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VI.
Große Geisselfahrt der Kreutzbrüder in Deutschland und in den Nachbarländern, während des Jahres 1349.

Das entsetzliche Jahr der großen Seuche, welche unter dem Namen der »Pest«, oder des »schwarzen Todes« durch fast alle Theile der bewohnten Erde ging und die Menschen zu Tausenden, ja zu Millionen niedermähete, so daß in einigen Ländern ein Drittheil, in andern die Hälfte, in noch andern zwei Drittheile, ja sogar Neunzehntheile der Bevölkerung ausstarb, war in Deutschland und in mehreren Nachbarländern die Veranlassung zu neuen Geisselgesellschaften und Geisselzügen. Während ein Teil der Menschen voll wilder Verzweiflung über das Schicksal des kommenden Tages, den gegenwärtigen in gränzenloser Ueppigkeit verbrachte und dadurch die Nahrungsquellen des Uebels noch vermehrte, wendete sich ein anderer, durch Feuerstimmen andächtiger Priester und Mönche angeregt, zu grenzenlos strenger Buße. Mit diesem Fanatismus gegen sich selbst vereinigte sich ein von Eigennutz, Aberglauben und Grausamkeit vielfach unterhaltener, noch furchtbarer gegen die Juden, welche man ihrer geheimen Missethaten gegen Christenthum und Christen willen, als eine der vorzüglichsten Ursachen des göttlichen Zornes ansah, oder denen man die Thatsache einer allgemeinen Brunnen Vergiftung in Europa beimaß. Keine Feder vermag die Gräuel zu beschreiben, welche das betrogene und erbitterte Volk gegen die Mitglieder jener unglücklichen Nation sich erlaubte, und die Sache erhielt einen noch desto abscheulicheren Charakter dadurch, daß selbst Fürsten und Regierungen solche Ausbrüche roher Pöbelwuth begünstigten, ja leiteten.

Von 1339 bis Ostern 1340 erblickte man allenthalben eine Unzahl von Geißler-Rotten, welche in den Kirchen Buße verrichteten und das tollste und zugleich entsetzlichste Zeug dabei trieben. Ihre Andachtsübungen waren stets mit Grausamkeiten gegen Juden verbunden, wodurch sie ihr Werk erst recht vollständig zu machen und zu krönen der Ansicht waren.

Wir verschonen den Leser mit den widerlichen und ungereimten Einzelnheiten und begnügen uns mit der Hervorhebung einiger der pikantesten Tatsachen, nach der Schilderung Mathias von Neuenburgs.

Die Zweihundert (welche nach Speier gekommen) hatten einen Hauptanführer und zwei andere Meister. Sie versammelten sich unter ungewöhnlichem Zustrom des Volkes, vor dem Münster, in einem weiten Kreis, in dessen Mitte sie Kleider und Schuhe ablegten. Statt der Beinkleider hatten sie bloß einen Schurz, von den Hüften bis an die Fußknöchel. So gingen sie im Kreise herum; einer nach dem andern warf sich in Gestalt des Kruzifixes nieder, und die andern schritten über ihn her und schlugen ihn sanft auf das Gesicht. Die Hindersten, welche zuerst sich niedergeworfen hatten, standen zuerst wieder auf. Dann erfolgte eine Geisselung mit Peitschen, welche Knoten mit vier eisernen Spitzen hatten, und in der Landessprache ward der Beistand des Herrn angerufen. Mitten im Kreise standen die drei mit der stärksten Stimme Versehenen, und machten, sich selbst geisselnd, die Vorsänger. Dieß ward bis zu gewissen Versen getrieben, bei welchen Alle die Kniee bogen, und in Kruzifix-Gestalt auf das Angesicht liegend beteten. Die Meisten schritten durch den Kreis, ermahnten die übrigen, den Herrn um Gnade für das Volk, für alle ihre Wohl- und Uebelthäter, für alle Sünder, für alle im Fegfeuer Büßenden u. s. w. anzuflehen. Nach diesem machten sie sich auf, streckten weinend die Hände gen Himmel und sangen, dann standen sie wieder auf und geisselten sich, herumgehend, wie vorher. Während sie sich ankleideten, zogen sich die Andern aus, welche inzwischen ihre Kleider gehütet, und thaten dasselbe. Endlich trat Einer auf, welcher eine besonders kräftige Stimme hatte, und las einen angeblich zu Jerusalem geschriebenen Brief, worin es hieß: Christus sei über die Lasterhaftigkeit der Welt, über die Menge von Verbrechen, über die Entheiligung des Sonntags, die Vernachlässigung der Sonntagsfeier, den Zinswucher, den Ehebruch u. s. w. erzürnt; auf die Fürbitte der heil. Jungfrau und der Engel jedoch habe er geantwortet: vier und dreißig Tage lang müßte man von Hause ziehen und sich geisseln; dann werde Gottes Barmherzigkeit zu Theil werden.« Math. Neoburg. Chronica.

Diese Abtheilung Geißler wurde zu Speier von den Einwohnern mit großer Gastfreundschaft und Achtung aufgenommen; sie führte jedoch sich wirklich religiös, bescheiden und anständig auf. Sie vermieden jeden Umgang mit Weibern, wählten ein schlechtes Lager und belästigten kein Kirchspiel länger, als eine Nacht mit ihrer Gegenwart. Sie gewannen sogar unter den Bürgern viele Proselyten, jedoch nicht ohne erschwerende Bedingungen, darunter besonders die Zustimmung der Ehefrau gehörte, sobald ein Geissel-Kandidat verheirathet war. Zu Straßburg trennte sich der Haupthaufe und setzte die Fahrt in Abtheilungen nach verschiedenen Richtungen fort. Die Anführer dieser Series waren so vernünftig, daß sie den Straßburgern, die alsbald die Sache übertrieben, alles Zuviel untersagten. Der Ruf von ihrer Frömmigkeit verbreitete sich nach beiden Ufern des Rheins. Eine zahllose Menge Menschen strömte ihnen von allen Seiten zu. Sogar 200 zwölfjährige Knaben fanden sich ein und zergeisselten sich nach Herzenslust. Straßburg blieb das Hauptquartier der Bewegungen. So oft neue Züge kamen, läutete man daselbst die Glocken und empfing sie feierlich. Ihre seltsamen Gesänge, davon die Straßburger- Speyerer- und Limburger-Chroniken viele Bruchstücke geben Verlg. Königshofen, Lehmann und Vogel. machten auf das Volk einen unbeschreiblich tiefen Eindruck.

Was ihren Kredit am längsten erhielt, war der Umstand, daß jeder mit dem nöthigsten Gelde zur Zehrung während der Fahrt, versehen sein mußte und das Betteln unter Strafe verboten war. Die Muscheleien mit Frauen waren ebenfalls streng untersagt und mußten von dem, der sich betreten ließ, alsbald gebüßt werden.

Eine merkwürdige Thatsache bleibt, daß sie der Geistlichen sich so viel als möglich entschütteten. Sie sahen dieselben für die Hauptrepräsentanten des Sittenverderbnisses an und machten daher lieber die Heiligen selbst und ihren freigewählten Meister zu Aerzten ihres Seelenheils. Zwar wurden sie nicht förmlich von der Geissel-Brüderschaft ausgeschlossen, aber doch nur als Laien, ohne irgend einen Vorzug, behandelt; keiner von ihnen ward in die Zahl der Meister, noch in den himmlischen Rath aufgenommen. Bei dem Büßen auf der eigentlichen Geisselstätte gab es allerlei Zeremonien, die mehr oder minder den bereits beschriebenen gleichen, je nach der Gattung von Sünden, die der Eine oder Andere begangen und zu sühnen hatte. So mußte ein Meineidiger sich auf die Seite legen und die Finger in die Höhe recken; ein Ehebrecher dagegen sich auf den Bauch legen u. s. w. Einer der Meister schritt dann über sie weg, berührte sie mit der Geissel und sprach die Verse:

Steh' auf durch der reinen Marter Ehre
Und hüte dich vor Sünden mehre!

Straßburg allein hatte den Flagellanten über tausend neue Individuen zugeführt Bernhard Herzog's Elsäßer Chronik und Albert von Straßburg: de rebus Argent..

Der Geist, der diese Bewegung durchwehte, ergriff bald das ganze südliche und nördliche Deutschland. Ueberall sah man nichts als Geisseln, überall hörte man nichts als Trauergesänge der Geisselbrüder; ja diese Gesänge wurden zu förmliche Volkslieder. Der grasseste Aberglauben vermischte sich oft mit ihrem Treiben, und nicht nur die Offenbarung Johannis, sondern auch Astrologie, Alchimie, und allerlei geheime und schwarze Künste fanden bei der eigenthümlichen Zeitstimmung ihre volle Rechnung.

In Oesterreich, Ungarn, Böhmen und Polen geschah ungefähr dasselbe, was hier erzählt worden; eine große Menge Weiber war jedesmal mit bei dem Zuge; sie schlugen sich wie die Männer mit Geisseln und Ruthen bis auf's Blut und sangen gottselige Lieder dazu, worin besonders Lucifern, als einem bösen Gesellen, viel Hohn geboten ward. Je mehr sie ihn aber herauszuschlagen bemüht waren, desto bösartiger kam er wieder hinein.

Die dicken Brabänder und Flamänder und die phlegmatischen Holländer und Engländer blieben von der Plage ebenfalls nicht verschont. Selbst in der St. Pauluskirche zu London sah man Geisselschwärme, und zu Köln mußte Kaiser Karl IV., wegen ungewöhnlichen, durch die Flagellanten veranlaßten Zudrangs von Fremden seine Krönung verschieben.

Die Franzosen natürlich hatten gleich anfangs die ascetische Zeitmode mitgemacht und mit Uebersetzung der deutschen Geissel-Gesänge in ihre Sprache sich abgequält. Auch in der Schweiz fehlte es nicht an Anhängern; doch bewahrte sich die Bevölkerung derselben mit ihrem gesunden, kräftigen Natursinn unter allen Ländern Europas noch am meisten vor dem herrschenden Wahnsinn. Besonders bittern Spott setzten den trübseligen Gästen die stolz- und heiter gesinnten Berner entgegen, wie in den Chroniken mehrfach zu lesen ist Justinger und Tschachtlan..


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