Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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12. Kapitel.

Zehn Prozent.

Mr. Frank Burchill, der einen eleganten Hausanzug trug, begrüßte Barthorpe mit einer gewandten Vertraulichkeit, als ob sie nicht wichtige Dinge miteinander zu verhandeln hätten, sondern sich vor dem Schlafengehen eine Stunde lang angeregt unterhalten wollten. Im Kamin brannte ein helles Feuer, Whiskyflaschen und Gläser standen auf dem Tisch, ebenso Zigarren und Zigaretten. Neben Burchills Sessel lag ein Paket Zeitungen, und er zeigte darauf, als sie sich niedersetzten.

»Ich habe alle Berichte gelesen und gesammelt, deren ich überhaupt habhaft werden konnte. Aber praktisch weiß man nicht mehr als heute nachmittag.«

Burchill trank einen Schluck aus seinem Glase und sah Barthorpe nachdenklich über den Rand hin an.

»Unter uns – haben Sie irgendwelche Vermutungen, wie die Sache passiert sein könnte?«

»Nein, ich habe nicht den geringsten Anhaltspunkt.«

»Die Polizei ist kräftig an der Arbeit.«

»Natürlich, ich halte aber nicht viel von ihrer Tätigkeit. Wann haben die Leute jemals etwas herausgebracht, wenn sie nicht zufällig durch einen glücklichen Zufall darauf gestoßen wurden?«

»Mag sein, aber solche Glückszufälle passieren eben ab und zu. Wissen Sie nicht, wer ein Interesse daran haben könnte, Ihren Onkel aus dem Wege zu schaffen?«

»Nein, aber immerhin mag es jemand gegeben haben. Vor allem müßte man herausbringen, wer ihn gestern abend aus dem Parlament begleitete. Bis jetzt ist das jedenfalls noch nicht bekannt, und das wird viel Mühe und Arbeit machen. In der Zwischenzeit –«

»Interessieren Sie sich mehr für etwas anderes«, bemerkte Burchill leichthin.

»Ich interessiere mich allerdings viel mehr dafür, was Sie mir heute abend erzählen wollen«, entgegnete Barthorpe kühl. »Also beginnen Sie.«

»Oh, ich habe sehr viel zu sagen. Aber Sie müssen es mich erzählen lassen, wie es mir am besten liegt. Zunächst möchte ich ein paar Fragen an Sie richten, und zwar über Ihre Familiengeschichte.«

»Darüber weiß ich allerdings herzlich wenig. Aber wenn es für unsere Zwecke dienlich ist, will ich das Wenige gern sagen. Also fragen Sie!«

»Was wissen Sie von Mr. Jacob Herapath und seinen Geschwistern?«

»Mein Großvater war ein bekannter Arzt in Granchester, Yorkshire. Ich habe ihn weder gekannt noch gesehen. Er hatte drei Kinder. Der älteste war mein Onkel Jacob, der schon frühzeitig nach London ging und als Grundstücksmakler arbeitete. Seine Energie und Umsicht brachten ihn bald in die Höhe. Der zweite Sohn war mein Vater Richard, der nach Kanada auswanderte und sich dort derselben Tätigkeit wie sein älterer Bruder widmete.«

»Dann muß er doch auch ein großes Vermögen verdient haben«, meinte Burchill.

Barthorpe schüttelte leicht den Kopf.

»Leider nicht. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt ging es ihm sehr gut, aber dann ließ er sich in gewagte Spekulationen in amerikanischen Eisenbahnaktien ein und verlor fast seinen ganzen Besitz. Er starb als armer Mann.«

»Er ist also schon tot?«

»Seit vielen Jahren. Nach seinem Tode ging ich nach England. Ich bin natürlich in Kanada geboren, und –«

»Verzeihen Sie, das interessiert mich im Augenblick nicht so sehr. Erzählen Sie lieber von den früheren Mitgliedern Ihrer Familie. Ihr Großvater hatte doch auch noch eine Tochter?«

»Ich habe sie nie gesehen, ich weiß nur, daß sie Susan hieß. Sie heiratete einen gewissen Wynne. Über diesen Mann und seine Verhältnisse bin ich nicht im geringsten informiert.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Mein Onkel hat niemals mit mir über ihn gesprochen. Meine Kusine weiß auch nichts von ihrem Vater. Es ist uns beiden nur bekannt, daß ihre Eltern starben, als sie ungefähr zwei Jahre alt war. Jacob Herapath nahm sie vier Jahre später in sein Haus.«

»Danke. Nun erzählen Sie mir einmal etwas von Ihrer eigenen Lebensgeschichte. Es kommt auf jede Kleinigkeit an.«

»Ich möchte nur wissen, wozu das alles notwendig ist. Ich habe in Kanada Rechtswissenschaft studiert, und als mein Vater starb, schrieb ich an meinen Onkel und berichtete ihm über meine Lage. Er antwortete mir, daß ich nach England kommen, hier meine Studien beenden und ein Examen machen sollte. Er versprach mir auch Arbeit und Beschäftigung, wenn ich seinen Erwartungen entsprechen würde.«

»Wie lange ist das her?«

»Etwa fünfzehn Jahre.«

»Haben Sie auch bei Ihrem Onkel gewohnt? Sie werden nachher verstehen, warum ich das alles frage. Ich habe Ihnen Verschiedenes zu berichten.«

»Nun gut, wenn Sie mir wirklich etwas Wichtiges mitteilen wollen, gebe ich Ihnen gern jede verlangte Auskunft. Er nahm mich damals nicht zu sich, aber er unterstützte mich reichlich und zahlte alle Kosten für mein Studium, bis ich in der Lage war, mir selbst eine Existenz zu gründen. In dieser Beziehung hat er sehr großzügig gehandelt. Ich wohnte in der Adelphi Street, wo ich heute noch bin.«

»Aber sicher haben Sie viel in seinem Hause am Portman Square verkehrt?«

»Natürlich, ich war mindestens ein- oder zweimal in der Woche dort. Meine Kusine sah ich sehr häufig. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, in der sie eine Gouvernante hatte. Ich habe sie von sechs Jahren an gekannt, jetzt ist sie einundzwanzig –«

»Wie steht es nun mit – Mr. Tertius?«

Burchill betonte den Namen so sonderbar, daß Barthorpe überrascht aufschaute.

»Tertius war damals noch nicht im Hause, aber er kam bald darauf.«

»Wie lange nach Ihnen?«

Barthorpe überlegte einen Augenblick.

»Es müssen mehrere Monate nach meiner Ankunft in London gewesen sein. Jedenfalls war es im ersten Jahr meines Aufenthalts in England.«

»Können Sie sich darauf besinnen, wie er zuerst dort auftauchte?«

»Nicht genau. Er war wohl zuerst zu Besuch da. Später erfuhr ich, daß man ihm eigene Räume im Hause gegeben hatte, und daß er für immer dort wohnte.«

»Hat Ihnen Ihr Onkel jemals erzählt, wer er eigentlich ist?«

»Nein. Mr. Tertius war einfach da und gehörte zum Haushalt. Manchmal sah ich ihn, wenn ich kam, manchmal auch nicht. Er kam unregelmäßig zu den gemeinsamen Mahlzeiten, gerade wie es ihm beliebte.«

»Und Sie selbst haben auch keine Ahnung, wer er ist?« fragte Burchill nach einer Pause.

»Nein, ich habe es niemals erfahren können. Ich mochte ihn aber nie leiden und haßte die Art, wie er im Hause umherschlich. Die Abneigung ist übrigens gegenseitig. Ich hatte immer das Gefühl, daß er mir feindlich gesinnt ist.«

»Das ist sehr leicht möglich«, sagte Burchill mit einem trockenen Lachen. »Ist es Ihnen jemals aufgefallen, daß Mr. Tertius und Ihr Onkel Jacob ein gemeinsames Geheimnis hatten?«

Barthorpe fuhr unwillkürlich in die Höhe.

»Ach so, darauf geht es hinaus? Ist es das Geheimnis, das Sie in Ihrem Brief erwähnten?«

»Darüber wollen wir im Moment noch nicht sprechen. Beantworten Sie erst meine Frage.«

»Nein, das ist mir niemals in den Sinn gekommen.«

»Sie hatten aber ein Geheimnis.«

Burchill erhob sich und trat näher an Barthorpe heran.

»Und wenn Sie dieses Geheimnis wissen, können Sie über das ganze Erbe von Jacob Herapath verfügen. Und ich – kenne dieses Geheimnis!«

Endlich sah Barthorpe klar und überschaute die Situation. Schnell überdachte er die Lage. Burchill hatte zehntausend Pfund Schweigegeld von seinem Onkel verlangt.

»Natürlich wollen Sie für die Preisgabe dieser Kenntnis etwas haben?«

»Selbstverständlich!« erwiderte Burchill lachend, öffnete die Zigarrenkiste, wählte sich sorgfältig eine Zigarre und steckte sie an. »Wer würde das nicht tun? Ganz abgesehen davon sind Sie in der Lage, mir eine Vergütung zu geben, wenn Sie das große Vermögen bekommen.«

»Wie steht es denn nun mit dem Testament?«

Burchill warf das Streichholz ins Feuer.

»Nun, das wird auch zu Ihren Gunsten ausgehen. Sobald Sie sich mit mir verständigt haben, ist es wertlos!«

»Ist das Ihr Ernst?« rief Barthorpe ungläubig. »Haben Sie es denn nicht unterschrieben?«

»Lassen Sie diese Frage vorläufig. Wir wollen jetzt meine Bedingungen besprechen. Sie müssen mit mir einig werden, dann erzähle ich Ihnen alles, und dann verstehen Sie auch alles!«

»Nun gut, wie lauten Ihre Bedingungen?« fragte Barthorpe ein wenig argwöhnisch. »Wenn Sie bares Geld haben wollen –«

»Sie können gar nicht bar auszahlen, was ich haben will. Es ist möglich, daß ich einen Vorschuß beanspruche, den Sie mir natürlich geben können. Aber Sie müssen sich immer daran erinnern, daß es nur ein Vorschuß ist. Ich fordere zehn Prozent des Vermögens von Jacob Herapath.«

»Donnerwetter!« rief Barthorpe. »Das ganze Vermögen beläuft sich, soviel ich weiß, auf anderthalb Millionen Pfund Sterling!«

»Ganz recht, das ist auch meine Schätzung. Sie behalten noch genug übrig, wenn Sie mir zehn Prozent ausbezahlt haben.«

Barthorpe rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Wann haben Sie denn dieses Geheimnis erfahren?«

»Kurz bevor ich meinen Dienst bei Jacob Herapath verließ. Die letzten Einzelheiten habe ich erst später herausgebracht. Ich kann Ihnen nochmals versichern, daß Sie in den Besitz des gesamten Vermögens kommen, wenn ich Ihnen alles gesagt habe!«

»Nun gut – was schlagen Sie jetzt vor?«

Burchill ging zu dem Schreibtisch hinüber und holte einige Schriftstücke.

»Zunächst unterzeichnen Sie einmal ein paar Dokumente. Ist meine Geschichte nicht wahr, so haben sie keinen Wert, Sie gehen also kein Risiko ein.«

»Gut, dann wollen wir den Vertrag abschließen.«

Erst gegen ein Uhr verließ Barthorpe Burchills Wohnung. Aber der Detektiv, der ihm schon hierher gefolgt war, stand noch immer auf seinem Posten und begleitete ihn auch jetzt wieder aus einiger Entfernung auf seinem Heimwege durch die schlafende Stadt.

 


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