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1881
Jahr in Waffen! Jahr du des Kampfs!
Keine süßlichen Reime, keine schmachtenden Verse für dich, schreckliches Jahr!
Nicht du, wie ein blasses Poetlein, sitzend am Pult, leise lispelnd Kadenzen:
Nein, wie ein Starker, aufrecht, gekleidet in Blautuch,
Vorwärts schreitend, hoch ein Gewehr auf der Schulter,
Wohlgeknorpelt dein Leib, mit sonneverbranntem Antlitz und Händen,
Im Gurt ein Messer zu deiner Seiten:
Also hört' ich dich rufen laut, deine klangvolle Stimme schallend über das Festland;
Deine männliche Stimm', o Jahr, als, aufgeh'nd zwischen den großen Städten,
Bei den Männern Manhattans
Manhattan, oder Mannahatta – Newyork. ich dich sah, ein Arbeiter ich, ein Wohner in Manhattan!
Sieh', weitschrittig flogst durch die Prärien du, her von Illinois und Indiana;
Rasch überschrittest den Westen du mit springendem Gang, stiegst herab von den Alleghanies;
Stiegst herab von den großen See'n, herab durch Pennsylvanien, oder, auf dem Verdeck, den Ohio abwärts;
Oder südlich, längs dem Tennessee-Strom, längs dem Cumberland-Strom, oder zu Chattanooga, auf Gipfeln der Berge,
Sah deinen Gang ich, sah deine sehnigen Glieder ich, gekleidet in Blau, tragend Waffen, rüstiges Jahr;
Vernahm dein entschlossenes Rufen ich, wieder und wieder schallend hinaus;
Jahr du, das plötzlich sang mit den Mäulern rundlipp'gen Geschützes,
Neu jetzt beschwör ich dich, stürmendes, malmendes, trübes, zerrüttetes Jahr!
Auf aus euren grundlosen Tiefen, o Tage, steigt, bis wilder und stolzer ihr hinzieht!
Lang für meine Seel', ein hungernder Gymnast, was die Erde mir gab, verschlang ich;
Lang durchschweift' ich die Wälder des Nords – lang lauscht' ich Niagaras
Niagara. Güssen;
An der Brust der Prärien lag ich und schlief, – überklomm die Plateaus, die Nevadas;
Längs dem Weltmeer die türmenden Felsen hinan stieg ich, – fuhr aus in die See;
Fuhr hin durch den Sturm, ward erfrischt durch den Sturm;
Sah mit Lust die drohenden Schlünde der Wellen;
Sah die weißen Kämme, wo sie jagten hochhin, stürzend über;
Hörte pfeifen den Wind, sah das schwarze Gewölk;
Sah, was sich hob und stieg aus der Tiefe (O, prächtig! O, wild wie mein Herz, und machtvoll!);
Hörte den ununterbrochenen Donner, wie er brüllte hinter dem Blitz her;
Sah des Blitzes dünne zackige Fäden, wie sie jäh und schnell durchs Getös sich zagten quer übern Himmel;
– Dies, und was diesem gleich ist, gehoben sah ich!
Sah's mit Verwunderung, doch sinnend und meisternd es!
All' die droh'nde Gewalt des Erdballs empört rund um mich;
Doch dort mit der Seele genoß ich, – genoß ich zufrieden, gebieterisch.
Es war wohl, o Seele! wohl hast du bereitet mich!
Jetzt schreiten wir vor, unsern heimlichen größeren Hunger zu stillen;
Jetzt gehn wir hinaus, zu empfangen, was Erde und See nie uns gaben!
Nicht durch die mächtigen Wälder, o nein, wir gehn durch die mächtigern Städte;
Etwas für uns ergießt sich nun, mehr als Niagaras Güsse;
Ströme von Männern (Quellen und Bächlein Nordwestens, seid fürwahr unerschöpflich ihr?);
Was, gegen das Pflaster, die Heimstätten hier, jene Stürme der Berge, des Meeres?
Was, gegen die Leidenschaften ringsum, damals die See, die empörte?
Pfiff der Wind die Pfeife des Todes dort, unter dem schwarzen Gewölke?
Sieh', aus grundlosern Tiefen ein Etwas hier, das tödlicher ist und grimmer;
Manhattan, sich hebend, vorschreitend mit drohender Stirn, Cincinnati, Chicago, entfesselt;
– Was das schwellende Wogen des Ozeans dort? Sieh', was kommt hier!
Wie es aufklimmt, wagend, mit Fuß und Hand! wie es schmettert!
Wie der wahre Donner brüllt hinter dem Blitz! wie es flammt, das Flackern des Blitzes!
Wie mit Rächergang die
Demokratie zuschreitet durchs Dunkel, beschienen vom Blitz!
Doch ein Klagen, schien mir's, ein leises Schluchzen vernahm ich durchs Dunkel, –
In den Pausen des rasenden Wirrwarrs.
Donnre zu! schreite zu, Demokratie! schlage mit rächendem Schlag!
Und ihr, steigt höher als je noch, o Tag' ihr, o Städte!
Malmt schwerer, schwerer, o Stürme noch! ihr habt wohl mir getan!
Meine Seel', in den Bergen gekräftigt, saugt ein eure starke, unsterbliche Nahrung.
Lang meine Städte bewandelt hatt' ich, meine Pfade durchs Feld, durch die Hofstätten, halb nur befriedigt;
Ein Zweifel, widrig, ringelnd wie eine Schlange sich, auf dem Boden kroch er vor mir;
Allimmer meinen Schritten voraus, oft wandt' er zurück sich wider mich, voll Hohnes leise zischend;
– Die geliebten Städte verließ ich, – ergriff die Gewißheiten, einzig gemäß mir;
Hungernd, hungernd, hungernd nach ursprünglicher Kraft, nach des Alls Unerschrockenheit,
Mit ihr nur erfrischt' ich mich, hatt' an ihr nur Gefallen.
Des Losbrechend harrt' ich verhaltener Glut, – harrte lang auf dem Wasser, lang in der Luft.
Jetzt aber harr' ich nicht länger, – voll bin ich befriedigt, – gesättigt vollauf;
Ich habe geschaut den wahrhaftigen Blitz, – geschaut meine Städte elektrisch;
Ich hab' es erlebt: losbrach der Mensch, – aufsprang Amerika kriegrisch;
Fortan die Nahrung such' ich nicht mehr der einsamen Wüsten des Nordens,
Schweife fortan auf den Bergen nicht mehr, noch besegl' ich die stürmische See.
Halt machen seh' ich vor mir nun ein Heer, das auf dem Marsche;
Unten ein fruchtbar Tal, gestreckt, mit Scheuern, Sommergärten;
Rückwärts die Bergwand, breit gestuft, jäh manchmal, hoch sich hebend;
Mit Felsen und hangenden Zedern oft durchbrochen, dunkeln Gestalten;
Zahlreiche Feuer nah und fern, bis hoch hinauf in die Berge;
Die schattigen Formen von Mann und Roß, auftauchend, groß, im Dunkeln;
Und der Himmel, der Himmel drüber rings, – unerreichbar fern, – besetzt mit den ew'gen Sternen.
Gebadet im Dufte des Kriegs, – weichzarte Flagge du!
O, dich rufen zu hören die Schiffer, die Krieger! Flagge du, wie ein schönes Weib!
O, zu hören das Trapp, Trapp einer Million dir folgender Männer! O, die Schiffe, die sie bemannen mit Lust!
O, dich hüpfen und winken zu sehn von den schlanken Masten der Schiffe!
O, dich niederäugeln zu sehn auf die Schiffer, die Krieger auf den Verdecken!
Flagge, wie Augen von Weibern du!
Ein Marsch in den Reih'n hart bedrängt, und der Weg uns fremd;
Ein Pfad durch dichtesten Wald, mit gedämpftem Schritt im Dunkeln!
Unser Heer geschwächt durch schweren Verlust, und der murrende Rest auf dem Rückzug;
Bis nach Mitternacht wir schimmern sehn ein Bauwerk, trüb erleuchtet.
Halt machen in einer Lichtung wir, vor dem Bauwerk, trüb erleuchtet;
Eine alte Kirch am Kreuzweg ist's, – ein Spital jetzt aus dem Stegreif;
– Eintretend, auf Minuten nur, o, welche Schau erblick' ich!
Kein Gedicht, kein Bild, jemals gemacht, reicht an
die Schau, nicht eines!
Schatten vom tiefsten, tiefsten Schwarz, nur erhellt von wandelnden Lichtern,
Und von einem Pechkranz, sprüh'nd durch Rauch mit wilder roter Flamme;
Dunkel nun seh' Gestalten ich, auf den Boden gelegt, in die Sitze;
Mir zu Füßen, deutlicher, ein Soldat, ein junger, fast noch ein Knabe,
In Gefahr, zu Tode zu bluten sich (ein Schuß traf in den Leib ihn);
Ich stille das Blut für den Augenblick (weiß des Burschen Gesicht, wie 'ne Lilie);
Dann, eh' ich scheide, blick' ich umher, mir alles einzuprägen;
Gesichter, Gestalten, Stellungen, – unbeschreibliche, – tot schon viele!
Wundärzte schneidend, Wärter mit Licht, der Geruch von Blut und Äther;
O, die vielen blut'gen Gestalten rings, – draußen der Hof gefüllt auch!
Auf der Erde die, auf Brettern die, auf Bahren, – einige sterbend!
Zuweilen ein Schrei, – dazwischen laut der herrschende Ruf des Arztes;
Der Schein der Fackeln, rückgeblitzt von den kleinen Stahlwerkzeugen: –
Das alles, singend, fass' ich in eins, – seh' die Sterbenden wieder, rieche den Duft;
Höre draußen das Befehlwort drauf: Tretet an, tretet an, meine Jungens! –
Doch erst hinab noch beug' ich mich auf den bleichen sterbenden Knaben:
Seine Augen offen, – sieh', er gibt mir noch ein halbes Lächeln;
Dann schließen seine Augen sich, – schließen ruhig sich, – und ich eil' hinaus ins Dunkel;
In die Reih'n hinaus, auf den Marsch hinaus,
Immerzu hinaus,
Auf den Weg, den fremden, dunkeln.
Eine Lagerschau, eine Schau im düstern Taggrau'n!
Wie mein Zelt so früh ich verlasse, schlaflos,
Wie langsam ich geh' in der kühlfrischen Luft
Den Pfad um das Hospitalzelt:
Seh' drei Gestalten auf Bahren ich liegen dort,
Hinausgestellt vor das Zelt, liegend unbewacht.
Die Decke gespreitet über jegliche,
Die weite, bräunliche, wollene Decke,
Die graue, schwere Decke, bergend, hüllend alles.
Neugierig halt' ich, – steh' in Schweigen.
Mit leisen Fingern vom Gesicht des Nächsten dann, des ersten, heb' ich die Decke:
Wer bist du, ältlicher Mann, so knochig und grimm, dein Haar wohl ergraut, um die Augen rings gesunken das Fleisch?
Wer bist du, mein lieber Kamerade?
Drauf zum zweiten hinschreit' ich, – und wer bist du, mein Kind, du mein Liebling?
Wer bist du, holder Knabe, mit Wangen noch blühend?
Drauf zum dritten, – ein Antlitz, nicht Kind, noch alt, sehr still, wie von schönem gelbweißen Elfenbein:
Jüngling, ich glaub', ich kenne dich, – glaube, dieses dein Antlitz ist das Antlitz des Christes selbst;
Tot und göttlich und Bruder von allen er, und hier wieder liegt er.
Als mühvoll ich schritt durch Virginias Wälder,
Zum Getön raschelnden Laubs, das mit Füßen ich trat, – denn im Herbst war's, –
Sah am Fuß eines Baums ich das Grab eines Kriegers;
Tödlich verwundet er, – auf dem Rückzug begraben, – leicht alles begriff ich;
Der Halt einer Mittagsstunde, – als: Auf, keine Zeit zu verlieren! Dies Zeichen doch blieb,
Gekritzt auf ein Täflein und genagelt an den Baum überm Grabe:
Kühn, treu, vorsichtig, und mein lieber Kamerad.
Lang, lange sinn' ich, – schreite zu meines Wegs dann;
Viel wechselnder Zeit, viel wechselndem Leben entgegen.
Doch oft, durch Leben und Zeit, jählings, – allein oder im Gewühl des Markts, –
Kommt vors Aug' mir jenes Soldatengrab, kommt die rauhe Schrift mir in Wäldern Virginias:
Kühn, treu, vorsichtig, und mein lieber Kamerad.
Aus Wolken nieder, im Mitternachtsschlaf, von manchem Gesicht im Kampfe,
Vom Blick der tödlich Verwundeten erst, von
dem Blick, nicht zu beschreiben,
Der Toten auf ihren Rücken, weit die Anne ausgebreitet, –
Träum' ich, träum' ich, träum' ich.
Von der freien Natur, von den Feldern, den Bergen,
Vom Himmel so schön nach dem Sturm, und bei Nacht vom Mond so geisterhaft leuchtend,
Lieblich scheinend, niederscheinend, wo die Gräber wir graben, und sammeln die Toten zuhauf, –
Träum' ich, träum' ich, träum' ich.
Längst sie vorüber, längst sie dahin, – Gesichter, und Gräben, und Felder:
Längst durchs Gemetzel mit schwieliger Ruh', längst von den Gefallnen
Abwärts eilt' ich zur Zeit. Jetzt aber von ihren Zügen und Leibern, bei Nacht,
Träum' ich, träum' ich, träum' ich.
Über das Blutbad prophetisch hub eine Stimme sich:
Seid nicht entmutigt, – Liebe löst die Fragen der Freiheit noch!
Die sich lieben, werden unbesiegbar sein!
Sieghaft noch werden sie machen Columbia.
Söhne der Mutter aller! ihr werdet noch sieghaft sein!
Höhnend der Angriffe rings der übrigen Welt lacht ihr noch!
Keine Gefahr je macht straucheln Columbias Freunde;
Tausend, tut's not, werden starr sich opfern für einen.
Von Massachusetts ein Mann wird eines Missouriers Kamerad sein.
Der von Maine, und vom heißen Karolina der, und ein dritter, ein Oregonese, werden Freunde sein dreieinig,
Werter einer dem andern, als alle Schätze der Erde.
Zärtlich nach Michigan werden Floridas Düfte sich schwingen;
Nicht die Düfte von Blumen, nein süßere, wallende über den Tod.
Brauch wird es sein, in den Häusern und Straßen männliche Neigung zu schau'n;
Flüchtig berührend Antlitz mit Antlitz, grüßen sich werden die Kühnsten, die Rauh'sten:
Die der Freiheit gehören, werden Liebende sein,
Die beharr'n in der Gleichheit, Kameraden sein.
Diese werden einen und binden euch, stärker als Reifen von Eisen;
Ich, in Entzückung, o Genossen, o Lande, mit der Liebe der Liebenden bind' ich euch.
Hofftet ihr, euch bänden zusammen die Männer des Rechts?
Bänd' ein Vertrag, ein geschriebner? oder bänden Waffen?
Nein, – nicht die Welt, noch irgend ein Ding, das da lebt, läßt also sich binden.
Weit von hier, auf einer Insel (wunderschön sie!)
Kauernd über einer Gruft, eine alte kummervolle Mutter,
Einst eine Königin, – hager jetzt und zerlumpt auf dem Boden sitzt sie,
Fallend ihr alt weiß Haar zerweht um ihre Schultern.
Zu ihren Füßen, ungebraucht, eine Königsharfe,
Lange schweigend. – Sie selbst auch schweigend, – klagend den Sohn, ihre Hoffnung im Bahrtuch;
Rings auf Erden leidvollst ihr Herz, weil das vollste von Liebe.
Doch ein Wort, alte Mutter!
Länger nicht, die Stirn zwischen den Knien, auf dem kalten Boden brauchst du zu kauern;
O, du brauchst nicht zu sitzen dort, gehüllt in dein alt weiß Haar, das zerwehte;
Denn wisse du: Er, den du klagst, ist nicht in der Gruft dort!
Eine Täuschung war's, – der Erbe, der Sohn, den du liebst, war in Wirklichkeit tot nicht;
Der Herr ist nicht tot, – auferstanden ist er, jung und stark, in einem andern Lande;
Während du weintest noch, dort bei deiner gefallenen Harfe, dort am Grabe,
Ward, um was du weintest, versetzt; ward entrückt es dem Grabe;
Die Winde begünstigten, die See segelte es;
Und jetzt, mit ros'gem und neuem Blut,
Durch ein neues Land hinwandelt es heut.
Die hier mitgeteilten Proben Whitmanscher Poesie wurden vom Übersetzer, in der Wochenausgabe der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 24. April 1868, mit den nachstehenden
Bemerkungen eingeleitet:
Walt Whitman.
Walt Whitman! Wer ist Walt Whitman? Die Antwort lautet: ein Dichter! Ein neuer amerikanischer Dichter! Seine Bewunderer sagen: der erste, der einzige Dichter, welchen Amerika bisher hervorgebracht. Der einzige spezifisch amerikanische Dichter. Kein Wandler in den ausgetretenen Spuren der europäischen Muse, nein, frisch von der Prärie und den Ansiedlungen, frisch von der Küste und den großen Flüssen, frisch aus dem Menschengewühl der Häfen und der Städte, frisch von den Schlachtfeldern des Südens, den Erdgeruch des Bodens, der ihn gezeugt, in Haar und Bart und Kleidern: ein noch nicht Dagewesener, ein fest und bewußt auf den eigenen amerikanischen Füßen Stehender, ein große Dinge groß, wenn auch oft seltsam, Verkündender. Und weiter noch gehen die Bewunderer: Walt Whitman ist ihnen der einzige Dichter überhaupt, in welchem die Zeit, die kreißende, ringende, suchende Zeit, ihren Ausdruck gefunden hat; der Dichter par excellence; der Dichter – »the poet.«
So auf der einen Seite die Bewunderer, in deren Reihen uns sogar ein Emerson begegnet; auf der andern dann freilich die Tadler, die Herabwürdiger. Neben dem ungemessenen Lobe, der begeisterten Anerkennung, der bittere, der beißende Spott, die kränkende Schmähung.
Das freilich kümmert den Dichter nicht. Das Lob nimmt er hin als ein ihm gebührendes; der Verachtung setzt er die Verachtung entgegen. Er glaubt an sich, sein Selbstgefühl ist unbegrenzt. »Er ist« (sagt sein englischer Herausgeber, W. M. Rossetti) »vor allem selbst der eine Mann, welcher die ernste Überzeugung hegt und bekennt, daß er, jetzt und in Zukunft, der Gründer einer neuen poetischen Literatur ist – einer großen Literatur – einer Literatur, wie sie zu der materiellen Größe und den unberechenbaren Geschicken Amerikas im Verhältnis steht. Er glaubt, daß der Kolumbus des Erdteils oder der Washington der Staaten nicht wahrhaftiger ein Gründer und Auferbauer dieses Amerikas gewesen ist, als er selbst in Zukunft einer sein wird. Gewiß eine erhabene Überzeugung, und vom Dichter mehr als einmal in prächtigen Worten ausgesprochen – keine prächtiger als das Gedicht, welches mit der Zeile beginnt:
»Kommt, unauflöslich will ich dieses Festland machen.«
Das klingt stolz. Ist der Mann in seinem Rechte, so zu reden? Treten wir ihm näher! Hören wir von seinem Leben und seinem Schaffen! Schlagen wir zuerst sein Buch auf!
Sind das Verse? Die Zeilen sind wie Verse abgesetzt, allerdings, aber Verse sind es nicht. Kein Metrum, kein Reim, keine Strophen. Rhythmische Prosa, Streckverse. Auf den ersten Anblick rauh, ungefüg, formlos; aber dennoch, für ein feineres Ohr, des Wohllauts nicht ermangelnd. Die Sprache schlicht, derb, geradezu, alles Ding beim rechten Namen nennend, vor nichts zurückschreckend, manchmal dunkel. Der Ton rhapsodisch, prophetenhaft, oft ungleich, das Erhabene mit dem Gewöhnlichen, bis zur Geschmacklosigkeit sogar, vermischend. Er erinnert uns zuweilen bei aller sonstigen Verschiedenheit, an unsern Hamann, aber an Carlyles Orakelweisheit, oder an die Paroles d'un Croyant. Aus allem heraus klingt die Bibel – ihre Sprache, nicht ihr Glaube.
Und was trägt uns der Dichter in dieser Form vor? Zunächst sich selbst, sein Ich, Walt Whitman. Dieses Ich aber ist ein Teil von Amerika, ein Teil der Erde, ein Teil der Menschheit, ein Teil des Alls. Als solchen fühlt er sich, und rollt, das Größte ans Kleinste knüpfend, immer von Amerika ausgehend und immer wieder auf Amerika zurückkommend (nur einem freien Volke gehört die Zukunft!), ein großartiges Weltpanorama vor uns auf. Durch dieses Individuum Walt Whitman und seinen Amerikanismus geht, wir möchten sagen, ein kosmischer Zug, wie er sinnenden Geistern eignen mag, die, der Unendlichkeit gegenüber, einsame Tage am Gestade des Meers, einsame Nächte unter dem gestirnten Himmel der Prärie verbracht haben. Er findet sich in allem und alles in sich. Er, der eine Mensch Walt Whitman, ist die Menschheit und die Welt. Und die Welt und die Menschheit sind ihm ein großes Gedicht. Was er sieht und hört, was er berührt, was immer an ihn herantritt, auch das Niedrigste, das Geringste, das Alltäglichste – alles ist ihm Symbol eines Höheren, eines Geistigen. Oder vielmehr: die Materie und der Geist, die Wirklichkeit und das Ideal sind ihm eins und dasselbe. So, durch sich selbst geworden steht er da; so schreitet er singend einher; so erschließt er, ein stolzer freier Mensch, und nur ein Mensch, weltweite soziale und politische Perspektiven.
Eine wunderbare Erscheinung! Wir gestehen, daß sie uns ergreift, uns beunruhigt, uns nicht losläßt. Zugleich aber merken wir an, daß wir mit unserm Urteil über sie noch nicht fertig, daß wir noch vom ersten Eindruck befangen sind. Unterdessen wollen wir, wahrscheinlich die ersten in Deutschland, wenigstens vorläufig Akt nehmen vom Dasein und Wirken dieser frischen Kraft. Sie verdient, daß unsere Dichter und Denker sich den seltsamen neuen Genossen näher ansehen, der unsere gesamte Ars poetica, der all unsere ästhetischen Theorien und Kanons über den Haufen zu werfen droht. In der Tat, wenn wir in diese ernsten Blätter hineingehorcht haben, wenn uns das tiefe volltönige Brausen dieser wie Meereswellen in ununterbrochener Folge auf uns einstürmenden rhapsodischen Gesetze vertraut geworden ist, so will unser herkömmliches Versemachen, unser Zwängen des Gedankens in irgendwelche überkommene Formen, unser Spielen mit Kling und Klang, unser Silbenzählen und Silbenmessen, unser Sonettieren und Strophen- und Stanzenbauen uns fast kindisch bedünken. Sind wir wirklich auf dem Punkt angelangt, wo das Leben, auch in der Poesie, neue Ausdrucksweisen gebieterisch verlangt? Hat die Zeit so viel und so bedeutendes zu sagen, daß die alten Gefäße für den neuen Inhalt nicht mehr ausreichen? Stehen wir vor einer Zukunftspoesie, wie uns schon seit Jahren eine Zukunftsmusik verkündigt wird? Und ist Walt Whitman mehr als Richard Wagner?
Über die Person und das Leben des Dichters erfahren wir, daß er ein Mann ist nahe den Fünfzigern. Er ist geboren am 31. Mai 1819. Sein Geburtsort das Dorf West Hills, auf Long Island, im Staate New-York. Sein Vater, nacheinander Landwirt, Zimmermann und Baumeister, ein Nachkomme englischer Ansiedler; die Mutter, Louise van Velsor, von holländischer Abstammung. Den ersten Schulunterricht erhielt der Knabe zu Brooklyn, einer Vorstadt von New-York, hatte sich aber schon mit dreizehn Jahren auf sich selbst zu stellen, zuerst als Drucker, später als Lehrer und Mitarbeiter an verschiedenen New-Yorker Blättern. Im Jahr 1849 finden wir ihn als Zeitungsredakteur zu New-Orleans, zwei Jahre später wieder als Drucker zu Brooklyn. Darnach war er eine Zeitlang, wie sein Vater, Zimmermann und Baumeister. Im Jahr 1862, nach dem Ausbruche des großen Bürgerkriegs (als enthusiastischer Unionist und Anti-Slavery-Man stand er unerschütterlich auf der Seite des Nordens), unterzog er sich, durch Emersons Vermittlung von Lincoln dazu ermächtigt, der Pflege der Verwundeten im Feld, und zwar, das hatte er vorher ausdrücklich bedungen, ohne alle und jede Remuneration. Vom Frühjahr 1863 an wurde diese Pflege, im Felde und mehr noch im Hospital zu Washington, seine »einzige Beschäftigung bei Tag und Nacht.« über die maßlose Selbstaufopferung, über die Freundlichkeit und Güte, die er bei dem schweren Werke bewies, herrscht nur eine Stimme. Jeder Verwundete, gleichviel ob aus dem Norden oder aus dem Süden, hatte sich derselben liebevollen Wartung von den Händen des Dichters zu erfreuen. Bis zum Ende des Krieges, sagt man, soll er mehr als 100,000 Kranke und Verwundete mit eigenen Händen gepflegt haben. Sechs Monate hindurch lag er selbst schwer darnieder; ein Hospitalfieber, die erste Krankheit seines Lebens, hatte ihn ergriffen. Nach dem Krieg erhielt er eine kleine Bedienstung im Ministerium des Innern zu Washington, verlor dieselbe jedoch im Juni 1865, als der Minister Harlan in Erfahrung gebracht hatte, daß Whitman der Verfasser des Buches »Leaves of Grass« (Grashalme) sei, dessen Derbheit oder, wie Hr. Harlan es ansah, Immoralität die ministerielle Brust mit heiligem Schauder erfüllte. Der Dichter fand indes bald einen anderen bescheidenen Posten auf dem Bureau des Attorney-General zu Washington. Dort lebt er jetzt. Des Sonntags, und manchmal auch in der Wache, besucht er immer noch die Hospitäler.
Whitman ist ein einfacher Mann, ein Mann von wenig Bedürfnissen, arm und, nach seinem eigenen Bekenntnis, ohne Talent für den Erwerb. Seine Stärke, sagte er einem Besucher, einem in London lebenden Amerikaner, Hrn. M.D. Conway, liege im »Bummeln und Gedichteschreiben« ( loafing and writing poems). Bei Wasser und Brot, hat er ausfindig gemacht, läßt sich im ganzen herrlich und in Freuden leben. Conway fand ihn (noch auf Long Island – vor dem Kriege wohl) bei einer Hitze von 100 Grad Fahrenheit auf dem Rücken im Grase liegen und in die Sonne starren. Recht wie Diogenes. »In seinen grauen Kleidern, seinem blaugrauen Hemde, seinen eisengrauen Haaren mit dem dunkeln sonnverbrannten Gesicht und bloßen Halse lag er auf dem versengten braunweißen Gras, und war der Erde, auf der er ruhte, so gleich, daß man ihn füglich für ein Stück davon hätte halten können.« Er fand es durchaus nicht zu heiß, und vertraute Conway, daß dies einer seiner Lieblingsplätze und eine seiner Lieblingsattitüden beim Dichten sei. Seine Wohnung fand Conway von der äußersten Einfachheit. Ein kleines Zimmer, dürftig eingerichtet, mit nur einem Fenster, das auf die sandige Einöde von Long Island hinaussah. Kein Buch im ganzen Zimmer. Doch sprach er von der Bibel, von Homer und Shakespeare als von Lieblingsbüchern in seinem Besitze. Zum Lesen habe er zwei besondere Studierstuben: die eine das Dach eines Omnibus, die andere Coney Island, ein unbewohntes Sandinselchen draußen im atlantischen Meere, meilenweit von der Küste. »Nun, der sieht aus wie ein Mann!« ( Well, he looks like a man!) soll Lincoln gerufen haben, als er Withman zuerst sah. Wir denken dabei an Napoleons Wort über Goethe: «Voilà, un homme!«
Seine Schriften sind bis jetzt die oben genannten »Leaves of Grass« (erste Auflage 1855, vom Dichter selbst gesetzt und gedruckt; zweite Auflage 1856; dritte Auflage 1860); dann, nach dem Kriege, »Drum Taps« (»Trommelschläge,« 1865) mit einem »Sequel,« worin eine herrliche Rhapsodie auf den Tod Abraham Lincolns, und im vorigen Jahr eine Gesamtausgabe mit einem Anhange: »Songs before Parting« (Lieder vor dem Scheiden). Eine Auswahl aus dieser Gesamtausgabe ist soeben in London von einem der englischen Bewunderer Whitmans, W.M. Rossetti, veröffentlicht worden. Sie hat die bedenklichsten Derbheiten der New-Yorker Originalausgabe ausgeschlossen, und der Herausgeber beabsichtigt durch sie die Veranstaltung und vorurteilslose Aufnahme einer vollständigen Ausgabe in England anzubahnen. Wir verdanken Hrn. Rossettis Vorrede zu seiner Auswahl die oben mitgeteilten Notizen über das Leben des Dichters.
Mit diesen Andeutungen lassen wir es diesmal genug sein, werden aber binnen kurzem auf den Mann zurückkommen, und vor allen Dingen einige Übersetzungsproben folgen lassen, obgleich es sein Mißliches hat, Whitman aus Proben zu beurteilen. Das »ex pede Herculem« ist gerade auf ihn kaum anwendbar; er will, wenn irgend ein Dichter, in seiner Totalität erkannt und gewürdigt werden.