Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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8. Kapitel.

Der zweite Zeuge.

Barthorpe Herapath war verwirrt und verstört, aber schon begannen seine Gedanken zu arbeiten. Ein Verdacht stieg in ihm auf, den er immer weiter verfolgte. Er kam erst wieder zu sich, als er mit einem anderen Herrn zusammenstieß und ärgerlich angefahren wurde. Dann blieb er einen Augenblick stehen, sah ein italienisches Restaurant vor sich und ging hinein.

Er setzte sich in eine ruhige Ecke und bestellte ein einfaches Gericht. Er mußte vor allem Ruhe haben, um sich wieder sammeln zu können. Hier konnte ihn niemand stören oder belauschen. Er zog die Brieftasche heraus, die er aus Jacob Herapaths Geldschrank im Siedlungsbüro an sich genommen hatte.

Er entnahm dem Lederetui einen Brief und während er ihn entfaltete, sagte er halblaut vor sich hin:

»Frank Burchill, 331 Upper Seymour Street. Ob er allerdings noch da wohnt, ist fraglich. Was mag der Brief enthalten?«

Barthorpe erkannte sofort die Schriftzüge des ehemaligen Sekretärs Burchill, der als zweiter Zeuge das Testament unterschrieben hatte, und las mit Interesse den Inhalt. Das Datum verriet, daß der Brief erst vor einigen Tagen geschrieben worden war.

»35c, Calengrove Mansions,
Maida Vale, W.

11. November 19..

Sehr geehrter Herr,

ich bin einigermaßen erstaunt, daß Sie mir auf meine Briefe vom 1. und 5. des Monats nicht geantwortet haben. Scheinbar glauben Sie, daß Sie es nicht nötig haben, sich um mich zu kümmern. Sie legen mir nicht mehr Wert bei als einem Hunde, der den Mond anbellt. Ich hatte Gelegenheit, Ihren Charakter kennenzulernen, und weiß, daß Sie keine Achtung vor Leuten ohne Vermögen haben. Sie denken, arme Leute können Ihnen nichts anhaben, aber hierin irren Sie sich. Es ist viel mehr zu Ihrem Vorteil, auf gutem Fuß mit mir zu stehen, als sich mir feindlich gegenüberzustellen. Überlegen Sie sich deshalb genau, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe.

Ich kenne das Geheimnis, das Sie während der letzten fünfzehn Jahre so ängstlich hüteten.

Ich nehme an, daß Sie vollständig verstehen, was ich damit sagen will. Ich erwarte, bald Näheres von Ihnen zu hören und hoffe, daß Sie mich zu Dank verpflichten, indem Sie auf die Vorschläge meiner letzten Briefe eingehen.

Hochachtungsvoll

Frank Burchill.«

Barthorpe las den Brief dreimal, um den wahren Sinn herauszubringen. Die Drohung war nur schlecht verhüllt. Als er den Brief wieder einsteckte, murmelte er halblaut »Erpresser« vor sich hin. Er dachte an Burchill, den er von früher her verhältnismäßig gut kannte. Er war länger als ein Jahr in den Diensten seines Onkels gewesen und vor etwas mehr als sechs Monaten entlassen worden.

»Ich muß diesen Menschen loswerden, es geht einfach nicht weiter mit ihm«, hatte Jacob Herapath damals zu ihm gesagt.

»Was meinst du damit?« hatte er ihn darauf gefragt.

»Er ist hinter Peggie her. Und obgleich sie ein vernünftiges Mädchen ist, muß man doch alles in Betracht ziehen, denn dieser Burchill sieht sehr gut aus. Es ist gefährlich, ihn länger im Hause zu behalten.«

Barthorpe dachte jetzt über diese Bemerkung nach. Burchills Vorleben kannte er allerdings nicht. Er hatte nur immer geglaubt, daß er aus guter Familie stammte und einen einwandfreien Charakter besäße. Persönlich hatte er sich allerdings immer gewundert, warum sein Onkel, der doch ein praktischer, nüchterner Geschäftsmann war, sich als Privatsekretär einen Mann engagierte, der in seinem Äußeren und in seinem Auftreten etwas von einem Schauspieler hatte. Er erinnerte sich jetzt ganz deutlich an die schlanke, elegante Gestalt des jungen Mannes, an sein ovales, dunkles Gesicht, seine großen, glänzenden Augen, sein schwarzes, gelocktes Haar. Er ging immer auffallend gekleidet, trug breitkrempige Sombrero-Hüte und wehende Künstlerkrawatten. Man konnte sich eigentlich keinen größeren Gegensatz denken als Jacob Herapath und diesen Sekretär. Trotzdem hatte sein Onkel Frank Burchill für begabt und fleißig gehalten.

Nach der Entlassung hatte Barthorpe nichts mehr von ihm gehört. Aber Burchill hatte doch einen Brief an seinen Onkel geschrieben, in dem er die Zahlung einer Summe als Schweigegeld verlangte. Was für ein Geheimnis mochte das sein? Er konnte es nicht im mindesten vermuten, aber sicher war die Sache nicht aus der Luft gegriffen.

Als Barthorpe wieder aufbrach, hatte er einen Entschluß gefaßt. Er wollte sofort Frank Burchill in seiner Wohnung aufsuchen. Diesen Mann mußte er sich sichern oder doch wenigstens erfahren, was er wußte. Er nahm also ein Auto und fuhr zuerst nach Upper Seymour Street Nr. 331.

Das Mädchen, das ihm öffnete, schüttelte den Kopf, als er nach Burchill fragte. Sie kannte niemand dieses Namens. Da Barthorpe aber bestimmt behauptete, daß er früher hier gewohnt habe, rief sie die Frau des Hauses.

»Mr. Burchill ist schon seit einiger Zeit fortgezogen, und ich kenne seine jetzige Adresse nicht«, erklärte die ältere Dame.

»Hat er denn nicht angegeben, wohin seine Briefe nachgesandt werden sollen?« fragte Barthorpe erstaunt.

»Er sagte mir, daß er weiter keine Post erhalten würde, und es ist auch tatsächlich nichts mehr für ihn gekommen.«

Die Wirtin schien mit diesem früheren Mieter nichts mehr zu tun haben zu wollen, und Barthorpe war beruhigt. Das war gerade, was er brauchte. Mr. Tertius, Peggie und Selwood kannten wahrscheinlich keine andere Adresse als diese und konnten Burchill also nicht finden, wenn sie ihn jetzt brauchten. Nur er hatte durch einen glücklichen Zufall erfahren, wo er den früheren Sekretär finden konnte. Er machte sich jetzt sofort auf den Weg zu ihm.

Calengrove Mansions war ein großer, neuer Häuserblock, und Burchills Wohnung lag im obersten Geschoß. Es dauerte einige Zeit, ehe er sich auf Barthorpes Klingeln und Klopfen meldete. Der junge Mann erschien in einem Hausrock und unterdrückte mühsam ein Gähnen, aber er sah keineswegs erstaunt oder überrascht aus.

»Ach, Mr. Barthorpe Herapath! Treten Sie doch bitte näher. Ich bin heute ein wenig spät aufgestanden, ich bin nämlich jetzt als Kritiker tätig, und gestern abend war eine wichtige Premiere im Hyperion-Theater. Aber das interessiert Sie ja nicht.«

Er führte seinen Besucher in ein kleines Wohnzimmer, zog einen Sessel heran und bot seinem Gast eine Zigarette an. Barthorpe wunderte sich im Stillen über Burchills gleichgültiges Benehmen, aber er nahm die Zigarette dankend und ließ sich in einem bequemen Sessel nieder.

»Als Sie die Tür öffneten, dachten Sie wohl kaum daran, mich zu sehen, Burchill?« fragte er liebenswürdig.

Burchill steckte erst seine Zigarette an, bevor er antwortete.

»Nun, man weiß nie, wer einem begegnen kann. Aber wenn ich offen sein soll, dachte ich tatsächlich nicht an Sie. Ich kann mir auch nicht recht vorstellen, warum Sie gekommen sind.«

Barthorpe zog langsam die Brieftasche heraus und hielt ihm das Schreiben entgegen.

»Deshalb bin ich hier«, sagte er dann bedeutungsvoll. »Sicherlich erkennen Sie Ihren Brief wieder?«

Burchill betrachtete das Blatt genau, ohne mit der Wimper zu zucken, und Barthorpe war erstaunt über die Selbstbeherrschung dieses Mannes, obwohl er eigentlich das Gefühl hatte, daß Burchill ihm nichts vormachte.

»Ach so, Mr. Jacob Herapath hat Sie als Rechtsbeistand engagiert, um mir zu antworten!« Burchill lachte verächtlich. »Das ist recht töricht von ihm. Aber ich wollte nicht ein so unhöfliches Wort gebrauchen. Vielleicht sage ich besser indiskret. Und vor allem unnötig. Teilen Sie ihm dies bitte in meinem Auftrage mit.«

Barthorpe schwieg einen Augenblick, steckte den Brief wieder ein und maß Burchill dann mit einem scharfen, ruhigen Blick.

»Was soll denn das heißen? Spielen Sie mir eine Komödie vor oder haben Sie wirklich noch nichts davon gehört, daß Mr. Jacob Herapath tot ist?«

Burchill fuhr zusammen, ja, er ließ sogar seine Zigarette plötzlich fallen, und als er sie aufgehoben hatte, sah er verwirrt aus.

»Nein, davon wußte ich wirklich nichts. Er ist wohl ganz plötzlich gestorben?«

»Er wurde ermordet!«

Burchill starrte Barthorpe lange schweigend an, und als er dann sprach, hatte seine Stimme die Geziertheit verloren.

»Sie sagten, Herapath sei ermordet worden? Wissen Sie das auch genau? Davon hatte ich bis jetzt noch nichts gehört! Ich bin allerdings heute morgen um zwei nach Hause gekommen und seitdem nicht wieder ausgegangen –« Plötzlich brach er ab. »Was wollen Sie denn eigentlich von mir?«

»Ich möchte Sie fragen, ob Sie sich noch daran erinnern, daß Sie das Testament meines Onkels als Zeuge unterschrieben haben. Geben Sie mir eine klare Antwort.«

 


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