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Ilse hatte in großer Wirtschaft gleichmäßig dahingelebt, seit dem Tod der Mutter hatte sie, kaum erwachsen, dem Haushalt des Gutes vorgestanden, angestrengt und pflichtgetreu wie ein Beamter ihres Vaters; der Frühling kam und der Herbst, ein Jahr rollte wie das andere über ihr Haupt; der Vater, die Geschwister, das Gut, die Arbeiter und die Armen des Tales, das war ihr Leben. Mehr als einmal hatte sich beim Vater ein Freier gemeldet, ein derber tüchtiger Landwirt aus der Umgegend, sie aber hatte sich zufrieden gefühlt in dem Amt des Hauses, und sie wußte, daß dem Vater lieb war, wenn er sie bei sich behielt. Des Abends, wenn der tätige Mann auf dem Sofa ausruhte und die Kinder zu Bett geschickt waren, saß sie still mit ihrer Stickerei neben ihm oder besprach die kleinen Vorgänge des Tages, die Krankheit eines Arbeiters, den Schaden eines Hagelschauers, den Namen der neuen Milchkuh, die angebunden wurde. Es war eine einsame Gegend, viel Wald, meist kleine Güter, keine reiche Geselligkeit, und der Vater, der sich durch angestrengte Tätigkeit zum wohlhabenden Manne heraufgearbeitet hatte, war kein Freund großer Gesellschaften, die Tochter auch nicht. Am Sonntage kam wohl der Herr Pastor zu Tische, die Beamten des Vaters blieben dann über den Kaffee und erzählten kleine Geschichten aus der Umgegend, die Kinder, welche in der Woche durch den Seminaristen gebändigt wurden, lärmten durch Garten und Flur. Und wenn Ilse eine freie Stunde hatte, setzte sie sich in ihr Stübchen mit einem Buche aus der kleinen Sammlung des Vaters, einem Roman von Walter Scott, einer Erzählung von Hauff, einem Bande von Schiller.
Jetzt aber war mit dem fremden Manne eine Fülle von Bildern, Gedanken, Gefühlen in ihrer Seele aufgegangen. Vieles, was sie bis dahin gleichmütig aus der Ferne betrachtet hatte, wurde ihr auf einmal nah vor die Augen gerückt. Wie künstliches Feuer, welches unerwartet aufsprühend einzelne Stellen der dunkeln Landschaft mit buntem Schein erleuchtet, gab ihr seine Rede bald hier bald dort einen fesselnden Blick auf fremdes Leben. Wenn er sprach und die Worte so reich, gewählt und vornehm aus seinem Innern quollen, dann neigte sie das Haupt anfänglich vorwärts, wie im Traum, bis zuletzt ihr Blick an seinen Lippen und Augen festhing. Denn sie fühlte eine Ehrfurcht, bei welcher Schrecken war, vor einem Menschengeiste, der so hoch und sicher über der Erde schwebte. Von vergangenen Zeiten sprach er wie von der Gegenwart, die geheimen Gedanken der Menschen, welche vor Jahrtausenden lebendig gewesen waren, wußte er zu erklären. Ach, sie empfand die Herrlichkeit und Größe menschlicher Wissenschaft als Verdienst und Größe des einen, der ihr gegenüber saß, und die geistige Arbeit vieler Jahrhunderte erschien ihr wie ein überirdisches Wesen, das mit menschlichem Munde in ihrem Hause Unerhörtes verkündete.
Aber es war nicht das Wissen allein. Wenn sie wie aus der Tiefe den Blick zu ihm erhob, sah sie ein strahlendes Auge, den freundlichen Zug um die beredten Lippen, und sie fühlte sich unwiderstehlich zu dem warmen Leben des Mannes gezogen. Dann saß sie ihm als stille Hörerin gegenüber. Wenn sie aber in ihr Zimmer trat, kniete sie nieder und verbarg das Antlitz in ihren Händen, sie sah ihn dann vor sich und brachte ihm in der Einsamkeit ihre Huldigung dar.
So erwachte sie zum Leben. Es war eine Zeit der reinen Begeisterung, eines selbstlosen Entzückens, das der Mann nicht kennt und das nur dem Weibe wird, einem reinen, unwissenden Herzen, dem plötzlich bei gereifter Kraft das Größte des Erdenlebens die empfängliche Seele einnimmt.
Und sie sah, daß ihr Vater in seiner Art unter dem Einfluß desselben Zaubers stand. Am Mittagstisch, der sonst so schweigsam war, floß jetzt die Unterhaltung wie aus lebendigem Born, an den Abenden, wo er sonst müde über der Zeitung gesessen hatte, wurde das Gespräch zuweilen bis aus die erste Nachtstunde hinausgezogen, vieles wurde erörtert, oft wurde gestritten, immer war der Vater, wenn er seinen Nachtleuchter vom Tische nahm, in heiterer Stimmung, mehr als einmal wiederholte er auf und ab gehend noch sich selbst einzelne Reden des Gastfreundes. »Er ist in seiner Art ein ganzer Mann,« sagte er, »alles sicher und fest gefügt, man weiß immer, wie man mit ihm dran ist.«
Einigemal ängstigte sie, was er aussprach. Zwar vermieden die Freunde, was die innige Gläubigkeit der Hörerin verletzen konnte, aber aus den Reden des Professors klang zuweilen eine fremdartige Auffassung ehrwürdiger Lehre und der menschlichen Pflichten heraus. Und doch war wieder so edel und gut, was er behauptete, daß sie sich dagegen mit ihren Gedanken nicht zu wehren wußte.
Er war oft heftig in seinen Ausdrücken; wo er verurteilte, tat er das mit starken Worten, auch im Gespräch brach er wohl heraus, daß der Doktor und sogar der Vater zurückwichen. Und sie ahnte, daß in seinem Haupte sich die Welt anders darstellte als bei den meisten Menschen, stolzer, edler, entschiedener. Und wenn er von andern viel verlangte, wie einem natürlich ist, der mehr mit abgeschlossenen Bildungen als mit dem werdenden Leben verkehrt, da wurde ihr wohl bange, wie man vor seinen Augen bestehen könne. Aber derselbe Mann war wieder so bereit, alles Gute anzuerkennen, und er freute sich wie ein Kind, wenn er erfuhr, daß sich jemand brav und stark erwiesen hatte.
Er war ein ernster Mann, und doch war er der Liebling der Kinder geworden, fast noch mehr als der Doktor. Sie vertrauten ihm ihre kleinen Geheimnisse, er besuchte sie in der Kinderstube und gab ihnen nach Jugenderinnerungen Anweisung, wie sie einen großen Papierdrachen machen sollten, er malte selbst die Augen und den Schnurrbart und schnitt die Quaste des Schwanzes, und ein froher Tag war's, als der Drache das erstemal auf dem neuen Stoppelfelde aufstieg. Wenn der Abend kam, dann saß er, von den Kindern umgeben, wie ein Rebhuhn unter den Küchlein, Franz kletterte auf die Stuhllehne und zauste an seinem Haar, an jedem Knie lehnte eines der Größern; dann wurden Rätsel aufgegeben und Geschichten erzählt, und wenn Ilse zuhörte, wie er mit den Kindern kleine Reime nachsprach und lehrte, dann schwoll ihr das Herz vor Freude, daß ein solcher Geist so zutraulich mit der Einfalt verkehren konnte, dann spähte sie in sein Antlitz und sah hinter den festen Zügen des Mannes ein Kindergesicht herausleuchten, lachend und glücklich, und sie konnte sich ihn denken, wie er selber ein kleiner Bube gewesen war, der auf dem Schoße seiner Mutter saß. – Glückliche Mutter!
Da kam die Stunde unter den Garben, die gelehrte Unterredung, welche mit Tacitus anfing und mit einem stummen Bekenntnis der Liebe endigte. Die selige Heiterkeit seines Angesichts, der bebende Klang seiner Stimme hatten den dünnen Schleier zerrissen, der ihr das eigne wogende Gefühl barg. Sie wußte jetzt, daß sie ihn liebte, heiß und unendlich, und sie ahnte, daß er empfand wie sie selbst. Der ihr so groß gegenüberstand, er hatte sich zu ihr hinabgeneigt, sie hatte seinen warmen Atem, den schnellen Druck seiner Hand gefühlt. Als sie dahinging durch das Feld, strömte ihr die Glut in die Wangen, und was sie umgab, Erde und Himmel, Flur und sonniger Waldessaum, das floß vor ihr in leuchtende Wolken zusammen. Mit beflügeltem Fuß eilte sie hinab in den Waldgrund, wo das Baumlaub sie umhüllte. Jetzt erst fühlte sie sich allein, und ohne es zu wissen, faßte sie einen schlanken Birkenstamm und schüttelte ihn mit voller Kraft, daß der Baum laut rauschte und seine Blätter auf sie herabstreute. Und sie hob die Hände zu dem goldenen Licht des Himmels und warf sich nieder auf den Moosgrund. In heftigen Atemzügen hob sich ihre Brust und die kräftigen Glieder zuckten von der inneren Erregung. Wie vom Himmel herab war die Leidenschaft in das junge Weib gesunken und faßte ihr Leib und Seele mit unwiderstehlicher Gewalt.
Lange lag sie so, braune Sommerfalter spielten ihr um das Haar, eine kleine Eidechse fuhr ihr über die Hand, weiße Dolden der Waldblumen und die Zweige der Hasel neigten sich über sie, als wollten die kleinen Kinder der Natur das heiße Leben der Schwester verdecken, welche zu ihnen gekommen war in dem seligsten Schreck ihres Lebens.
Endlich hob sie sich auf die Knie, schlug die Hände zusammen, sie dankte dem lieben Gott für ihn und bat für ihn.
Gesammelt trat sie in das offene Tal, nicht mehr das ruhige Mädchen von sonst, ihr eigenes Leben und was sie umgab, glänzte in neuen Farben, und ein neues Fühlen fand sie in der Welt. Sie verstand die Sprache des Schwalbenpaares, welches um sie kreiste und mit zwitscherndem Ton pfeilschnell an ihr vorüberfuhr. Es war die wonnige Freude am Leben, welche den kleinen Leib durch die Luft schnellte, und was die Vögel zu ihr sprachen, war ein schwesterlicher Jubelruf. Sie antwortete auf den Gruß der Arbeiter, welche vom Feld heimgingen, und sie sah auf eine der Frauen, welche die Garben angelegt hatte, und wußte genau, wie ihr zumute war. Auch die Frau hatte als Mädchen einen fremden Burschen geliebt, es war eine lange unglückliche Neigung gewesen mit vielen Schmerzen, jetzt aber ging sie getröstet neben ihm nach Hause, und als sie mit ihrer Herrin sprach, sah sie stolz auf ihren Begleiter. Und Ilse fühlte, wie glücklich die arme ermüdete Frau war. Und als Ilse in den Hof trat und die Stimme der Mägde hörte, welche vergebens auf sie gewartet hatten, und das ungeduldige Brummen der Rinder, das wie ein Vorwurf an die säumige Herrin klang, da schüttelte sie leise das Haupt, als wenn die Mahnung nicht mehr ihr gelte, sondern einer andern.
Als sie wieder aus den Wirtschaftsräumen in das goldene Abendlicht trat, mit beflügeltem Schritt, das Haupt gehoben, sah sie erstaunt den Vater neben seinem Reitpferd stehen, bereit zum Aufsitzen, und vor ihm in ruhigem Gespräch den Doktor und den Mann, welchem entgegenzutreten sie in diesem Augenblick verlegen scheute. Sie näherte sich zögernd. »Wo säumst du, Ilse,« rief der Landwirt, »ich muß fort,« und, in das bewegte Gesicht der Tochter blickend, setzte er hinzu, »es ist nichts Großes. Ein Brief des kranken Oberförsters ruft mich in das Forsthaus, es ist einer von den Hofleuten angekommen, und ich kann mir denken, was sie von mir wollen. Ich hoffe zur Nacht zurück zu sein.« Und dem Doktor nickte er zu: »Wir sehen uns noch vor Ihrer Abreise.« Er trabte dahin und Ilse dankte im Herzen der neuen Botschaft, die ihr leichter machte, ruhige Worte mit den Freunden zu sprechen. Sie folgte neben ihnen dem Wege, auf dem der Vater dahinritt, und bemühte sich, in gleichgültigem Gespräch die Unruhe zu verbergen. Und sie erzählte von dem Jagdschloß im Walde und von der Einsamkeit, in welcher der greise Oberförster unter den Buchen des Forstes hause. Aber es war doch eine spärliche Rede, jedes der ehrlichen Herzen war mächtig bewegt, der Professor und Ilse vermieden, einander in die Augen zu blicken, auch dem Freunde gelang es nicht, durch leichte Scherze die Leidenschaftlichen in das kleine Treiben dieser Welt herabzuziehen.
Da wies Ilse plötzlich mit der Hand auf einen Hohlweg zur Seite, aus welchem mehrere schwarze Köpfe auftauchten. »Sehen Sie dort die Indianer der Frau Oberamtmann.« In schnellem Schritt zog eine Reihe wilder Gestalten, eine hinter der andern; voran ein kräftiger Mann in braunem Kittel und verschossenem Hut, einen dicken Stab in der Hand; hinter ihm zwei jüngere Männer, ein bepacktes kleines Pferd führend, auf dem ein Affe in roter Jacke saß; dann Weiber mit Kindern auf dem Rücken; um den Trupp liefen halbnackte Buben und Mädchen, lange schwarze Haare hingen ihnen um die braunen Gesichter und die wilden Augen starrten schon aus der Ferne gierig auf die Spaziergänger.
»Wenn der Herbst kommt, streicht zuweilen das bettelnde Volk durch unser Land, es sind Gaukler, die zu Kirmes und Vogelschießen ziehen, aber seit einigen Jahren haben sie sich nicht in die Nähe des Guts gewagt.«
Der Trupp nahte, aus dem Trott wurde stürmisches Laufen, im Augenblick waren die Freunde von sechs bis acht dunkeln Gestalten umringt, welche mit leidenschaftlicher Gebärde drängten und laut schreiend die Hände ausstreckten, Männer, Weiber, Kinder im Getümmel durcheinander. Erstaunt sahen die Freunde in die blitzenden Augen, die heftigen Bewegungen und auf die Kinder, welche mit den Füßen stampften und mit ihren Händen den Leib der Fremden betasteten wie Wahnsinnige.
»Zurück, ihr Wilden,« rief Ilse, drang durch die Bande und stellte sich vor die Freunde. »Zurück, wer spricht für den Haufen?« wiederholte sie unwillig und hob gebietend den Arm. Der Lärm verstummte, ein braunes Weib, nicht kleiner als Ilse, das glänzende Haar in Flechten gebunden und mit einem bunten Kopftuch umschlungen, trat aus der Schar und streckte die Hand gegen Ilse aus: »Meine Kinder bitten,« sagte sie, »sie hungern und dürsten.« Es war ein großes Antlitz mit scharfen Zügen, in denen noch die Spuren früherer Schönheit sichtbar waren. Mit vorgebeugtem Kopf stand sie der Jungfrau gegenüber und ihre funkelnden Augen fuhren spähend von einem Antlitz auf das andere.
»Geld haben wir nur für die Menschen, welche uns arbeiten,« antwortete Ilse kalt. »Für den Fremden, der dürstet, ist unser Quell, und dem Hungernden geben wir von unserm Brot, Sie erhalten nichts weiter aus unserm Hause.«
Wieder hob sich ein halbes Dutzend Arme und wieder drängte der wilde Haufe heran. Die Führerin trieb ihn durch einen Ruf in fremder Sprache zurück. »Wir wollen dir arbeiten, Fräulein,« sagte sie in geläufiger Phrase mit gebildetem Akzent, »die Männer bessern altes Gerät, wir scheuchen dir Maus und Ratte aus den Mauern, hast du ein krankes Pferd, wir heilen es schnell.«
Ilse bewegte verneinend das Haupt. »Eurer Hilfe bedürfen wir nicht. Sprechen Sie zu mir ohne Gaukelei, wie man zu ordentlichen Leuten redet, ich weiß wohl, daß Sie das recht gut können, wenn Sie wollen. Wo ist euer Passierschein?«
»Wir haben keinen,« sagte die Frau, »wir kommen weit aus der Fremde.« Sie wies nach der aufgehenden Sonne.
»Und wo wollen Sie zur Nacht rasten?« fragte Ilse.
»Wir wissen es nicht. Die Sonne will untergehen, und meine Leute sind müde und barfuß,« versetzte die Fremde.
»Sie dürfen nicht nahe am Hofe und nicht nahe bei den Dorfhäusern lagern. Die Brote erhalten Sie am Hoftor, dorthin schickt jemanden, der sie abholt. Und wenn ihr ein Feuer anzündet auf unserer Flur, so hütet euch, den Garben zu nahe zu kommen, wir werden auf euch achtgeben. Und niemand schleicht auf das Gut und in das Dorf, den Leuten wahrzusagen, das leiden wir nicht.«
»Wir sagen nicht wahr,« antwortete die Frau und berührte mit der Hand ein kleines schwarzes Kreuz, welches sie am Halse trug. »Die Zukunft kennt hier unten keiner, auch wir wissen nichts davon.«
Ilse neigte ehrerbietig das Haupt. »Gut,« sagte sie, »wie auch der Sinn ist, welchen Sie hinter Ihren Worten bergen, Sie sollen mich nicht umsonst an die Gemeinschaft gemahnt haben, die zwischen uns ist. Kommen Sie selbst an das Tor, Mutter, und erwarten Sie mich dort. Brauchen Sie etwas für die Kleinen, so will ich zu helfen suchen.«
»Wir haben ein krankes Kind, schönes Fräulein, und dem Buben fehlen die Kleider,« bat die Landfahrerin, »ich komme, und meine Leute werden tun, wie Sie wollen.« Sie gab ein Zeichen und der wilde Zug trabte gehorsam einen Seitenweg entlang, der dem kleinen Dorfe zuführte. Die Freunde sahen der Bande neugierig nach.
»Daß solche Szene in diesem Lande möglich wäre, hätte ich nie geglaubt,« rief der Doktor.
»Sie waren früher bei uns eine Landplage,« versetzte Ilse gleichmütig. »Sie stammen von Zigeunerart. Ein Landesherr in der Nähe hatte ihnen Unterschlupf gegeben, aber sie waren ein unartiges Gesinde. Jetzt sind sie selten, der Vater hält streng auf Ordnung, und sie wissen das recht gut. Doch wir müssen zurück in den Hof, denn Vorsicht kann bei dem diebischen Volk nicht schaden.«
Sie eilten nach dem Hofe, Ilse rief den Inspektor, und die Kunde, daß die Landläufer in der Nähe waren, flog wie ein Lauffeuer durch den Hof. Die Ställe wurden verwahrt, das Federvieh und die Familien der fettumwachsenen Schweine der Obhut von zwei handfesten Mägden übergeben, der Schäfer und die Knechte erhielten Befehl, Nachtwache zu halten. Ilse rief die Kinder, sie gab ihnen das Abendbrot und fand schwer die Aufgeregten zu bändigen. Die jüngsten wurden der Mamsell unter starkem Protest und Tränen übergeben zu sicherer Aufbewahrung in ihren Betten. Dann suchte Ilse alte Röckchen und Linnen zusammen, belud eine Magd mit zwei Broten und schickte sich an, zum Hoftor zu gehen, wo die Frau sie erwarten sollte. Der Doktor hatte sich in seiner Freude über die Fremden aller Sorge um den Freund entschlagen. »Erlauben Sie uns, die Verhandlung mit der Sibylle anzuhören,« bat er.
Sie fanden die Landstreicherin in der Dämmerung vor dem Tor sitzend, neben ihr ein halbwüchsiges Mädchen mit prachtvollen Augen und langen Zöpfen, aber mangelhaftem Gewande. Das Weib erhob sich und nahm mit vornehmer Haltung die Spende in Empfang, welche ihr Ilse reichte.
»Segen über Sie, Fräulein,« rief sie, »alles Glück, das Sie sich jetzt wünschen, soll Ihnen zuteil werden. Und Sie haben ein Angesicht, welches Glück verheißt. Segen über Ihr goldenes Haar und die blauen Augen. Ihnen danke ich,« schloß sie sich verneigend. »Wollen die Herren nicht auch meinem Mädchen ein Andenken schenken?« Die wilde Schöne hielt ihre Hand hin. »Die Sonne hat ihr das Gesicht verbrannt, seien Sie freundlich gegen die arme Schwarze,« bettelte die Alte, und dabei sah sie lauernd in der Runde umher. Der Professor schüttelte verneinend das Haupt, der Doktor griff nach seiner Börse und legte der Alten ein Geldstück in die Hand. »Das Prophezeien habt ihr aufgegeben?« fragte er lachend.
»Es bringt Unglück dem, der wahrsagt, und dem, der fragt,« versetzte die Fremde. »Hüte sich der Herr vor allem, was bellt und kratzt, denn ihm kommt Unglück von Hunden und Katzen.« Ilse und der Professor lachten, die Augen der Landstreicherin suchten unterdes unruhig in dem Gebüsch.
»Wir können nicht wahrsagen,« fuhr sie geläufig fort, »wir haben keine Macht über die Zukunft und wir irren wie ihr andern auch. Aber manches sehen wir doch, schönes Fräulein, und ohne daß Sie es verlangen, will ich's Ihnen sagen. Der Herr da neben Ihnen sucht einen Schatz, und er wird ihn finden, aber er soll sich hüten, daß er ihn nicht verliert; und Sie, stolzes Fräulein, werden einem Manne lieb sein, der eine Krone trägt, und Sie werden die Wahl haben, ob Sie eine Königin werden wollen, die Wahl und die Qual,« setzte sie leiser hinzu, und ihre Augen flogen wieder unruhig umher.
»Hinweg mit euch!« rief Ilse unwillig, »solch Geschwätz stimmt schlecht zu euren Worten.«
»Wir wissen nichts,« murmelte die Fremde demütig, nach dem Zeichen an ihrem Halse fassend. »Wir haben nur unsere Gedanken. Und unsere Gedanken sind eitel oder wahr, je nachdem ein Stärkerer will. Leben Sie wohl, schönes Fräulein,« rief sie mit Nachdruck und schritt mit ihrer Begleiterin in die Tiefe.
»Wie stolz sie dahingeht,« rief der Doktor, »Respekt vor dem klugen Weibe, sie wollte nicht wahrsagen, aber sie konnte doch nicht vermeiden, sich durch geheimes Wissen zu empfehlen.«
»Sie hat sich längst bei den Feldarbeitern nach uns allen erkundigt, und sie kennt den Hof,« versetzte Ilse lachend.
»Wo nur ihr Lager aufgeschlagen ist?« fragte der Doktor neugierig.
»Wahrscheinlich hinter dem Dorfe,« versetzte Ilse. »Im Tal sehen wir wohl die Feuer. Die Fremden haben nicht gern, wenn man ihrem Lager nahekommt und zusieht, was sie als Abendkost verzehren.«
Sie stiegen langsam in das Tal hinab und blieben am Ufer des Baches unfern dem Garten stehen. Rings um sie lag das Dunkel des Abends auf Busch und Wiese, das alte Haus auf dem Stein ragte düster unter dem dämmrigen Grau des Himmels. Vor ihren Füßen murmelte das Wasser und die Blätter der Bäume rührten sich im Nachtwind. Schweigend blickten die drei in die verschwimmenden Formen der Landschaft hinaus, das Seitental mit dem Dorf lag unsichtbar in dem tiefen Schatten der Nacht, nicht einmal ein erleuchtetes Fenster war zu sehen. »Sie sind lautlos verschwunden wie die Fledermäuse, welche eben noch durch die Luft flogen,« sagte der Doktor. Aber die andern antworteten nicht, sie dachten nicht mehr an die Landläufer.
Da klang es durch die Abendluft wie leises Wimmern. Ilse fuhr zusammen und lauschte. Und noch einmal derselbe schwache Ton. »Die Kinder?« schrie Ilse entsetzt und stürzte der Hecke zu, welche den Obstgarten von der Wiese trennte. Sie rüttelte angstvoll an der verschlossenen Pforte, dann brach sie das Geäst der Hecke auseinander und sprang wie eine Löwin hindurch, das Obstgelände hinauf. Die Freunde eilten ihr nach, aber sie erreichten die Schnelle nicht. Vor ihr schimmerte es hell unter den Bäumen und es regte sich, da sie heranflog. Zwei Männer hoben sich vom Boden, eine Gestalt fuhr ihr entgegen, Ilse aber schlug den Arm zurück, der zum Schlag gegen sie ausholte, daß der Mann taumelte, und warf sich über die weinenden Kleinen, welche im Rasen lagen. Hinter Ilse sprang Felix herzu und packte den Mann, der Doktor rang im nächsten Augenblick mit einem andern, der wie ein Aal unter seinen Händen dahinglitt und in der Dunkelheit verschwand. Der erste Räuber aber hob sein Messer gegen den Arm des Professors, entrang sich der Hand, welche ihn festhielt, und war im nächsten Augenblick durch die Hecke gebrochen. Man hörte das Knarren im Geäst, dann war alles wieder still.
»Sie leben!« rief Ilse, am Boden kniend, mit fliegendem Atem und umschlang die Kleinen, welche jetzt ein klägliches Geschrei ausstießen. Es war Riekchen im bloßen Hemde und Franz, auch halb ausgeschält. Die Kinder waren den Augen der Mamsell und dem Schutz der Schlafstube entschlüpft und in den Garten geschlichen, um die Feuer der Komödianten zu sehen, von denen die Geschwister erzählten. Da waren sie den Genossen der Bande, welche Greifbares suchten, in die Hände gefallen und der Kleider entledigt worden.
Ilse nahm die schreienden Kinder auf ihre Arme, vergebens wollten die Freunde ihr die Last abnehmen. Lautlos eilte sie mit den Geretteten nach dem Hause, sie stürzte in das Zimmer, und beide festhaltend kniete sie vor dem Sofa über ihnen, und die Freunde hörten ihr unterdrücktes Schluchzen. Aber nur auf wenig Augenblicke verlor sie die Haltung. Sie richtete sich auf und sah über die Dienstleute, welche in ängstlichem Gedränge die Stube füllten. »Den Kindern ist kein Leid geschehen,« rief sie, »geht, wo ihr die Wache habt und holt mir einen der Herren.« Der Inspektor trat aus dem Haufen. »Das war ein Raub auf unserem Grunde,« sagte Ilse, »und die ihn verübt, soll das Gesetz erreichen. Ich bitte, lassen Sie die Bande in ihrem Lager aufheben.«
»In der Schlucht hinter dem Dorf ist ihr Feuer,« erwiderte der Inspektor, »man sieht den roten Rauch vom Oberstock. Aber, Fräulein – ich sage es ungern – wäre nicht vorsichtiger, man ließe die Schurken entlaufen? Ein großer Teil unserer Ernte liegt in Garben, sie zünden uns in der Nacht aus Rache die Haufen an oder wagen noch Ärgeres, um ihre Leute wieder freizumachen.«
»Nein,« rief Ilse, »bedenken Sie nicht, zögern Sie nicht. Ob die Argen uns zu schaden vermögen oder nicht, darüber entscheidet ein höherer Wille, wir tun, was unsere Pflicht ist. Der Frevel fordert Strafe, und der Herr dieses Gutes ist zum Wächter des Gesetzes gestellt.«
»Lassen Sie uns eilen,« mahnte der Professor den Beamten, »wir begleiten Sie.«
»Nun, mir ist's nach dem Herzen,« versetzte der Inspektor überlegend, »der Hofverwalter bleibt hier, wir andern suchen die Bande am Feuer.«
Er eilte hinaus. Der Doktor faßte einen Knotenstock, der in einer Zimmerecke lehnte. »Das wird genügen,« sagte er lächelnd dem Freunde. »Ich halte mich zu einiger Schonung verpflichtet gegen diese liederlichen Zigeunersöhne, welche ihr Indisch noch nicht ganz vergessen haben.« Im Begriff, das Zimmer zu verlassen, hielt er an: »Du aber bleibst zurück, denn du blutest.«
Aus dem Ärmel des Professors fielen einzelne Blutstropfen zur Erde.
Das Antlitz der Jungfrau wurde fahl wie die Tür, bei welcher sie stand, und sie hielt sich zitternd an den Pfosten. »Um unsertwillen,« murmelte sie tonlos. Plötzlich eilte sie auf den Professor zu und neigte sich auf die Hand herab, sie zu küssen; erschrocken hielt Felix die Leidenschaftliche zurück. »Es ist nicht der Rede wert, Fräulein,« rief er, »ich bewege den Arm nach Gefallen.« Der Doktor zwang ihn, den Rock auszuziehen und Ilse flog nach Verbandzeug. Fritz aber untersuchte mit der Ruhe eines alten Studenten die wunde Stelle. »Es ist ein kurzer Stich in die Muskeln des Unterarmes,« tröstete er sachverständig das Fräulein, »etwas Heftpflaster wird genügen.« Der Professor fuhr wieder in den Rock und ergriff den Hut: »Vorwärts,« sagte er.
»O nein, bleiben Sie bei uns!« flehte Ilse ihm nacheilend. Der Professor sah in das angsterfüllte Gesicht, schüttelte ihr herzlich die Hand und verließ mit dem Freunde das Zimmer.
Der eilige Tritt der Männer verklang. Ilse durchschritt allein die Räume des Hauses, Türen und Fensterläden waren geschlossen, an der Tür nach dem Hofe wachte Hans, den Säbel des Vaters in der Hand, vom Oberstock beobachteten die Hausmädchen Hofraum und Garten. Ilse trat in die Kinderstube, wo die armen Kleinen, von der Mamsell und den Geschwistern umringt, in ihren Betten saßen und zwischen den letzten Tränen und dem Schlafe kämpften. Ilse küßte die Müden und drückte sie in die Kissen, dann eilte sie hinaus in den Hof und lauschte ängstlich bald nach der Richtung, in welcher die Bande lagerte, bald nach der andern Seite, wo Hufschlag die Ankunft des Vaters verkünden sollte. Alles war still. Die Mägde von oben riefen ihr zu, daß auch das Feuer der Fremden verlöscht sei, und wieder eilte sie auf und ab, horchte erwartungsvoll und richtete die Augen zum Sternenhimmel.
Welch ein Tag! Vor wenig Stunden hoch emporgehoben über die Not der Erde und jetzt durch feindliche Faust zurückgerissen in Schrecken und Angst! Sollte das eine Vorbedeutung sein für die Tage der Zukunft? War die goldene Pforte nur geöffnet, um sich mißtönend wieder zu schließen und eine arme Seele zurückzulassen in verzehrender Sehnsucht? Die Betrügerin hatte prophezeit von einem, der eine Krone tragen würde. Ja, in dem Reich, wo er als ein König herrschte, da war selige Heiterkeit und beglückender Friede. Ach, wenn es erlaubt ist, Irdisches zu vergleichen mit den Freuden des Himmels, solches Wissen und Denken gab eine Vorahnung der ewigen Herrlichkeit. Denn so schwebten die Geister derer, die hienieden gut und weise gewesen waren, lichtumflossen in reiner Klarheit, und sie sprachen lächelnd und glücklich zueinander von allem, was auf Erden gewesen war, das Geheimste wurde ihnen offenbar und das Tiefverhüllte durchsichtig, und sie wußten, daß alle Pein und aller Schmerz der Erde ewige Weisheit und Güte war. Und er, der hier auf Erden dahinschritt, den heitern Himmel im Herzen, ihn stach der wandernde Strolch in den Arm um ihretwillen, und um ihrer Liebe willen war er wieder ausgezogen in die feindselige Nacht, und unendliche Angst um ihn schnitt durch das Herz. »Schütze ihn, Allerbarmer,« rief sie, »und mich heb' aus dem Dunkel, stärke mir die Kraft und verkläre meinen Geist, daß ich würdig werde des Mannes, der dein Antlitz schaut in vergangenen Zeiten und über geschwundenen Völkern.«
Endlich hörte sie den schnellen Trab eines Reiters und das Schnauben des ungeduldigen Rosses an dem verschlossenen Tor. »Vater!« rief sie, riß den Riegel zurück und flog an den Hals des Absteigenden. Bestürzt vernahm der Landwirt ihren schnellen Bericht, er warf die Zügel des Pferdes dem Sohne zu und eilte in die Kinderstube, seine Kleinen zu herzen, die beim Anblick des Vaters ihres Unglücks gedachten und weinend neue Wehklage begannen.
Als der Landwirt in den Hof trat, zogen die Gutsleute vor das Haus und der Inspektor berichtete: »Niemand war um das Feuer und in der Nähe zu sehen. Am Feuer keine Spur, daß dabei gerastet worden, es war zur Täuschung angezündet, sie haben hier nur stehlen wollen, der größere Teil der Bande ist schon am Abend weitergezogen. Sie liegen irgendwo in den Wäldern versteckt, und wenn die Sonne aufgeht, sind sie längst über die Grenze. Das Gewürm kenne ich aus alter Zeit.«
»Er hat recht,« sagte der Landwirt zu den Freunden, »und ich meine, wir haben nichts mehr zu fürchten. Doch werden zuverlässige Augen diese Nacht geöffnet bleiben. Ihnen aber dankt ein armer Vater,« fügte er bewegt hinzu, »der letzte Tag, den Sie bei uns verlebten, Herr Doktor, sollte vom Morgen bis zum Abend abenteuerlich sein. Das ist sonst nicht unsere Art.«
»Ich scheide allerdings in Sorge um das, was ich hier zurücklasse,« versetzte der Doktor zwischen Ernst und Scherz. »Daß jetzt gar noch verlorene Kinder Asiens um die alten Mauern schleichen, ist außer Spaß.«
»Des Gesindels sind wir ledig, wie ich hoffe,« fuhr der Landwirt gegen seine Tochter fort, »aber auf einen andern Besuch magst du dich beizeiten gefaßt machen, der Landesherr wird in einigen Wochen vor diesem Hause absteigen. Ich bin nur deshalb fortgesprengt worden, um Geschwätz über seinen Besuch zu hören und zu vernehmen, daß noch nicht entschieden sei, wo Serenissimus vor der Jagd das Frühstück einnehmen werde. Diesen Wink kenne ich, es war vor fünfzehn Jahren ebenso. Da hilft nun nichts, zu Rossau im Lindwurm kann er nicht bleiben. Auch diese Störung wird vorübergehen. – Und jetzt uns allen eine gute Nacht und ein Schlaf in Frieden.«
Die beiden Freunde traten nachdenklich in ihr Schlafzimmer. Der Professor stand am Fenster und horchte auf den Tritt der Wächter, die von außen und innen den Hof umzogen, auf das Zirpen der Grillen und auf die gebrochenen Laute, welche aus der schlummernden Flur in das Ohr drangen. Und wieder hörte er ein Geräusch neben sich und sah in das treue Gesicht seines Freundes, der in seiner Aufregung die Hände gefaltet hatte: »Sie ist fromm,« rief Fritz klagend.
»Sind wir's nicht auch?« erwiderte der Professor und richtete sich hoch auf.
»Sie ist dem Leben deines Geistes so fremd wie die heilige Elisabeth.«
»Sie hat Verstand,« entgegnete der Professor.
»Sie steht so sicher und abgeschlossen in ihrem Kreise, sie wird in deiner Welt nie heimisch werden.«
»Sie ist tüchtig hier, sie wird es überall sein.«
»Du verblendest dich,« rief Fritz händeringend. »Willst du in den Frieden deiner Tage einen Zwiespalt bringen, dessen Ende du nicht absehen kannst? Willst du ihr selbst die ungeheure Umwandlung zumuten, welche sie aus einer tüchtigen Wirtin zur Vertrauten deiner rücksichtslosen Forschung machen soll? Darfst du ihr das sichere Selbstgefühl eines kräftigen Lebens rauben und in ihre Zukunft den Kampf, die Unsicherheit, den Zweifel hineintragen? Wenn du nicht an dich und deine Ruhe denkst, so hast du doch die Verpflichtung, ihr Wesen zu ehren.«
Der Professor legte das heiße Haupt an das Holz des Fensters. Endlich fuhr er auf: »Wir aber sollen Diener der Wahrheit sein und ihre Verkünder. Und wenn wir diese Pflicht gegen tausend Fremde üben, gegen jeden, der uns hören will, wächst nicht Recht und Pflicht da, wo wir lieben?«
»Täusche dich nicht,« antwortete Fritz, »du, der feinfühlende Mann, der jedes Leben in seiner Berechtigung so willig anerkennt, du wärst der letzte, die Harmonie ihres Wesens zu stören, wenn du sie nicht für dich begehrtest. Was dich treibt, ist nicht Pflichtgefühl, sondern Leidenschaft.«
»Was ich der Fremden nicht zumuten darf, das ziemt mir an dem Weibe zu tun, das ich für immer mit mir verbinde. Und hat nicht jede Frau, die unserm Leben nahe tritt, ähnliche Wandlung zu erfahren? Wie hoch stellst du das Wissen der Frauen in der Stadt, welche in unseren Kreisen heraufkommen?«
»Was sie wissen, ist in der Regel unsicherer als ihnen und uns gut ist,« versetzte Fritz, »aber von klein auf sind sie gewöhnt, mit Teilnahme die wissenschaftlichen Interessen der Männer zu begleiten. Die besten Resultate des geistigen Schaffens sind ihnen doch so leicht zugänglich, daß sie überall Anknüpfungspunkte für ein herzliches Verständnis finden. Hier aber, wie schön, wie liebenswert sich unsern Augen dies Leben darstellt, es ist vielleicht gerade darum so anziehend, weil es uns zugleich so fremdartig gegenübersteht.«
»Du übertreibst und wirst unwahr,« rief der Professor. »Gerade in diesen Tagen habe ich tief gefühlt, was wir über den Büchern leicht vergessen, wie groß die Rechte sind, welche eine edle Leidenschaft in unserm Leben hat. Wer kann sagen, was zwei Menschen einander so lieb macht, daß sie sich nicht scheiden können? Es ist nicht nur die Freude am Dasein des andern, nicht das Bedürfnis der Ergänzung des eigenen Wesens, auch nicht Sinn und Phantasie allein, welche das Fremde uns so innig verbinden. Ist denn nötig, daß die Frau nur das feinere Rohr wird, welches eine Oktave höher immer dieselben Noten tönt, welche der Mann spielt? Die Sprache ist arm für den mächtigen Ausdruck der Freude und Erhebung, welche ich in ihrer Nähe empfinde, und ich kann dir nur sagen, mein Freund, das ist etwas Gutes und Großes, und es fordert in meinem Leben sein Recht. Was aber jetzt aus dir spricht, das ist nur der kalte Zweifler Verstand, der allem Werdenden abhold so lange seine Ansprüche erhebt, bis er durch die vollendete Tat widerlegt ist.«
»Es ist nicht allein der Verstand,« versetzte Fritz gekränkt. »Daß du meine Rede verkennst, habe ich nicht verdient. War es anmaßend, daß ich mit dir über Gefühle gesprochen habe, welche dir jetzt heilig gelten, so darf ich zu meiner Entschuldigung sagen, daß ich nur die Rechte in Anspruch nahm, welche mir deine Freundschaft bis zu dieser Stunde eingeräumt hat. Ich mußte meine Pflicht gegen dich tun, bevor ich dich hier verlasse. Kann ich dich nicht überzeugen, so suche diese Unterredung zu vergessen, ich werde dies Thema nie wieder berühren.«
Er ließ den Professor am Fenster stehn und wandte sich zu seinem Lager. Diesmal zog er die Stiefel leise aus und legte sich auf sein Bett, den Kopf zu der Wand gekehrt. Nach einer Weile fühlte er seine Hand ergriffen, der Professor saß an seinem Lager und hielt die Hand des Freundes fest, ohne ein Wort zu sprechen. Endlich entzog sie ihm Fritz mit herzlichem Druck und wandte sich wieder zur Wand.
Im ersten Morgengrauen stand er auf, trat leise an das des schlummernden Gelehrten und ging still zur Tür hinaus. Im Wohnzimmer erwartete ihn der Hausherr, der Wagen fuhr vor, ein kurzer, freundlicher Abschied und Fritz fuhr davon und ließ seinen Freund allein unter den Grillen des Feldes und unter den Ähren, deren schwere Häupter sich im Morgenwind hoben und senkten, gleich den Wellen des Meeres, in diesem Jahr wie vor tausend und abertausend Jahren.
Der Doktor sah zurück auf den Stein, der das alte Haus trug, auf die Terrasse darunter mit dem Friedhofe und der Holzkirche, und auf den Laubwald, welcher den Fuß der Anhöhe umzog. Und alle Vergangenheit und Gegenwart der gefährlichen Stätte waren ihm deutlich. Das uralte Wesen aus der Sachsenzeit hatte sich an diesem Orte nur wenig geändert. Und er sah den Felsen und die schöne Ilse von Bielstein, wie sie vor Menschengedenken gewesen waren. Damals war der Stein einem Heidengotte heilig, schon damals hatte ein Turm darauf gestanden und die Ilse hatte darin gewohnt mit ihren gescheitelten blonden Haaren, im weißen Linnengewand, einen Pelz von Otterfell darüber. Damals war sie Priesterin und Prophetin gewesen für einen Stamm wilden Sachsenvolks. Wo jetzt die Kirche stand, war die Opferstätte gewesen, und das Blut der gefangenen Feinde war von dort heruntergerieselt in das Tal.
Wieder später hatte ein christlicher Sachsenhäuptling dort sein Balkenhaus gebaut, und wieder hatte dieselbe Ilse darin gesessen zwischen den hölzernen Pfosten, auf dem erhöhten Raum der Frauen, und sie hatte die Spindel gedreht oder den Männern schwarzen Met in die Schale gegossen.
Jahrhunderte später war das gemauerte Haus mit steinumfaßten Fenstern und einem Wartturm auf dem Felsen errichtet worden als Nest eines räuberischen Junkers, und die Ilse von Bielstein hatte wieder darin gehaust in einer samtnen Schaube, die der Vater auf des Königs Heerstraße den Kaufherren geraubt hatte, und wenn das Haus von einem Feinde berannt wurde, stand die Ilse unter den Männern auf der Mauer und spannte die große Armbrust wie ein Reitersknecht.
Und viele hundert Jahre später hatte sie in dem Jagdschloß eines Fürsten gesessen, bei ihrem Vater, einem alten Kriegsmann aus der Schwedenzeit. Damals war sie spießbürgerlich und fromm geworden, sie kochte Beeren zu Mus und ging hinunter zum Pfarrer in das Konventikel, sie wollte keine Blumen tragen und schlug mit dem Finger in der Bibel nach, welchen Mann ihr der Himmel bescheren würde.
Jetzt aber stand dasselbe Sachsenkind seinem Freunde gegenüber, hoch und kräftig an Leib und Seele, aber immer noch ein Kind des Mittelalters, gefaßt und still, mit gleichmäßigem Ausdruck des schönen Angesichts, der nur wechselte, wenn einmal plötzliche Leidenschaft durch das Herz fuhr; ein Gemüt wie im Halbschlaf, ein so einfaches Gefüge des Geistes, daß man zuweilen nicht wußte, war sie sehr klug oder einfältig. An ihrem Wesen hing etwas von allem, was die Ilsen seit zwei Jahrtausenden gewesen: ein Stück Alraune, Metspenderin, Reiterstochter, Pietistin. Es war die altdeutsche Art und die altdeutsche Schönheit, aber daß sie jetzt mit einemmal auch noch das Weib eines Professors werden sollte, das dünkte dem bekümmerten Doktor zu sehr gegen alle Gesetze ruhiger geschichtlicher Entwicklung.