Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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30. Kapitel.

Die fremde Dame.

Peggie war froh, daß Selwood in ihrer Nähe weilte, und er war dankbar, daß er gerade in dem Augenblick bei ihr sein konnte, in dem sie Rat und Hilfe brauchte. Beide hatten das sichere Gefühl, daß hinter diesen so unschuldig erscheinenden Zeilen mehr steckte, als sie ahnten. Es ging um Barthorpes Leben! Der Absender mußte also wissen, daß Barthorpe unschuldig angeklagt war, und daß ein anderer den Mord begangen hatte.

Einige Zeit starrte Peggie mit geröteten Wangen auf das Papier, dann sah sie ihren Begleiter fragend an. Selwood nahm Hut und Stock.

»Kommen Sie«, flüsterte er ihr zu.

Peggie sah nichts von den erstaunten und fragenden Blicken, die Selwood und ihr folgten, als sie durch die dichtbesetzte Kirche zum Ausgang schritten. Was mochte sie draußen erwarten? Unbewußt legte sie ihre Hand auf Selwoods Arm, als sie durch das große Kirchenportal ins Freie traten. Der Kirchhof war von einer hohen, kahlen Mauer umgeben, und ein eisernes Tor stellte die Verbindung mit der Außenwelt her. Vor diesem Eingang hielt ein Auto, und der Chauffeur stand in wartender Haltung an der Tür. Es war ein einfacher, aber eleganter Privatwagen, und der Chauffeur trug eine tadellose Livree. Als die beiden näherkamen, legte er die Hand an die Mütze und öffnete die Tür.

»Seien Sie vorsichtig«, flüsterte Selwood Peggie zu, als sie noch einige Schritte entfernt waren. »Überlassen Sie mir alles.«

Der Chauffeur schien nur Peggie einzuladen, Platz zu nehmen, aber Selwood war entschlossen, sie nicht zu verlassen. Der Text der geheimnisvollen Mitteilung und die heimliche Art und Weise, in der Peggie diese Nachricht zugesteckt wurde, hatte seinen Verdacht erregt.

Als sie in den Wagen hineinschauten, sahen sie dort eine ältere Dame mit weißen Haaren und sympathischen Gesichtszügen, die offenbar der besseren Gesellschaft angehörte. Ihre äußere Erscheinung verriet Pflege und Kultur. Sie neigte sich etwas vor und lächelte freundlich, halb entschuldigend.

»Habe ich die Ehre mit Miß Wynne?« fragte sie. »Wie geht es Ihnen? Zweifellos ist dieser Herr Mr. Selwood, von dem ich schon gehört habe. Sie müssen mein merkwürdiges Verhalten verzeihen. Ich weiß, daß mein Verlangen ungewöhnlich ist, aber ich handle nicht aus freiem Entschluß. Darf ich Sie beide bitten, in den Wagen zu kommen? Ich muß etwas mit Ihnen besprechen.«

Peggie war über diesen Empfang sehr erstaunt und wandte sich mißtrauisch an ihren Begleiter. Selwood hatte die ältere Dame scharf beobachtet und war davon überzeugt, daß sie keine schlechten Absichten hatte, aber trotzdem fühlte er sich verlegen.

»Würden wir diese Besprechung nicht besser im Hause von Miß Wynne abhalten?« erwiderte er. »Es liegt ganz in der Nähe, gleich hier um die Ecke.«

»Aber das möchte ich eben gerade nicht«, entgegnete die Dame und lachte vergnügt. »Ich wiederhole, ich handle nicht aus freier Entschließung. Es ist alles sehr merkwürdig und für Sie zweifellos sehr geheimnisvoll, aber ich führe die Anordnungen, fast möchte ich sagen Befehle eines anderen aus. Steigen Sie doch bitte ein. Der Chauffeur fährt uns langsam in der Gegend umher, bis Sie mich angehört haben. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich entführe Sie nicht. Es kann Ihnen doch auch nicht viel passieren, wenn Sie einige Minuten in Gesellschaft einer alten Dame im Auto zubringen.«

Selwood gab Peggie einen Wink, und sie stiegen ein.

»Dickerson«, wandte sich die Dame an ihren Chauffeur, »fahren Sie langsam hier herum, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe.«

Als sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte und in die Baker Street einbog, sah Selwood fragend auf die Dame.

»Würden Sie uns das Vergnügen machen, uns Ihren Namen zu nennen?«

Die ältere Dame nahm eine Visitenkarte und einige Papiere aus ihrer Handtasche.

»Ich bin Mrs. Engledew und wohne in einem der großen Häuserblocks, die Mr. Herapath erbaut hat. Ich glaube nicht, daß Sie schon jemals von mir gehört haben, Miß Wynne, aber ich kannte Ihren Onkel sehr gut. Wir waren seit vielen Jahren eng miteinander befreundet. Ich hielt es für gut, Ihnen meine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen, und habe deshalb einige seiner Briefe mitgebracht, die er mir früher schrieb. Sie erkennen sicher seine Handschrift wieder.«

Die beiden gaben das sofort zu, sahen sich aber erstaunt an.

»Sie werden überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich in die Ermordung Ihres Onkels verwickelt bin«, fuhr Mrs. Engledew fort. »Das klingt seltsam, trotzdem ist es wahr. Aber wir wollen vorläufig nicht über diesen Punkt sprechen. Ich habe Ihnen eine Botschaft zu überbringen und muß Sie um eine Antwort darauf bitten. Sicherlich wollen Sie doch Ihren Vetter retten?«

»Wir glauben, daß er unschuldig ist«, entgegnete Peggie.

»Er ist unschuldig an dem Morde. Nun hören Sie. Es gibt zwei Leute, die genau wissen, wer Ihren Onkel umgebracht hat, und einer von ihnen hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. In ihrem Auftrage spreche ich mit Ihnen. Sie sind bereit, Ihnen und der Polizei volle Aufklärung über den Mord zu geben, aber sie fordern eine Belohnung.«

Nach dieser Einleitung wurde Selwood wieder argwöhnisch. Diese Dame verstand zwar einschmeichelnd zu reden und liebenswürdig zu lächeln, aber sie hatte eben von einer Belohnung gesprochen, einem Preise für die Wahrheit in einem solchen Falle!

»Wie hoch ist die Summe?« fragte er.

»Zehntausend Pfund – in bar«, entgegnete Mrs. Engledew achselzuckend. »Sie erscheint sehr hoch, aber die Leute stellen nun einmal diese Bedingung. Wenn Miß Wynne sich verpflichtet, zehntausend Pfund zu zahlen, wollen sie nicht nur Aussagen machen, durch die der wirkliche Mörder von Jacob Herapath festgestellt werden kann, sondern sie wollen auch angeben, wie man ihn ergreifen kann.«

»Wann soll denn das sein?« fragte Selwood.

»Heute abend. Die Stunde kann ich Ihnen mitteilen, nachdem Sie die Bedingung angenommen haben.«

Selwood fühlte sich in einer schwierigen Lage. Mr. Tertius war heute nicht in der Stadt, da er einen alten Freund in Berkshire besuchte, und Mr. Halfpenny weilte auf seinem Landsitz. Er hätte sich zwar an Professor Cox wenden können, aber die Dame schien eine sofortige Antwort zu erwarten.

»Kennen Sie die beiden Leute näher?«

»Nur den einen, der für beide handelt.«

»Warum geben Sie ihn nicht der Polizei an, damit sie die Sache weiterverfolgt? Dadurch könnte man ihn doch zwingen, seine Aussage auch ohne Belohnung zu machen. Er darf doch für eine so selbstverständliche Sache kein Geld fordern!«

»Ich habe mein Wort gegeben, das nicht zu tun. Ich bin in die Sache verwickelt, allerdings ohne meine eigene Schuld, und ich bin sicher, daß niemand außer diesen beiden Leuten die Wahrheit kennt. Ebenso bestimmt weiß ich, daß sie ihre Kenntnis nicht ohne Entschädigung preisgeben. Die Polizei kann sie nicht zwingen, ihre Aussagen zu machen, wenn sie nicht wollen. Die Leute wissen ganz gut, daß sie uns in der Beziehung in der Hand haben.«

»Sie auch?« fragte Selwood.

»Auch mich. Und es ist für mich persönlich wichtig, daß sie die Aussagen machen. Ich bin nicht reich genug, die ganze Summe zu zahlen, aber ich will einen Teil davon tragen. Über tausend Pfund kann ich leider nicht hinausgehen, obwohl ich gerne mehr geben würde.«

Dieses Angebot machte Eindruck auf Selwood.

»Was fordern sie denn? Was schlagen sie vor?«

»Wenn Sie zustimmen, den beiden zehntausend Pfund zu zahlen, sollen Sie und Professor Cox heute abend mit ihnen zusammenkommen. Dann wollen sie die Zusammenhänge wahrheitsgetreu erzählen und Sie und die Polizei zu dem Mann bringen, der tatsächlich Mr. Herapath ermordet hat. Und es ist wichtig, daß alles dies heute abend geschieht.«

»Wo soll denn die Zusammenkunft stattfinden?«

»Das könnte in meiner Wohnung sein. Ja, es muß sogar dort sein, weil ich unglücklicherweise mit der Sache verknüpft bin. Wenn Sie mit den Bedingungen einverstanden sind, sollen Sie mich telefonisch benachrichtigen. Meine Nummer steht auf dieser Karte. Ich erwarte Ihren Anruf heute nachmittag um zwei, und teile Ihnen dann die Zeit unserer Zusammenkunft mit. Sie müssen aber das Geld in bar mitbringen.«

»Zehntausend Pfund in bar – noch dazu am Sonntag? Das ist doch unmöglich!«

»Nicht bares Geld in diesem Sinne«, entgegnete Mrs. Engledew. »Ein offener Scheck genügt auch. Und wenn die Leute ihr Versprechen nicht halten, können Sie den Scheck morgen früh bei der Bank sperren.«

»Das stimmt«, meinte Selwood und sah Peggie an, die bisher schweigend, aber aufmerksam der Unterredung zugehört hatte. »Sicher würde Miß Wynne gerne zehntausend Pfund opfern, um das Leben Ihres Vetters zu retten –«

»O, auch zwanzigtausend, irgendeine Summe«, rief Peggie. »Das Geld soll kein Hinderungsgrund sein.«

»Aber ich weiß nicht, ob Miß Wynne schon einen Scheck ziehen kann, wenigstens für eine so große Summe. Vielleicht kann Professor Cox uns darüber Aufschluß geben. Darf ich noch einige Fragen an Sie richten, Mrs. Engledew? Sie sagen, Sie kennen nur einen dieser Leute. Wissen Sie seinen Namen?«

»Nein. Es ist alles rätselhaft und geheimnisvoll.«

»Hat er Ihnen denn Beweise gebracht, daß sie auch wirklich imstande sind, zu halten, was sie versprochen haben?«

»Ich bin ganz sicher, daß sie den Mord aufklären können.«

»Haben Sie denn eine Ahnung, wer der Mörder ist?«

»Nein, nicht die geringste.«

»Nur noch eine Frage«, meinte Selwood schließlich. »Sind auch Vertreter der Polizei da, wenn Mr. Cox und ich kommen?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, was ich Ihnen mitgeteilt habe. Zahlen Sie den Leuten das Geld, so sagen sie Ihnen die Wahrheit und versetzen Sie und die Polizei in die Lage, den wirklichen Mörder zu fassen. Noch eins: Es ist eine Bedingung, daß Sie sich von jetzt ab bis heute abend nicht mit der Polizei in Verbindung setzen. Das muß den beiden selbst überlassen bleiben.«

»Ich verstehe vollkommen«, erwiderte Selwood. »Wir wollen jetzt aussteigen und sofort zu Professor Cox fahren. Um zwei Uhr rufe ich Sie an und gebe Ihnen Bescheid.«

Er bestieg mit Peggie ein Mietauto, das sie so schnell wie möglich nach Ensleigh Gardens brachte. Professor Cox hörte schweigend ihre sonderbare Geschichte.

»Mrs. Engledew – eine alte Freundin von Jacob – hat sich durch Briefe von ihm ausgewiesen – Mittelsperson und Vertreterin zweier Leute, die im Besitz eines Geheimnisses sind – will von sich aus tausend Pfund beisteuern?« wiederholte er kopfschüttelnd. »Ja, ich halte die Sache eigentlich für wahr. Die einzige Frage ist nur, ob Miß Peggie neuntausend Pfund für diesen Zweck zahlen will?«

»Die einzige Frage, mein lieber Professor«, entgegnete Peggie vorwurfsvoll, »ist die, ob ich einen Scheck über diese Summe ausstellen darf?«

»Warum nicht? Es ist doch alles in Ordnung, seitdem Barthorpe diesen verdammten Protest zurückgezogen hat. Das Testament ist vom Gericht bestätigt worden. Sie können sogar einen Scheck über fünfzigtausend Pfund ziehen, wenn Sie wollen!«

»Sie begleiten uns doch?« bat sie halb ängstlich.

»Natürlich! Aber jetzt bleiben Sie zunächst einmal hier und speisen mit mir. Um zwei Uhr wollen wir die Dame anrufen.«

Professor Cox und Peggie standen später atemlos neben Selwood, als er mit Mrs. Engledew telefonierte. Kurz darauf wandte er sich zu ihnen und nickte.

»Heute abend um neun sollen wir in ihre Wohnung kommen.«

 


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