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Der unglückliche Zustand von Italien, in politischer und religiöser Hinsicht, der tiefe Zerfall der Sittlichkeit und der Sitten, das Ueberhandnehmen eines sinnlosen Aberglaubens und gedankenleeren Religionskultus beförderten um die Mitte des 13ten Jahrhunderts eine Erscheinung, die ihres Gleichens in der Geschichte nicht hat und die dem denkenden Historiker und Menschenfreund mit Entsetzen erfüllen muß.
Bei dem Bestreben der Päbste und der guelfischen Partei, dem Hause Hohenstaufen Feinde zu erwecken, und namentlich bei ihren letzten zwei großen Helden, Friedrich II. und Manfred, wurden alle Leidenschaften angefacht, welche auf die Gemüther wirken konnten. Man sah in verschiedenen Städten große Prozessionen zu Anflehung des Sieges für die Waffen der Kirche gegen die neuen Antichriste, und die Reihe desselben schloß sich im Jahre 1260 mit einer allgemeinen Buß- und Geisselfahrt. Einige behaupten, ein Franziskanermönch, welcher mit der päbstlichen Garde als Missionär zog, Andere, ein Eremit zu Perugia habe den ersten Anstoß gegeben. Allerlei Wunder und Erscheinungen, welche auf die Nothwendigkeit strengster Buße hindeuteten, wurden damit in Verbindung gebracht.
Es geht nirgendsher mit Bestimmtheit hervor, daß der Pabst Alexander IV. die neue Bußübung förmlich gebilligt habe; vermuthlich duldete er sie mehr schweigend.
Der Mönch aus Padua, welcher über den Vorfall berichtet, entwirft von der entstandenen flagellatorischen Begeisterung folgendes Gemälde:
»Im Laufe jener Jahrhunderte, als viele Laster und Verbrechen Italien schändeten, überfiel plötzlich eine unerhörte Stimmung von Reue die Gemüther; zuerst die Einwohner von Perugia, sodann die Römer, endlich beinahe sämmtliche Völker Italiens. In solchem Grade kam die Furcht Christi über sie, daß Edle und Unedle, Greise und Jünglinge, ja selbst Kinder von fünf Jahren, nackend bis auf die Schamtheile, ohne Scheu, paarweise, in feierlichem Aufzug durch die Straßen wanderten. Jeder hatte eine Geissel von ledernen Riemen in der Hand; mit dieser schlugen sie sich unter Seufzen und Weinen heftig auf die Schultern, bis das Blut herablief. Unter endlosen Thränen, gleich als erblickten sie das Leiden des Heilands mit ihren leiblichen Augen, riefen sie auf klägliche Weise die Barmherzigkeit Gottes und den Beistand der heiligen Jungfrau an; sie baten, daß er, der so zahllosen Büßenden verziehen habe, auch ihnen für die erkannten Sünden Verzeihung angedeihen lassen möchte. Sie zogen, nicht nur am Tage, sondern selbst zur Nachtzeit und mitten im strengsten Winter, zu Hunderten, Tausenden, ja oft zu Zehntausenden, unter Anführung von Priestern, mit brennenden Kerzen, mit Kreuzen und Fahnen, durch die Städte, nach den Kirchen, und warfen sich demüthig vor den Altären nieder. Desselben thaten sie auch in Flecken und Dörfern, so daß gleichsam die Berge und Thäler von ihrem Geschrei und Flehen widerhallten. Zu jener Zeit verstummten alle musikalischen Instrumente und alle Lieder der Liebe; nur den Trauergesang der Büßenden vernahm man allerwärts, in den Städten, wie auf dem Lande. Die klagenden Römer rührten selbst steinerne Herzen; die Augen der Verstocktesten füllten sich mit Thränen.
»Auch die Frauenzimmer nahmen Theil an solch' frommen Uebungen. In ihren Kammern verrichteten sie, nicht nur die von gemeinem Stande, sondern auch edle Frauen und zarte Jungfrauen dasselbe. Entzweite versöhnten sich; Wucherer und Räuber eilten, das unrecht Erworbene zurück zu erstatten. Was in Lastern sonst noch befangen war, beichtete demüthiglich seine Sünden und ließ ab von der Eitelkeit. Man öffnete die Kerker, gab die Gefangenen frei, berief die Verbannten zurück. Kurz, Männer und Frauen vollbrachten so große Werke der Barmherzigkeit, als ob sie befürchteten, die göttliche Allmacht werde sie durch Feuer vom Himmel verzehren oder durch ein Erdbeben vernichten, oder andere Strafen, durch welche sich die göttliche Gerechtigkeit an den Sündern zu rächen pflegt, über sie verhängen.« –
Diese seltsamen Bußwaller, welche von Perugia ausgezogen, machten solch' erstaunlichen Eindruck in allen Gegenden, die sie berührten, daß immer zahlreichere Schaaren sich ihnen anschlossen. So ging es fort, bis nach Rom; der König Manfred verhinderte durch strenge Maßregeln, daß nicht auch seine Reiche von dem fanatischen Rausche angesteckt wurden. Sie konnten demnach Toscana nur rasch durchstreifen, fanden aber desto freundlichere Aufnahme in der Lombardei. Die Einwohner von Imola brachten sie nach Bologna; die Bologneser nach Modena, die Modeneser nach Reggio; die Reggioneser nach Parma, die Parmenser nach Piacenza, die Bürger dieser Stadt nach Pavia. Allenthalben glichen sie – und dieß war die einzige vernünftige und wohlthätige Seite des Instituts – Zwiste und Parteifehden aus. Selbst der Bischof, der Podesta, und die vornehmsten Anführer der Rotten und Gilden in Reggio machten die Uebungen mit. Hier und in Parma gingen sie baarfuß und geisselten sich unter zahlreichen Gebeten, entblöst bis auf den Gürtel, mit Riemen und Ruthen, aus Liebe zu Gott und zur Vergebung der Sünden.
In andern Städten, wie Cremona, Mailand, Brescia, Novarra fanden sie die Pforten verschlossen und strenge Maßregeln wider sie ergriffen. Alle Versuche, einzudringen, blieben fruchtlos. Palavicino, Obizzo d'Este und Marino della Torre drohten sogar mit Galgen, deren letzterer bereits eine Menge errichtete.
Desto besser erging es ihnen in Pavia, in Turin und in andern Städten Piemonts; am besten in Vercelli. Der Annalist Ventura meldet darüber Folgendes: Als die wunderbare Bewegung unter den Lombarden sich erhob, stiegen die Eremiten aus ihren Gruben, und kamen, das Evangelium predigend, nach den Städten; gleich dem Propheten Jonas zu Ninive, riefen sie: Thut Buße, denn das Himmelreich wird sich nahen. Hierauf sah ich die Männer, groß und klein, ohne Unterschied, Städte und Flecken durchziehen und ihre Schultern so heftig mit Geisseln schlagen, daß das Blut herabströmte. Einige Vercellianer kamen nach Asti, in Säcke gehüllt, und mit entblösten Schultern, welche sie sehr stark schlugen. Eben so zog die Mehrzahl der Einwohner von Asti durch die Stadt und die Umgegend und geisselte sich nackend. Vor ihnen her schritten der Bischof und alle Priester und Mönche, Kreuze und neue Fahnen mit Heiligenbildern tragend und Psalmen und Hymnen absingend. Auf den Straßen fielen sie auf die Kniee und schrieen mit lauter Stimme: »Erbarmen und Friede werde uns zu Theil!« Solche Geisselung nahm im Dezember ihren Anfang; der Winter war äußerst kalt und Schnee lag in Menge. Viel unrecht Gewonnenes wurde damals zurückgegeben und mehr als ein Zwist beigelegt.
Auch Genua und Toscana blieben nicht hinter diesen Mustern. Erst spielten die Einwohner der erstem Stadt die Spötter, als die Toscaner in einer Geisselprozession bei ihnen eintrafen; allein plötzlich belehrten sie sich und alles, ohne Unterschied von Stand, Alter und Geschlecht zerhieb sich in den Kirchen, mit Riemen und Ruthen. Daß auch die Frauen Theil daran nahmen, erregte erst Anstoß; später aber schalt man die Tadler freche Gottesläugner. Viele Feindschaften wurden hier ebenfalls in frommer Anwandlung der Gemüther ausgeglichen.
Im Frühjahre 1261 nahm der heilige Eifer endlich etwas ab. Verschiedene Unordnungen, welche das Zusammenleben und Zusammengeisseln der beiden Geschlechter nothwendigerweise hervorgerufen, hatte die Sache in's natürliche Geleis zurückgebracht und der Besinnung einigen Raum vergönnt. Bald kehrten die Parteien zu ihrem früheren Leben und Treiben wieder. Doch blieben verschiedene Geisselgesellschaften in einzenen Städten Italiens stehend zurück.
Die Geisselmanie hatte rasch auch über die Alpen sich verbreitet. Krain, Kärnthen, Steiermark, Bayern, Oesterreich, Böhmen, Mähren, Ungarn und Polen, ja selbst Sachsen wurden der Schauplatz ihrer Thätigkeit. Man findet diesen Zug anmuthiglich in Ottokars Reim-Chronik und in einer Menge allgemeiner und Spezial-Chroniken beschrieben. Die Geißler erschienen meist mit nackten Armen, oder den Oberleib bis an den Nabel entblöst, den untern mit einem gewissen Kleide bis an die Füße bedeckt, bisweilen auch das Haupt völlig verhüllt und schlugen sich mit Werkzeugen mannigfacher Art unter Gesängen und Gebeten bis auf's Blut. Bisweilen trugen sie brennende Kerzen, wälzten sich im Schnee und Koth und bereuten ihre Sünden. Die Mehrzahl der Bevölkerung ersah in diesen seltsamen Gästen einen Auswurf der Menschheit; die Bischöfe und Priester waren ihrem Wesen nichts weniger als hold, weil sie häufig in ihre Rechte griffen, die Kirchengesetze übertraten und sogar die Beichte wechselseitig unter sich selbst vornahmen. Sodann kamen noch grobe Ausschweifungen, denen sie sich überließen, hinzu, und der Eckel über ihren cynischen Lebenswandel und ihr grobes, polterndes Wesen überwand zuletzt alle sonstigen Rücksichten.
Das Gleiche war der Fall im Innern von Deutschland, besonders an den Rheingegenden. Der Chronikant Jakob von Königshofen liefert merkwürdige Schilderungen von ihrem Treiben im Elsaß. In diesem und in einigen andern Ländern erging es ihnen sehr übel. Man verbrannte ihrer einen guten Theil als Ketzer.
Im 14ten Jahrhundert erneuerte sich die Seuche des Geißlerwesens. Riesenhafte Weiber aus Ungarn kamen nach Deutschland, entkleideten sich öffentlich und schlugen sich unter Absingung von allerlei seltsamen Liedern, mit Ruthen und scharfen Geisseln. In Sachsen jedoch wurden sie bald ausgerottet. Dreimal zogen zahlreiche Schwärme von Flagellanten nach Brabant und Holland; auch hier fanden sie Anhänger, aber noch mehr Gegner. Es erging ihnen hier ungemein schlecht, besonders in Lüttich. Der ursprüngliche Zug in diesem und in andern Ländern hinterließ stets Spuren, die lange nicht ausgerottet werden konnten und die öffentlichen Geißler verwandelten sich nicht selten in heimliche, gegen welche geistliche wie weltliche Gerichte mit großer Strenge einschreiten mußten. Die Bewegungen der Flagellanten in Deutschland während des 13ten und 14ten Jahrhunderts waren übrigens minder stark und gefährlich, als in Italien. Hier erneuerten sich im Jahre 1334 die Buß und Wallfahrten mit erneuerter Thätigkeit.