenne ein solches Leben,« rief sie, »das in unaufhörlicher Selbstverleugnung drei Frauen unseres Hauses zum Segen war. O mein Vater, ich weiß wohl, was Sie uns gewesen sind, haben Sie Geduld mit Ihrem armen Pflegekinde, ich ringe gegen Ihre Worte, es wird mir schwer, ihnen mein Ohr zu öffnen, und doch weiß ich, Sie sind der einzige sichere Halt, den ich bis jetzt im Leben gehabt habe, Ihre Mahnung der einzige Zuruf, der meine Jugend vor dem Verderben bewahrte.« Wieder faßte sie seine Hand, und ihr Haupt sank an seine Schulter.

»Ich habe Ihre Großmutter geliebt,« erwiderte der alte Herr mit zitternder Stimme, »es war in einer Zeit, wo dergleichen leichtherzig aufgefaßt wurde, ein reines Verhältnis, ich habe für sie gelebt, ich habe ihr täglich entsagt; sie war doch unglücklich, denn sie war Gemahlin eines andern Mannes, und gerade die heiligsten Pflichten wurden ihr durch mein Leben erschwert. Ich habe Ihre Mutter als sorglicher Diener behütet, ich habe doch nicht verhindert, daß sie unglücklich wurde und in dem Gefühl ihres Elends starb. Jetzt halte ich das dritte Geschlecht an meinem Herzen und ich möchte, bevor ich von hier scheide, daß mein Leben und das Leiden der Mütter Ihnen zur Lehre sei. Habe ich je für Sie gesorgt, so tue ich es jetzt, hat mein liebes Kind je aus meinen Worten das Herz eines väterlichen Freundes gefühlt, so soll sie jetzt meinen Rat nicht gering achten, wie nüchtern er auch glänzende Träume störe.«

»Ich will Ihrer Worte denken,« rief die Prinzessin, »ich will mich mühen, zu entsagen, aber, Vater, mein gütiger Vater, es wird mir schwer.«

Der alte Herr rückte sich schnell zusammen und unterbrach ihre Worte. »Es ist genug,« sagte er in der Haltung seines Amtes, »Hoheit haben heut große Nachsicht gegen mich geübt, noch leben andere, welche auch ihren Anteil an höchster Huld begehren.«

Es klopfte an der Tür, die Kammerfrau trat ein. »Der Diener meldet, daß Fräulein Gotlinde und die Herren im Teezimmer harren.«

»Ich habe mit Sr. Exzellenz noch über Geschäfte zu sprechen,« antwortete die Prinzessin leise, »ich lasse Gotlinde bitten, bei unserm Gast meine Stelle zu vertreten.«

 

Der Abend lag über dem Turmschloß, die Fledermaus flatterte aus ihrem Schlupfwinkel in der geräumten Kammer, sie zog ihre Kreise im Hofraum des Schlosses und schnalzte verwundert, daß sie in einer leeren Behausung erwacht war. Die Eule flog in die Turmluke und suchte mit runden Augen nach der alten Stuhllehne, von der sie sonst auf die dummen Mäuse gelauert hatte, und die Totenuhr, die der Gelehrte aus der einsamen Kammer unter die lebenden Menschen hinabgetragen hatte, nagte und tickte auf der Treppe und in den Zimmern des Schlosses. Der Regen schlug an die Mauern und der Sturmwind heulte um den Turm. Das Weib des Gelehrten fuhr durch die Nacht flüchtig wie ein gehetztes Wild, er aber schritt noch in seinem Zimmer auf und ab und formte träumend aus den gefundenen Blättern die ganze verlorene Handschrift. Und wieder wunderte er sich, daß sie ganz anders aussah, als er seit Jahren gedacht hatte.

Auch um das Fürstenschloß in der Residenz heulte der Wind und große Regentropfen schlugen an die Fenster, auch dort tobten die Gewalten der Natur und forderten Zugang in die feste Burg der Menschen. Säle und geschmückte Zimmer füllte das Dunkel der Nacht wie ein finsterer Rauch, nur die Laternen aus den Anlagen warfen ihren bleichen Schein durch die Fenster, er hing an den Hüllen der Kronleuchter und dem goldenen Zierat der Wände und machte die Öde der menschlichen Räume noch trauriger. Die Schloßuhr rief in melancholischem Schlage durch das Haus, daß die erste Stunde des neuen Tages gekommen sei. Dann wieder Stille, öde Stille überall. Zuweilen knisterte es in dem Parkett des Fußbodens, und durch eine geöffnete Scheibe blies der Zugwind in die Vorhänge, welche schwarz um die Fenster hingen wie Leichenschmuck, der aufgesteckt wird beim Begräbnis eines Hausgenossen. Hier und da schien ein spärlicher Strahl aus der Tiefe auf die Bilder an der Wand, dort hingen in der fremden Tracht ihrer Zeit die Ahnen des Fürstenhauses, und wenn bei Tage der Kastellan die neugierigen Fremden durch die Säle geleitete, dann nannte er ihre Namen und sprach die Worte des Lobes über sie, welche er eingelernt hatte. Viele Geschlechter hatten in diesen Räumen gehaust, stattliche Männer und schöne Frauen hatten sich hier im Reigen geschwungen, in goldenen Bechern war der Wein geflossen, gnädige Worte, festliche Rede und das leise Gemurmel der Liebe waren hier gehört worden, der Glanz jeder früheren Zeit war überboten durch reicheren Zierat der späteren. Alles aber war verschwunden und verweht, über den bunten Farben lag die Schwärze der Nacht und des Todes. Die sich einst hier verbeugt und des bunten Gewühls geladener Gäste gefreut, sie alle waren hinabgestiegen zur Tiefe, nichts war geblieben in dieser Stunde als traurige Leere und unheimliche Stille und eine einzelne Gestalt, welche geräuschlos wie ein Geist auf dem glatten Boden dahinschlich. Es war der Herr dieses Schlosses. Das Haupt vorgebeugt wie im Traume, ging er bei den Bildern seiner Ahnen vorüber.

»Das scheue Reh entlief,« flüsterte er, »der Panther sprang zu kurz, heulend schleicht er, das Haupt gesenkt, in seine Kluft zurück. Die große Katze konnte ihre Krallen nicht bergen. Die Jagd ist aus, es ist Zeit, den Hammer dieser Brust in Ruhe zu setzen.

»Es war nur ein Weib, ein kleines, unbekanntes Menschenleben, aber die Gaunerin Phantasie hat meine Sinne an ihren Leib gebunden, ihr allein gehört, was ich von Wärme und Hingabe für das Menschenvolk übrig habe.« Er blieb vor einem Bilde stehen, auf welches das trübe Licht einer gedämpften Lampe fiel. »Du Alter im Harnisch weißt, wie einem ums Herz ist, der flüchtig von Haus und Hof zieht und seinem Feind überlassen muß, was ihm lieb war. Als du aus dem Schlosse deiner Väter eiltest, ein heimatloser Flüchtling, verfolgt von der Meute fremder Söldner, da war dir elend zumute und du warfst einen wilden Fluch hinter dich. Ärmer fühlt sich dein Enkel, der jetzt flüchtig durch das Erbe gleitet, das du ihm hinterlassen, dir blieb die Hoffnung im harten Herzen, ich habe heut alles verloren, wofür zu atmen der Mühe lohnt. Sie ist meinen Wächtern entflohen. Wohin? Auf den Stein zu ihrem Vater! Fluch der Stunde, wo ich selbst, durch ihre Worte getäuscht, den Knaben in ihre Berge sandte.«

Er schlich weiter. »Die dritte Station auf dem Wege zum Ende,« grübelte er, »ist eitles und nichtiges Spiel und bubenhafte Tücke. So sagte der gelehrte Pedant. Es traf ein, ich bin entstellt zu einem kindischen Zerrbild meiner Natur. Kläglich ist das Geflecht des Netzes, welches ich um ihre Glieder legte, fester Wille vermochte es im Augenblick zu zerreißen. Er hatte recht, knabenhaft war das Spiel. Durch einen Federbart wollte ich ihn festhalten, und bevor noch die Kunst des Magisters ihre Wirkung getan, störte ich mir selbst den Erfolg durch die zitternde Hast meiner Leidenschaft. Wenn ihm die Kunde kommt, daß sein Weib entflohen, dann schnürt auch er seine Bücher und höhnt mich in sicherer Ferne. Schlechter Spieler, der an die Spielbank trat mit gutem Vorsatz, Stück um Stück auf das grüne Tuch zu setzen, und der im Wahnsinn den Beutel hinwarf und durch eine Kugel alles verlor. Fluch über ihn und mich! Er darf nicht von mir, er darf sie nicht sehen. Doch was nützt ihn zu halten, wenn ich nicht seine Glieder in Eisen schmiede oder seinen Leib da unten berge, wo wir alle geborgen werden, wenn die andern Macht erhalten, sich unser zu entledigen. Du lügst, Professor, wenn du mich deinen alten Kaisern vergleichst. Mir graut bei dem Gedanken an Dinge, die jene lachend taten, und mein Hirn weigert sich zu denken, was einst ein kurzer Wink der Hand befahl.

»Eine Kugel und ein Würfel für zwei,« fuhr er fort, »das ist ein lustiges Spiel, von meinesgleichen erfunden. Wie's trifft, der eine fällt, der andere springt davon. Wir würfeln, Professor, wer von uns beiden dem Gegner diesen letzten Dienst erweist. Und ich werde dir zunicken, du Träumer, wenn ich der Glückliche bin, der zur Ruhe gebracht wird.

»Reicht dein Witz aus, Philosoph, dein Schicksal vorauszusehen, wie jenem alten Sterndeuter gelang, den dein Tiberius nach der eigenen Zukunft fragte? Laß uns versuchen, wie weise du bist.«

Er stand wieder still und sah unruhig auf die dunkeln Bilder. »Ihr schüttelt mit den Köpfen, ihr Alten an der Wand, mancher von euch hat getan, was andern leid wurde, ihr seid alle ehrenvoll eingesargt mit Trauermarschall und Leichenpferd, man hat Lieder gesungen euch zu Ehren und die Gelehrten haben lateinische Wehklagen geschmiedet und geseufzt, daß der goldene Regen aufhörte, der aus eurer Hand auf sie herabfiel. Dort steht einer von euch,« rief er und sah mit starrem Auge in einen Winkel, »dort schwebt der Wehegeist heran, der schwarze Schatten, der durch dieses Haus fährt, wenn das Unglück naht, die Schuld und die Buße. Es fährt dahin, die Narren zu schrecken, wesenlos, ein Spuk meiner kranken Laune. Ich sehe, wie es die Hand hebt, es scheucht, und mir graut vor der Malerei meines Gehirns. Hinweg,« rief er laut, »hinweg! Ich bin der Herr des Hauses!« Er lief durch die Zimmer und strauchelte, der schwarze Schatten eilte hinter ihm. Der Fürst stürzte auf den Fußboden.

Er rief laut nach Hilfe in dem öden Raum. Als der vertraute Diener aus dem Vorzimmer des Fürsten herzueilte, fand er seinen Herrn auf der Erde liegen. »Ich hörte einen gellenden Ruf,« rief der Fürst, sich wild erhebend, »wer hat geschrien über meinem Haupt?«

Der Diener versetzte zitternd: »Ich weiß nicht, wer es war, ich hörte den Ruf und eilte herbei.«

»Ich war es wohl selbst,« sagte der Fürst tonlos, »mich überkam die Schwäche.«

 

Am frühen Morgen rief der Professor den Kastellan und stürmte die Turmtreppe hinauf, er fuhr in der Kammer umher und rückte an Bohlen und Brettern, er fand manchen vergessenen Kasten, nicht den, welchen er suchte. Er ließ den Kastellan jeden Nebenraum des Schlosses öffnen, schritt durch die Böden und Keller, nirgend eine Spur. Er suchte bei dem Förster, welcher in einem Nebenhause wohnte, auch dieser wußte keine Auskunft zu geben. Als der Gelehrte wieder in sein Zimmer trat, legte er das Haupt auf seine Hände. Aber er schalt sich und bändigte sich. »Zu sehr habe ich die kühle Umsicht verloren, welche Fritz die höchste Tugend des Sammlers nennt. Gewöhne dich an den Gedanken, zu entsagen und prüfe ruhig die Hoffnung, welche noch dauert. Sei auch nicht undankbar für das wenige, das du gewonnen.« Aber ihm wurde schwer, bei den gefundenen Blättern zu verweilen, und er ging wieder sinnend auf und ab. Er hörte Stimmen im Hofe, eiliges Laufen in dem Gange, endlich meldete ein Lakai die Ankunft des Fürsten, und daß dieser den Professor beim Frühstück zu sehen wünsche.

An der Turmseite, welche der Morgensonne entgegenlag, war unter blühendem Gesträuch die Tafel gedeckt. Als der Professor unter das Dach trat, welches die Stelle vor Regen und Sonnenstrahlen schützte, fand er neben der Dienerschaft auch die Forstbeamten aufgestellt, und außer dem Marschall den Obersthofmeister, welcher unruhiger als der Professor die plötzliche Ankunft des Fürsten bedachte.

Der alte Herr näherte sich dem Gelehrten und sprach Gleichgültiges. »Wie lange gedenken Sie hier zu bleiben?« fragte er verbindlich.

»Ich werde um Erlaubnis bitten, in der nächsten Stunde nach der Stadt abzureisen, ich bin fertig.«

Es währte lange, bis die Herrschaften kamen. Als der Fürst aus der Tür trat, fiel sein leidendes Aussehen allen Anwesenden auf, seine Bewegungen waren hastig, die Züge verstört, die Blicke fuhren unstet über die Gesellschaft. Er wandte sich zuerst mit harter Frage an den Förster. »Wie durften Sie das widrige Geschrei der Dohlen am Turme leiden? Es war Ihre Sache, dort aufzuräumen.«

»Ihre Hoheit, die Frau Prinzessin, hatte im vorigen Sommer für die Vögel gebeten.«

»Mir ist der Ton unerträglich,« sagte der Fürst, »bringen Sie Gewehre und machen Sie sich bereit, einigemal darunterzuschießen.«

Da der Verbrauch von Jagdpulver zu den regelmäßigen Landfreuden des Hofes gehörte, und der Fürst auch in der Umgebung des Schlosses gern selbst einmal auf einen Raubvogel oder ein anderes lockendes Ziel sein Gewehr richtete, fand der Hof diesen Auftrag weniger hart als der Gelehrte.

Der Fürst wandte sich an den Obersthofmeister. »Ich bin überrascht, Exzellenz hier zu finden, ich wußte nicht, daß auch Sie sich für dies Stilleben Urlaub erteilt haben.«

»Mein gnädigster Herr dürfte überrascht sein, wenn ich meine Pflicht nicht getan hätte. Es war meine Absicht, Eurer Hoheit noch heute in der Residenz über das Befinden der Frau Prinzessin zu berichten.«

»Also darum!« bemerkte der Fürst spöttisch, »ich hatte vergessen, daß mein Obersthofmeister seines Wächteramtes nicht müde wird.«

»Ein Amt, das man fast ein halbes Jahrhundert im Dienst des erlauchten Hauses geübt hat, wird zur Gewohnheit,« erwiderte der Obersthofmeister. »Ew. Hoheit haben den Eifer eines Dieners, der sich gern nützlich machen möchte, sonst mit Nachsicht beurteilt.«

Der Fürst wandte sich an den Hofmarschall und fragte mit gedämpfter Stimme: »Will er bleiben?«

Der Hofmarschall versetzte gedrückt: »Es war kein Versprechen, nicht einmal ein Wunsch aus ihm zu holen.«

»Ich wußte es bereits,« unterbrach der Fürst rauh. Er kehrte sich zu dem Professor und zwang sich heftig zu freundlicher Miene, als er sagte: »Ich habe von meiner Tochter gehört, welchen Verlauf Ihr Feldzug gegen Stuhlbeine genommen hat. Ich wünsche darüber noch mit Ihnen allein zu sprechen.«

Man nahm Platz. Der Fürst starrte vor sich hin und trank einige Gläser Wein, auch die Prinzessin saß schweigend, es war eine einsilbige Unterhaltung. Nur der Obersthofmeister wurde gesprächig, er fragte nach einer Büste Winckelmanns und sprach von dem lebhaften Anteil, welchen die Nation jedem ungewöhnlichen Schicksal ihrer geistigen Führer zuwendet.

»Es muß doch ein angenehmes Gefühl sein,« sagte er verbindlich zum Professor, »gewissermaßen von der ganzen gebildeten Welt gehütet zu werden. In hundert Fällen vergeht das Privatleben unserer großen Gelehrten ohne besondere Ereignisse und doch beschäftigt sich unser Volk so gern mit dem Lebenslauf der Geschiedenen. Wen ein günstiger Zufall mit Herren Ihresgleichen in Berührung setzt, der mag sich vorsehen, daß er nicht unter den Händen später Biographen für alle Ewigkeit mit einem entstellenden Strich versehen wird. Ich gestehe,« fügte er lächelnd hinzu, »daß diese Scheu mich mancher lehrreichen Bekanntschaft beraubt hat.«

Der Professor erwiderte ruhig: »Das Volk ist sich bewußt, daß es zuerst durch die Arbeit der Studierstuben aus dem Elend heraufgekommen ist, bei längeren Erfolgen im politischen Leben wird auch die Teilnahme an den Trägern unserer bisherigen Kultur auf ein bescheideneres Maß zurückgeführt werden.«

»Ich habe dem Fürsten erzählt, daß Sie hier noch etwas gefunden,« bemerkte die Prinzessin über den Tisch.

»Da ist nahebei ein merkwürdiger Fund in altem Hünengrabe gemacht,« knüpfte der Obersthofmeister an und berichtete weitläufig über Totenurnen.

Aber der Fürst selbst wandte sich an den Gelehrten. »Jetzt ist doch Hoffnung, daß sich auch das übrige finden wird.«

»Leider weiß ich nicht mehr, wo ich suchen soll,« entgegnete der Professor.

»Was Sie gefunden haben,« fuhr der Fürst mit Selbstüberwindung fort, »ist also unbedeutend.«

Dem Professor war nicht recht, daß die Rede wieder auf die Handschrift kam, er empfand Mißbehagen, von seinem Römer zu erzählen. »Es sind einige Kapitel aus dem sechsten Buch der Annalen,« versetzte er mit Haltung.

»Als Ew. Hoheit in Pompeji standen,« fiel der Obersthofmeister ein, »erregten die eingekratzten Aufschriften der Wände Aufmerksamkeit. In diesen Tagen fiel mir eine hübsche Abhandlung darüber in die Hand. Es ist fesselnd, das lebhafte Volk des alten Unteritaliens in den unbefangenen Äußerungen seiner Liebe und seines Hasses zu beobachten. Man fühlt sich bei den naiven Ausrufungen der kleinen Leute fast ebenso lebhaft in die alte Zeit versetzt, als wenn man jetzt ein Zeitungsblatt in die Hand nimmt, das vor mehreren Jahren geschrieben wurde. Wer den Bürgern Pompejis gesagt hätte, daß man nach achtzehn Jahrhunderten noch wissen würde, wen sie in zufälliger Verstimmung einmal feindselig behandelt haben, dem hätten sie es schwerlich geglaubt. Wir freilich sind vorsichtiger.«

»Also das war der Haß kleiner Leute,« bemerkte der Fürst zerstreut, »Tacitus weiß davon nichts, ihn kümmert der Skandal des Hofes. Wahrscheinlich hatte er auch ein Hofamt.«

Die Prinzessin sah unruhig auf den Fürsten. »Ist von dem Inhalt der beiden Pergamentblätter auch etwas für uns Frauen belehrend?« fragte sie wieder ablenkend.

»Nichts Neues,« antwortete der Gelehrte, »da, wie ich die Ehre hatte, Ew. Hoheit zu sagen, uns dieselbe Stelle bereits aus einer italienischen Handschrift bekannt ist. Es sind kleine Ereignisse im römischen Senat.«

»Zank der versammelten Väter,« warf der Fürst nachlässig ein, »es waren elende Sklaven. Ist das alles?«

»Am Schluß stand noch eine Anekdote aus dem Privatleben des Tiberius. Der verstörte Geist des Fürsten klammert sich an die Astrologie; er ruft Sterndeuter zu sich und läßt in das Meer schleudern, die er in Verdacht eines Betruges hat. Auch der kluge Thrasyllus wird über den verhängnisvollen Felsenpfad zu ihm geführt, er verkündet die verborgenen Geheimnisse des kaiserlichen Lebens. Da forscht Tiberius lauernd, ob er auch wisse, was ihm selbst der gegenwärtige Tag bringen werde.«

»Der Philosoph fragt die Gestirne und ruft zitternd aus: ›Bedenklich ist meine Lage, ich sehe mich in Todesgefahr.‹ An dieser Stelle bricht unser Bruchstück ab. Der Vorfall mag sich wiederholt haben, dieselbe Anekdote haftet auf mehr als einem Fürstenleben.«

Um die Zinne des Turmes flog die Schar der Dohlen, sie schwatzten und schrien und erzählten einander, daß unten der Weidmann stand, der ein Wild suchte.

Der Fürst erhob sich schnell. »Diesem Geschrei der schwarzen Vögel soll ein Ende gemacht werden,« er winkte dem Büchsenspanner. Der Mann trat heran und legte ein Gewehr in die Hand des Fürsten. Der Fürst setzte den Kolben auf die Erde und wandte sich zu dem Professor, während die Prinzessin beunruhigt durch die letzten Worte des Gelehrten mit ihrem Gefolge abseits stand und um Fassung rang.

»Die Prinzessin hat mir gesagt,« begann der Fürst, »daß Sie Bedenken tragen, einen Wunsch zu erfüllen, der uns allen große Bedeutung gewonnen hat. Ich hoffe, daß die Hindernisse nicht unüberwindlich sein werden.

»Mir ziemt,« versetzte der Professor, erfreut durch die gütigen Worte des Fürsten, »einen so ehrenvollen Antrag ruhig zu erwägen. Ich habe nicht nur auf meine Wissenschaft Rücksicht zu nehmen, auch auf anderes.«

»Worauf?« fragte der Fürst.

»Auf den Wunsch einer geliebten Frau,« sagte der Professor. Ein plötzliches Zucken kam über die Glieder des Fürsten.

»Und wie betrachten Sie Ihr Verhältnis zu mir?« fragte der Fürst mit heiserer Stimme.

Der Gelehrte sah den Fürsten an, aus den Augen sprühte tödlicher Haß und der glitzernde Schein des bösen Blickes, er sah die Mündung des Gewehres gegen seine Brust gerichtet und daß der gehobene Fuß des Fürsten um den Drücker fuhr.

Der Wetterstrahl zuckte, kein Raum zur Flucht, keine Zeit zur Neigung; der Gedanke des letzten Augenblicks fuhr ihm durch das Haupt. Er erblickte vor sich das verzerrte Antlitz des Kaisers Tiberius und er sagte leise: »Ich stehe auf dem Pfad des Todes.«

»Der Fürst sinkt!« schrie der Obersthofmeister. Er warf sich mit ausgestreckten Armen gegen den Herrn und ergriff seine Hände. Der Fürst wankte, das Gewehr fiel zu Boden, er selbst wurde von den Armen der Herbeieilenden aufgefangen.

Die Prinzessin flog herzu und sah fragend dem Gelehrten in das bleiche Antlitz. »Den Fürsten überkam ein plötzlicher Schwindel,« antwortete dieser ruhig.

»Der Herr wird ohnmächtig,« rief der Obersthofmeister. »Wie geht es Ihnen, Herr Werner?« Die Hände des alten Mannes zitterten.

Gebrochen hing der Fürst in den Armen seiner Begleiter, er wurde nach dem Schloß getragen.

Die Umstehenden sprachen in warmen Worten ihren Schreck über den Zufall aus, die Prinzessin eilte dem kranken Fürsten nach. Ehe der Obersthofmeister folgte, sagte er noch zum Professor, indem er ihm prüfend ins Auge sah: »Nicht zum erstenmal erkrankt der Fürst an solchem Zufall, Ihnen kam das überraschend, Sie wußten nicht, daß der Fürst leidend ist?«

»Ich weiß es seit heut,« erwiderte kalt der Gelehrte.

 

Wenige Minuten darauf trat der Obersthofmeister in das Zimmer des Professors, welcher sich zur Abreise bereitete.

»Ich komme, Ihre Nachsicht zu erbitten,« begann der Obersthofmeister. »Denn ich muß Ihnen durch ein Bekenntnis lästig werden, welches für mich peinlich ist. Sie haben neulich in meiner Gegenwart dem Fürsten von dem Zäsarenwahnsinn römischer Kaiser berichtet. Was Sie damals sagten, war mir sehr lehrreich.«

»Ich ahne jetzt,« versetzte der Professor finster, »daß der Ort dafür sehr wenig geeignet war.«

»Mehr als Sie annehmen,« sagte der Hofmann trocken. »Für mich war vorzugsweise lehrreich, nicht was Sie sagten, sondern daß Sie es sagten. Ich hatte nicht für möglich gehalten, daß jemand so scharfsinnig Vergangenes nachfühlen und so bereitwillig auf ein Urteil über seine Umgebung verzichten könnte. Sie haben damals einem Kranken seine eigene Krankheitsgeschichte erzählt.«

»Ich habe darüber soeben Beobachtungen gemacht,« antwortete der Gelehrte.

»Der Fürst ist gemütskrank. Es ist jetzt notwendig, daß Sie es wissen. Ich habe Ihnen noch ein zweites Bekenntnis abzulegen. Mir ist begegnet, daß ich Sie falsch beurteilt habe.«

»Es würde mir von Wert sein, wenn Ihr gegenwärtiges Urteil günstiger wäre als das frühere,« entgegnete der Professor mit Haltung.

»In Ihrem Sinne, ja,« fuhr der Obersthofmeister fort. »Ich habe Sie in Ihren hiesigen Beziehungen längere Zeit für einen vorsichtigen Mann gehalten, der klug seine Zwecke verfolgt, ich habe aber später erfahren, daß Sie das nicht sind, sondern etwas anderes.«

»Ein ehrlicher Mann, Exzellenz.«

»Wir haben einander nichts vorzuwerfen,« antwortete der Hofmann, das Haupt neigend, »wie Sie den Fürsten, so habe ich Sie selbst unrichtig beurteilt. Aber mein Versehen ist das größere. Denn ich bin der ältere, und ich habe nicht wie Sie die Entschuldigung eines besonders reichen Geistes, welcher zuweilen erschwert, andere Naturen unbefangen aufzufassen. Eine Entschuldigung aber haben wir beide. Es ist selten leicht, solchen gerecht zu werden, welche in andern Kreisen aufgewachsen sind und in Tugenden und Schwächen fremdartige Mischung zeigen. Befriedigung oder Verletzung des eigenen Selbstgefühls irrt uns allen das Urteil. Wo die gemütlichen Neigungen abweichen, entfremdet Mißbehagen, wo kräftig Töne der eigenen Brust sympathisch widerklingen, gefährdet schnelle Annäherung. So habe ich Ihre ehrliche Unbefangenheit zu niedrig geschätzt, ich zahle in dieser Stunde die Buße, denn ich übergebe Ihnen ein Geheimnis in dem Vertrauen, daß Sie es mit hohem Sinn aufnehmen werden.«

»Ich nehme an, daß Exzellenz mir diese Mitteilung nicht ohne bestimmte Veranlassung machen.«

»Man geht damit um, Sie in unserer Stadt festzuhalten,« warf der Obersthofmeister hin.

»Mir sind seit zwei Tagen Anträge in dieser Richtung zugegangen.«

Der Obersthofmeister fuhr fort: »Ich habe nicht nötig, um Ihre Antwort zu sorgen. Sie haben die Meinung kennengelernt, welche sich hinter artiger Hülle verbarg. Wissen Sie, weshalb der Fürst Ihnen den Antrag gemacht hat?«

»Nein. Bis zu diesem Morgen habe ich nicht gezweifelt, daß ein gewisses persönliches Wohlwollen und die Ansicht, daß ich hier nützlich sein könnte, der Beweggrund war.«

»Sie irren,« entgegnete der Obersthofmeister. »Man will Sie nicht bloß deshalb festhalten, um Sie für vergängliche Privatinteressen zu verwenden, das letzte Motiv sind, wie ich annehme, die Grillen eines Kranken, welcher in Ihnen bald einen Gegner sieht, bald einen Scharfsinn fürchtet, der schonungslos krankhafte Stimmungen vor der Welt aufdecken könnte. Sie sollen hier festgebannt werden, man will Sie streicheln, kratzen, beobachten, verfolgen. Sie sind ein Gegenstand des Interesses, der Scheu und Abneigung geworden.«

Der Professor stand auf. »Was ich erlebt und was Sie mir sagen, zwingt mich, diese Stätte augenblicklich zu verlassen.«

»Ich wünsche nicht,« sagte der Obersthofmeister, »daß Sie mit einem lauten Mißton von hier scheiden, wenn dies vermieden werden kann; um Ihretwillen nicht, und wegen manchem von uns nicht.«

Der Professor trat an den Tisch, auf welchem die Pergamentblätter lagen. »Ich erbitte Ihre Geduld, wenn ich nicht sogleich ruhige Haltung wiederfinde. Die Lage, in welche wir versetzt sind, ist wie aus einem fremden Jahrhundert, sie steht in furchtbarem Gegensatz zu der heiteren Sicherheit, womit wir das eigene Leben und die Seelen unserer Zeitgenossen betrachten.«

»Heitere Sicherheit?« fragte der Obersthofmeister traurig. »An Höfen wenigstens dürfen Sie diese nicht suchen, und nirgend, wo der einzelne aus dem Privatleben heraustritt. Heitere Sicherheit! Auch ich möchte fragen, ob wir aus einem Jahrhundert sind. Schwerlich hat es eine Zeit gegeben, wo so vieles unsicher, das Alte so abgelebt und das Neue so schwach war.«

Der Professor hob erstaunt das Haupt bei der lauten Klage des Greises.

Der Obersthofmeister fuhr zürnend fort: »Ich höre überall von den Hoffnungen, die man im Volke hat, ich sehe häufig ein junges burschikoses Vertrauen. Es ist freilich noch weit von gereifter Kraft, aber ich verarge einem gemütvollen Manne nicht, wenn er darauf Hoffnungen setzt. Ja, ich darf einräumen, daß dieser jugendliche Mut in der Tat die beste Hoffnung ist, welche wir haben. Aber ich bin ein alter Mann, ich vermag dies Neue nirgend, wo es über die Interessen des Privatlebens hinausstrebt, bedeutend zu finden. Ich fühle die Abnahme der Lebenskraft in der Luft, welche mich umgibt. Meine Jugend fällt in eine Zeit, wo die beste Bildung der Nationen den Höfen nahestand; meine eigenen Vorfahren haben durch sechs Jahrhunderte an den Torheiten und Verbrechen, aber auch an dem Stolz ihrer Zeit eifrig teilgenommen, ich bin zum Manne erwachsen in der Vorstellung, daß Fürsten und Adel die geborenen Führer der Nation sind. Ich sehe mit Trauer, daß sie auf lange, vielleicht für immer diese Führung verlieren. Manches, was Sie neulich erzählten, paßt genau auf die letzten Jahrzehnte, welche ich durchlebt. Es war eine schmerzvolle Zeit. Die dumpfe Schwäche im Leben des Volkes hat am meisten auf den Höhen verwüstet. Auch da hat es nicht an einzelnen ehrenwerten und kräftigen Männern gefehlt. Welche Zeit hätte sie ganz entbehrt? Aber, was die edelste Blüte der Volkskraft sein sollte, das ist gerade in dieser leeren und schalen Zeit am tiefsten erkrankt.«

Der Professor warf ein: »Ist Grund zur Trauer, wo vielleicht der einzelne verliert, das Ganze gewonnen hat?«

»Zuverlässig nicht,« versetzte der Hofmann, »wenn nur der Gewinn für das Ganze so sicher stünde. Aber mit Erstaunen sehe ich, daß gerade die größten Angelegenheiten der Nation von allen Seiten schülerhaft klein betrieben werden. Vieles Wertvolle ist verloren, Besseres nicht gewonnen. Die Feinheit der Empfindung, welche sich sonst in allen Formen des Verkehrs sehr wohltuend ausdrückte, vorsichtige Behandlung wichtiger Geschäfte werden selten. Wenn dieser Vorzug nicht ausreicht, Charaktere zu bilden, wie sie vielleicht die Gegenwart braucht, er machte doch das Leben gefällig und schön. Was einst häufig war an den Höfen und den Geschäften, sicheres Gefühl der Überlegenheit, graziöse Herrschaft über andere, das müssen wir entbehren. Die Diplomatie hat aufgehört, vornehm zu sein. Man brüskiert, man aventuriert, nicht nur der Adel der Gesinnung, sogar der anmutige Schein desselben fehlen, an den Höfen hat unsichere Kleinlichkeit, ein mürrisches, gereiztes, abschließendes Wesen überhandgenommen, in der Diplomatie Ungezogenheiten und Leichtsinn ohne Kenntnisse und ohne männlichen Willen. Unsere Prinzen klirren als bewaffnete Müßiggänger einher, die alte Hofzucht ist verloren, man fühlt sich haltlos auf der Defensive und sucht in törichten Übergriffen sein Heil. Es ist schwer, sich die Empfindung fernzuhalten, daß es mit diesem Treiben unaufhaltsam abwärts gehe.«

Der Professor lächelte über die Trauer des alten Herrn.

»Ich verdenke Ihnen nicht,« fuhr der Obersthofmeister fort, »wenn Sie das Unglück dieser Verwandlung weniger schmerzlich empfinden als ich. Es ist nur schade, daß es immer noch die höchsten irdischen Interessen sind, mit welchen in solcher Weise gespielt wird.«

»Ist denn aber das Unglück so allgemein?« versetzte teilnehmend der Professor.

»Unserem vielgestaltigen Leben fehlt es nicht an glänzenden Ausnahmen,« sagte der Obersthofmeister. »Es war uns auch in der Zeit, wo wir vor der Welt die größten Trauerspiele aufführten, noch vergönnt, hier und da eine heitere Novelle ins Leben zu rufen. Kaum jemals hat es uns ganz an einem Lande gefehlt, welches die fünf Charaktere eines guten Hofes in dauerndem Zusammenleben vereinte: einen geradsinnigen Herrn, eine liebenswürdige Fürstin, einen hochgesinnten Staatsmann, eine geistreiche Hofdame und unter den Kavalieren einen überlegenen Geist. Aber die Stätten sind selten geworden.«

»Waren sie jemals häufig?«

»Sie waren in der Zeit, aus welcher meine ersten Erinnerungen stammen, der Stolz unserer Nation,« versetzte der Obersthofmeister.

»Gerade in jener Zeit haben wir auch anderes gewonnen, worauf wir noch jetzt stolz sind,« entgegnete der Gelehrte. »Es waren kurze Jahrzehnte, in welchen die Höfe für Pflegestätten der freiesten Zeitbildung galten, und nur durch die seltsamen politischen Schicksale unseres Volkes ist diese Führerschaft möglich geworden. Jetzt ist sie auf andere Kreise übergegangen und für die vornehme Bildung einzelner haben wir die vermehrte Tüchtigkeit vieler eingetauscht.«

»Auch hierbei ist ein Verlust,« rief der Obersthofmeister, »daß vornehme Naturen überhaupt selten geworden sind. Ich bin bereit, die großen Fortschritte anzuerkennen, welche das Bürgertum in den letzten fünfzig Jahren gemacht hat. Aber die Tüchtigkeit, welche das Volk in Erwerb und Verkehr entwickelt, ist zu selten verbunden mit sicherem Selbstgefühl, ja auch selten mit der festgegründeten Stellung, deren eine politische Kraft bedarf. Zu häufig ist das Schwanken zwischen unzufriedenem Trotz und übergroßer Fügsamkeit, hoch fliegt die Begehrlichkeit, zu klein ist der Opfermut. Überall hat der Wohlstand zugenommen, wer dürfte das leugnen? Nicht in demselben Maße das Verständnis für die höchsten Angelegenheiten der Nation.«

»Die Lebenden kommen herauf,« erwiderte der Gelehrte, »die Söhne werden sicherer und freier stehen, auch auf diesem Gebiet gehört unsere Zukunft denen, welche emsig arbeiten.«

»Vieles mag verlorengehen,« sagte der Obersthofmeister, »bevor die Steigerung, welche sie erwarten, so groß wird, daß sie den Aufstrebenden Anteil an der Herrschaft verschafft. Ich bin zu alt, mich von Hoffnungen zu nähren, deshalb vermag ich Ihre lichtvolle Auffassung unserer Lage mir nicht anzueignen. Ich wünsche unserer Nation Gutes, woher es auch komme, ich weiß, sie hat Ärgeres überstanden als das gegenwärtige Hängen zwischen einer niedersteigenden und einer aufsteigenden Bildung. Aber ich fühle, daß die Luft, in der ich lebe, immer schwüler wird, die Spannung der Gegensätze gefährlicher. Wenn ich zurücksehe auf ein langes Leben, so graut mir zuweilen vor dem Siechtum, das ich geschaut. Es war keine Zeit riesiger Laster, wie Ihre Kaiserperiode, aber es war eine Zeit, in welcher nach kurzem poetischen Traum die Schwäche dürftiger Seelen herrschte und verdarb. Die Gestalten, welche in dieser Zeit verkommen sind, werden der Nachwelt nicht fürchterlich erscheinen, aber grotesk und verächtlich. Sie, Herr Professor, leben in einem neuen Zeitalter, wo sich ein jüngeres Geschlecht unbehilflich müht, heraufzukommen. Mir fehlt Empfänglichkeit für die neue Art, und mir fehlt der Mut zu hoffen, denn mir fehlt jede Fähigkeit, die Jüngern bildend zu fordern.«

Er war aufgestanden. Der Greis und der jugendfrische Mann, der Diplomat und der Gelehrte standen einander gegenüber, der eine Sprecher für die Welt, welche sich abwärts neigte, der andere Verkünder der Lehren, welche unablässig die alte Welt erneuern. Auf dem ruhigen Antlitz des Alten lag stille Trauer, in den geistvollen Zügen des Jüngern arbeitete kräftig die Empfindung, ein hoher Sinn und ein feiner Geist schaute aus den treuen Augen beider.

»Was wir einander zu sagen hatten,« fuhr der Obersthofmeister fort, »ist gesagt. Ich habe versucht gutzumachen, was ich gegen Sie versehen, möge Ihnen die geschwätzige Offenheit, mit der ich mich Ihrem Urteil hingab, eine kleine Genugtuung dafür sein, daß ich zu lange gegen Sie schwieg. Es ist die beste Genugtuung, die ich einem Manne Ihrer Art zu geben weiß. Was die krankhafte Stimmung anderer betrifft, von welcher wir ausgingen, so bedarf es darüber zwischen uns keiner Worte; beide werden wir besonnen tun, was unsere Pflicht ist, um die Menschen, welche unserer Sorge vertraut sind, vor Gefahr zu hüten, auch uns selbst zu wahren, Herr Werner. Leben Sie wohl! Möge die Tätigkeit, welche Sie gewählt haben, Ihnen das freudige Vertrauen zu Ihrer Zeit und Ihrem Geschlecht erhalten, bis in die Jahre, welche ich auf meinem Scheitel trage. Dies höchste Glück des Menschen habe ich, der unbedeutende Mann, zuweilen mit Schmerzen entbehrt, wie sie Ihr großer Römer gefühlt hat.«

»Gestatten Exzellenz auch mir, Ihnen eine Bitte auszusprechen,« versetzte der Gelehrte mit warmer Empfindung. »Noch oft mag die ungeübte Rührigkeit der Jüngern Ihnen ein bitteres Lächeln abnötigen und nicht immer werden die unfertigen Werke, welche wir Pioniere der Wissenschaft aufwerfen, den Forderungen genügen, welche Sie auch an uns stellen; denken Sie, wenn Sie uns tadeln müssen, auch nachsichtig daran, daß unser Volk die Bürgschaft schöpferischer Jugend so lange in sich trägt, als die Ehrfurcht vor jeder geistigen Arbeit und die einfache Ehrlichkeit in Liebe und Haß ihm nicht verloren sind. Solange die Nation sich selbst verjüngt, vermag sie auch ihre Fürsten und die Leiter ihrer Geschäfte mit neuem Leben zu erfüllen. Denn wir sind nicht Römer. sondern warmherzige, ehrenwerte und dauerhafte Germanen.«

»Nero wagt nicht mehr, die Apostel einer neuen Lehre zu verbrennen,« erwiderte der Obersthofmeister mit trübem Lächeln. »Darf ich dem Fürsten von Ihnen das Herkömmliche sagen, das Sie ihm aussprechen dürfen, ohne Ihrer Würde wehe zu tun?«

»Ich bitte darum, Exzellenz,« versicherte der Professor.

Der Professor eilte, sich bei der Prinzessin zu beurlauben, sie empfing ihn in Gegenwart ihres Fräuleins und des Hofmarschalls. Wenige Worte wurden gewechselt; während sie die Hoffnung aussprach, ihn recht bald in der Residenz wiederzusehen, wollte ihr die Sprache versagen. Als er das Zimmer verlassen, flog sie hinauf in die Bibliothek und blickte hinab auf den Wagen, in welchen die Truhe geladen wurde. Sie brach einige der Blumen ab, welche der Gärtner in ihr Zimmer gesetzt und schlang sie mit einem Bande zusammen. »Sein Auge sah auf euch und seine Stimme klang in dem Raum, in der ihr euer flüchtiges Leben verbringt. Es war ein kurzer Traum! kein Traum, ein schönes Bild war's aus neuer Welt.

»Wie sich die Frau fügt dem stärkern Geist in liebevoller Hingabe, ihr Auge auf das seine geheftet, das Glück habe ich geahnt. Nur einmal hat meine Hand die seine berührt, und doch habe ich an seinem Herzen gelegen, unsichtbar, körperlos, und niemand weiß es, er selbst nicht, ich allein empfand die Wonne. Leichtes, luftiges Band, gewebt aus den zartesten Fäden, die sich von einer Menschenseele zur andern ziehen, du sollst zerreißen und verwehen, nur das Gefühl bleibt, daß die Neigung, welche zwei Freunde zueinander zog, zum Segen wurde für eines der beiden.

»Du ernster Mann gehst deinen Pfad, und ich den meinen, und wenn der Zufall uns zusammenführt, dann neigen wir uns artig voreinander und grüßen uns mit höflicher Rede. Lebe wohl, Gelehrter, sooft mir einer deiner Genossen entgegentritt, ich werde fortan wissen, daß er zu einer stillen Gemeinde gehört, in deren Vorhof auch ich demütig mein Haupt geneigt.«

Aus den Baumgipfeln, auf die das Fürstenkind niedersah, sangen die Vögel. Der Wagen rollte davon, sie beugte sich herab und hielt den Strauß in der ausgestreckten Hand, dann warf sie die Blumen mit kräftigem Schwunge in den Wipfel eines Baumes, sie hingen unter den Blättern, ein kleiner Vogel flog auf, doch er setzte sich im nächsten Augenblick wieder vor den Strauß und sang sein Lied fort. Die Prinzessin aber legte ihr Haupt an die Mauer des Turmes.

Der Gelehrte fuhr der Stadt zu, die Truhe, welche er gefunden, stand vor ihm. Schneller noch und stürmischer als auf der Herfahrt fuhren die wechselnden Gedanken durch seine Seele, er trieb den Kutscher zur Eile, und eine unbestimmte Angst heftete ihm den Blick an die Stelle, wo die Türme der Hauptstadt aufsteigen sollten. Dazwischen aber sah er immer wieder die Gestalt des Obersthofmeisters vor sich und hörte die traurigen Worte der leisen Stimme.

»Unermeßlich groß ist der Unterschied zwischen den engen Verhältnissen dieses Hofes und der gewaltigen Größe des kaiserlichen Roms, unermeßlich groß auch der Unterschied zwischen dem bekümmerten Hofherrn und der düstern Gestalt eines römischen Senators. Und doch ist etwas in dem Gefüge der Seele, die sich mir heut aufgetan, was mich mahnt an ein Bild aus längst vergangener Zeit, und was er sprach, klingt in meiner Seele wie ein schwacher Ton aus dem Herzen des Mannes, dessen Werk ich vergebens gesucht. Denn wie wir Gegenwärtiges aus dem Vergangenen zu erklären bemüht sind, so deuten wir auch Zustände und Gestalten entfernter Zeit nach dem Gemüt der Menschen, welche uns lebend umgeben. Das Alte sendet unaufhörlich seine Geister in unsere Seelen und unaufhörlich legen wir uns das Alte zurecht nach dem Bedürfnis unseres warmen Herzens.«


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