Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11. Kapitel.

Schatten.

Mr. Halfpenny fuhr mit Tertius zur Upper Seymour Street.

»Mein lieber Tertius«, sagte er unterwegs, »was hat denn das alles zu bedeuten? Sagen Sie mir einmal, was Sie von der ganzen Geschichte halten.«

Der alte Herr seufzte tief und schüttelte den Kopf.

»Da wäre soviel zu berichten, Halfpenny, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.«

»Dann wollen wir zuerst einmal über die Ermordung unseres Freundes sprechen. Sind Sie übrigens davon überzeugt, daß er ermordet wurde?«

»Ja, das war ein kaltblütiger, wohlüberlegter Mord«, erwiderte Tertius mit Nachdruck. »Eine ganz niederträchtige Tat.«

»Haben Sie gar keinen Anhaltspunkt für eine Aufklärung? Oder vermutet vielleicht Barthorpe etwas?«

Tertius schwieg eine Weile.

»Ich glaube, daß ich etwas gefunden habe. Wenn wir diesen Besuch gemacht haben, möchte ich Sie bitten, mit zu meinem Freunde Cox zu kommen. Sie kennen ihn ja. Ich habe ihn heute morgen schon in dieser Angelegenheit aufgesucht und ihm allerhand anvertraut. Dort kann ich Ihnen etwas zeigen, und dann können wir einmal miteinander beraten, was wir unternehmen. Meiner Meinung nach ist allergrößte Vorsicht notwendig. Dieser Fall ist außergewöhnlich und schwierig.«

»Ja. Ich muß schon sagen, daß ich über dieses Testament sehr erstaunt bin«, entgegnete Mr. Halfpenny nachdenklich. »Daß er Barthorpe ganz übergangen hat, ist erstaunlich, aber das mag Gründe haben, die wir nicht kennen. Haben Sie denn niemals von Differenzen zwischen ihm und seinem Onkel gehört?«

»Ich habe nicht die entfernteste Ahnung, in welchen Beziehungen die beiden zueinander standen. Aber ich bin ganz sicher, daß Jacob Herapath dieses Testament mit einer ganz bestimmten Absicht abfaßte. Er überlegte alles sehr genau.«

In diesem Augenblick hielt der Wagen vor dem Hause Nr. 331, und die Wirtin öffnete ihnen selbst.

»Nein, dieser Herr wohnt nicht mehr hier«, erwiderte sie auf ihre Frage. »Er hat mir, während er hier wohnte, mehr Mühe und Umstände gemacht als irgendein anderer Mieter. Mitten in der Nacht oder früh am Morgen kam er nach Hause. Niemand verkehrte mit ihm, und niemand fragte nach ihm, soweit ich mich besinnen kann. Und heute morgen kommen plötzlich gleich drei Herren innerhalb einer Stunde – außer Ihnen war nämlich schon ein Herr hier. Und dabei weiß ich nicht einmal, wo Mr. Burchill jetzt wohnt!«

»Meine liebe Frau«, sagte Mr. Halfpenny begütigend, »es tut mir sehr leid, daß wir Sie gestört haben. Sicher sind Sie von Ihrem Essen aufgestanden.« Er drückte ihr einige Silberstücke in die Hand. »Wir möchten Sie natürlich für Ihre Mühe entschädigen, aber wir müssen Mr. Burchill dringend sprechen. Hat er denn gar keine Adresse hinterlassen?«

»Nein, wenn ich sie wüßte, hätte ich sie Ihnen längst mitgeteilt. Ich habe nichts mehr von ihm gesehen und gehört, seit er vor sechs Monaten wegzog.«

»Der Herr, der vorhin hier war, muß ein Freund von ihm gewesen sein. Wie sah er denn ungefähr aus? Können Sie ihn beschreiben?«

»Er war groß und schlank und sah frisch und gesund aus. Glattrasiert war er auch. Er kann noch nicht weit sein. Es ist noch keine Viertelstunde her, daß er hier war. Ich will einmal mein Mädchen fragen, ob sie gesehen hat, in welche Richtung er gegangen ist.«

»Das war niemand anders als Barthorpe!« rief Halfpenny.

»Machen Sie sich unsertwegen keine Umstände, liebe Frau. Wir sind Ihnen sehr zu Dank verbunden.«

Sie gingen wieder zum Wagen zurück.

»Aber warum wollte der denn Burchill sprechen?«

»Er wollte wohl vor allem wissen, wie sich Burchill zu der ganzen Sache stellt, und was er dazu sagt, wenn er erfährt, daß seine Unterschrift unter dem Testament steht. Was wollen wir jetzt unternehmen? Fahren wir zu Cox?«

Mr. Tertius, der nachdenklich auf dem Gehsteig stand, wurde durch diese Frage aus seinen Gedanken gerissen.

»Ja, selbstverständlich. Das ist das Beste, was wir im Augenblick tun können. Ich werde Ihnen dann auch noch von einem Chauffeur erzählen.«

Cox empfing die beiden in seinem Laboratorium. Mr. Tertius erzählte zum zweitenmal alles, was er von dem Fall wußte, und weihte Mr. Halfpenny in seine Entdeckung ein.

Der Rechtsanwalt hörte aufmerksam zu und besichtigte dann die Gegenstände.

»Es bleibt uns nur eins übrig, Tertius«, sagte er dann entschieden. »Wir beide müssen sofort zum Polizeipräsidium fahren. Am besten machen wir uns sofort auf. Das ist ein komplizierter Fall.«

»Soll ich auch mitkommen und die Beweisstücke gleich vorzeigen?« fragte der Professor.

»Nein, besser noch nicht. Auch den Chauffeur, der mit Mr. Tertius gesprochen hat, wollen wir noch nicht zur Polizei bringen.«

Eine halbe Stunde später saßen Mr. Halfpenny und Mr. Tertius einem höheren Beamten von Scotland Yard und Inspektor Davidge gegenüber, der den Fall offiziell bearbeitete.

Die beiden Beamten folgten dem Bericht mit größter Aufmerksamkeit, und der Vorgesetzte des Inspektors nickte zustimmend.

»Das Wichtigste ist Schweigen«, meinte er. »Sie beide dürfen niemand etwas mitteilen. Während der nächsten Tage wird sich die Öffentlichkeit sowieso stark mit dem Fall beschäftigen, weil die Totenschau abgehalten wird. Wir werden uns nicht viel um diese Verhandlung kümmern, obwohl es dann wieder heißt, daß die Polizei nichts tut. Aber im geheimen arbeiten wir um so eifriger. Vor allem müssen wir sofort Mr. Barthorpe Herapath genau beobachten und ihn nicht aus den Augen lassen, bis wir ihn – zum Verhör vorladen.«

Halfpenny und Tertius waren mit dem Resultat ihrer Besprechung zufrieden, als sie wieder im Auto saßen.

»Tertius«, sagte der Rechtsanwalt, »ich möchte die größte Wette mit Ihnen eingehen, daß Barthorpe nicht die geringste Ahnung davon hat. Aber wenn Scotland Yard erst jemand verdächtigt, bleibt er keine Minute unbeobachtet!«

 


 << zurück weiter >>