Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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28. Kapitel.

Hotel Ravenna.

Als die vier wieder in Mr. Halfpennys Büro versammelt waren, sah der alte Rechtsanwalt fragend auf Professor Cox.

»Nun, was halten Sie von unserem Besuch?«

»Der Erfolg war gut. Wir haben doch Verschiedenes herausgebracht. Dieser Bankdirektor ist ein schrecklich eingebildeter Kerl, der nur seine Ein- und Auszahlungen kennt. Sonst hat er keine Ahnung von der Welt. Er hätte natürlich diese Dinge sowohl bei der Totenschau als auch vor dem Polizeigericht vorbringen müssen. Es ist sicher, daß er hierüber als Zeuge bei der Hauptverhandlung gegen Barthorpe Herapath vernommen werden muß.«

»Welche Dinge meinen Sie denn?« fragte Halfpenny ein wenig kurz.

»Wir haben zwei neue Tatsachen«, erwiderte der Professor. »Zunächst wissen wir, daß Jacob Herapath um drei Uhr fünftausend Pfund in Hundertpfundnoten abhob; zweitens stellte er irgendwann am zwölften einen Scheck zugunsten eines gewissen Luigi Dimambro aus, der sofort am nächsten Morgen bei der Öffnung der Bank abgehoben wurde.«

»Offengestanden, mein lieber Cox, weiß ich nicht, was Sie mit diesen Dingen beweisen wollen.«

»Das kann ich mir denken«, entgegnete der Professor unbeirrt wie immer. »Aber mir sagen sie sehr viel. Vor allem ersehe ich daraus, daß Jacob Herapath aller Wahrscheinlichkeit nach die betreffenden Banknoten bei sich hatte, als er ermordet wurde.«

»Das leuchtet mir nicht ein«, widersprach Mr. Halfpenny. »Er hat die fünfzig Hundertpfundnoten um drei Uhr nachmittags bekommen, und nach Aussage des Arztes wurde er nachts um zwölf ermordet. In neun Stunden hatte er doch genügend Zeit, das Geld auszuzahlen. Und die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß er das getan hat.«

»Erinnern Sie sich aber doch bitte an die Aussagen bei der Totenschau«, sagte der Professor. »Jacob Herapath ging um halb vier zum Parlament und blieb dort, bis der Chauffeur ihn um Viertel nach elf abholte. Es ist nicht anzunehmen, daß er im Parlamentsgebäude selbst geschäftliche Transaktionen vornahm.«

»Es bleibt aber die Zeit zwischen drei und halb vier«, wehrte sich Mr. Halfpenny.

»Ganz recht, aber wir haben noch nichts von einem Geschäft während dieser Zeit gehört. Wahrscheinlich hatte er die Scheine am Abend noch bei sich. Abgesehen davon hat doch Barthorpe Selwood mitgeteilt, daß er eine der Banknoten auf dem Schreibtisch seines Onkels fand.«

»Das ist eine einzige Note«, rief Mr. Halfpenny.

»Ganz recht«, gab der Professor zu. »Aber könnte es nicht sein – das ist natürlich nur meine Vermutung –, daß Jacob die Banknoten auf dem Schreibtisch vor sich liegen hatte, als er ermordet wurde, und daß der Täter sie zusammenraffte, in der Eile aber eine zurück ließ? Was sagen Sie dazu?«

»Das ist doch alles nur graue Theorie«, rief Mr. Halfpenny. »Trotzdem werde ich natürlich alle möglichen Nachforschungen anstellen, um herauszubringen, ob Jacob an jenem Nachmittag jemand fünftausend Pfund ausgezahlt hat.«

»Ich möchte nur wissen, wofür er diesen Scheck mit den dreitausend Guineen gezogen hat?« fuhr Cox fort. »Das Geld wurde einem gewissen Luigi Dimambro ausgezahlt, der im Hotel Ravenna, Soho, wohnte, wenn man dem schriftlichen Vermerk auf der Rückseite des Schecks Glauben schenken darf. Offensichtlich handelt es sich um einen Italiener oder Korsen. Wahrscheinlich hat Jacob Herapath etwas von ihm gekauft und erst nach Schluß der Bank mit dem Scheck gezahlt.«

»Woraus wollen Sie das ableiten?« fragte Halfpenny wieder.

»Weil Dimambro den Scheck einlöste, sobald die Bank am nächsten Morgen öffnete. Wenn er ihm den Scheck am zwölften vor vier Uhr nachmittags gegeben hätte, wäre er wahrscheinlich noch am selben Tage kassiert worden.«

»Es wäre aber auch möglich, daß Herapath ihm den Scheck per Post zugeschickt hat«, bemerkte Mr. Halfpenny.

»Gewiß, das wäre auch möglich. Aber eben kommt mir der Gedanke, daß dieser Dimambro vielleicht der Fremde war, der Jacob Herapath am Abend im Parlamentsgebäude aufsuchte, und in dem Mountain keinen der gewöhnlichen Freunde seines Herrn erkannte. Verstehen Sie, was ich meine?«

Mr. Tertius und Selwood stimmten ihm bei, nur Mr. Halfpenny schüttelte den Kopf.

»Wenn dieser Ausländer mit dem Mann identisch ist, der Jacob Herapath im Parlament aufsuchte, dann sehe ich nicht ein, was das mit dem Mord zu tun hat. Jacob Herapath hatte Geschäftsverbindungen mit den merkwürdigsten Leuten angeknüpft – Italienern, Spaniern, Chinesen. Er kaufte alle möglichen Kuriositäten und verkaufte sie oft gleich wieder.«

»Sehen Sie, das hilft mir schon wieder weiter«, erwiderte der Professor. »Es ist doch möglich, daß er von diesem Dimambro etwas Wertvolles kaufte, vielleicht erst spät am Abend. Vielleicht hatte er diesen Gegenstand auch noch bei sich, als er ermordet wurde. Auf jeden Fall müssen wir Dimambro auftreiben!«

»Wenn er aber der Fremde war, der Jacob Herapath im Parlament aufsuchte, so dürfen wir nicht vergessen, daß schon in allen möglichen Blättern erfolglos nach ihm annonciert wurde«, meinte Selwood.

»Das weiß ich alles. Aber er könnte doch zum Beispiel nicht in England sein. Vielleicht ist er nur mit der Absicht hergekommen, Jacob Herapath aufzusuchen, und ist dann gleich wieder abgereist. Ich wiederhole nochmals, daß wir ihn unter allen Umständen finden müssen. Zu diesem Zweck wollen wir einmal vorsichtig im Hotel Ravenna nachforschen, das sich bei Fremden ja eines gewissen Rufes erfreut. Soviel ich weiß, ist es auch als Restaurant ziemlich bekannt. Selwood eignet sich dafür am besten.« Er klopfte dem jungen Mann auf die Schulter.

Selwood hatte aber keine besondere Neigung für die Durchführung dieses Auftrages, da ihm Detektivarbeit durchaus nicht lag. Er meinte, der Professor würde dazu viel besser die Hilfe von Scotland Yard in Anspruch nehmen.

»Das wäre das Verkehrteste«, entgegnete Cox ruhig. »Sie werden das sicher sehr gut erledigen. Eine Einmischung der Polizei können wir nicht gebrauchen. Am besten gehen Sie hin und essen dort, das fällt am wenigsten auf. Halten Sie Ihre Augen offen und versuchen Sie, mit dem Wirt ins Gespräch zu kommen. Sehen Sie einmal zu, ob er diesen Luigi Dimambro kennt. Es ist weiter nichts nötig als etwas Vorsicht, Takt und Anpassungsvermögen.«

Als sie Halfpennys Büro verlassen hatten, nahm er Selwood auf der Straße noch einmal beiseite und gab ihm genaue Instruktionen. Er war über diese letzten neuen Nachrichten, die sie bekommen hatten, sehr zufrieden, und etwas von seiner zuversichtlichen Stimmung teilte sich auch Selwood mit.

Noch am selben Abend führte der junge Mann sein Vorhaben aus. Von außen machte das Hotel Ravenna doch einen vornehmeren Eindruck, als er erwartet hatte, und nach der inneren Einrichtung zu schließen, handelte es sich um ein italienisches Unternehmen. Dafür sprachen vor allem die zahlreichen Spiegel, die überladenen Goldrahmen und die roten Plüschgarnituren. Er sah auf die Uhr, es war halb acht. Das Restaurant war gut besucht, und zwar meistens von Fremden. Die Mehrzahl stand beruflich wohl der Theater- und Musikwelt nahe. Es herrschte eine fröhliche Stimmung, und alle Leute schienen zu gleicher Zeit zu reden und aufeinander einzusprechen. In die laute Unterhaltung mischte sich das Geklapper von Tellern und Schüsseln. Sicher war es nicht leicht, in diesem Lokal einen Mann zu suchen, den man obendrein noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Selwood ließ sich von einem Kellner zu einem leeren Sitz führen, und nachdem er ein einfaches Abendbrot und eine Flasche Wein bestellt hatte, steckte er sich wie alle anderen eine Zigarette an.

Er betrachtete alle Menschen, die in seinen Gesichtskreis kamen, aber von allen Leuten interessierte ihn eigentlich nur der große Herr im Frack mit den schwarzen Locken. Wahrscheinlich war er der Eigentümer des Lokals, der in dem Raum auf und ab ging, nach allen Seiten hin lächelte und Verbeugungen machte. Auf der Speisekarte las Selwood, daß der Mann Alessandro Bioni hieß, und während des Essens überlegte er sich, wie er zu Werke gehen wollte. Sicher wußte man hier etwas über Luigi Dimambro. Nach einiger Zeit erkundigte sich Mr. Bioni bei dem neuen Gast, ob er auch nach Wunsch bedient würde. Selwood nützte diese Gelegenheit.

»Habe ich das Vergnügen, mit dem Besitzer des Lokals zu sprechen?« fragte er.

»Ich bin der Geschäftsführer«, entgegnete der andere. »Der Eigentümer ist ein alter Herr, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat.«

»Würden Sie mir eine Frage beantworten? Wohnt augenblicklich ein Mr. Luigi Dimambro hier? Soviel ich weiß, ist er ein Händler mit Kunstgegenständen«, sagte Selwood aufs Geratewohl. »Er soll manchmal hier Quartier nehmen.«

Der Geschäftsführer legte die Hand auf den Tisch und dachte nach.

»Einen Augenblick, ich werde das Fremdenbuch holen. Die Hotelgäste nehmen gewöhnlich ihre Mahlzeiten hier ein, aber ich behalte leider nicht alle Namen.«

Er verschwand durch eine Seitentür und kam bald darauf mit einem Buch zurück.

»Sagten Sie nicht Dimambro? War er kürzlich hier?«

»Etwa Beginn oder Mitte November«, entgegnete Selwood.

Der Geschäftsführer schlug die betreffenden Seiten auf und zeigte plötzlich auf eine Eintragung.

»Sehen Sie hier«, sagte er mit etwas theatralischer Betonung. »Dimambro, vom elften bis zum dreizehnten November. Er ist allerdings nach zwei Tagen schon wieder abgereist.«

»Ach, er wohnt augenblicklich nicht hier?« entgegnete Selwood anscheinend enttäuscht. »Das tut mir aber furchtbar leid. Ich hätte ihn gern gesprochen. Hat er vielleicht eine Adresse hinterlassen?«

Der Geschäftsführer war die Höflichkeit selbst, ging wieder nach dem Hotelbüro zurück und fragte dort nach. Aber er kam mit vielen Entschuldigungen zurück, daß er seinem Gast leider nicht dienen könne.«

»Ich bin Ihnen zu großem Dank verbunden«, erklärte Selwood. »Aber so ungeheuer wichtig ist die Sache nicht.«

Er hatte jedenfalls festgestellt, daß ein gewisser Dimambro an dem kritischen Tage im Hotel Ravenna gewohnt hatte, und vermutlich war das derselbe Mann, der am Morgen nach dem Morde den Scheck bei der Bank präsentiert hatte. Mehr konnte er im Augenblick nicht erreichen. Ob Dimambro etwas mit dem Morde zu tun hatte, mußte Professor Cox herausbringen.

Selwood hatte seinen Kaffee getrunken und wollte eben zahlen, als er plötzlich ein Gesicht hinter der Glasscheibe der Eingangstür sah. Der Mann wollte wohl von dort aus das Innere des kleinen Restaurants überschauen. Aber ebenso schnell, wie es aufgetaucht war, verschwand das Gesicht wieder. In dem Bruchteil einer Sekunde hatte Selwood jedoch Burchill erkannt.

 


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