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Die Ausgestoßenen

Bei allen Völkern und zu allen Zeiten hat es Gruppen von Menschen gegeben, die als außerhalb der staatlichen und sozialen Ordnung stehend betrachtet wurden. Stets hatte das seine ganz bestimmten Gründe, wenn auch oft genug diese Gründe im Laufe der Jahrhunderte so völlig vergessen wurden, daß sie niemand mehr kannte. An vielen Stellen waren die Juden solche »Outcasts«, Menschen, für die besondere Gesetze, besondere Verpflichtungen vorhanden waren, die von dem anderen Volke strenge getrennt wurden und deren Verkehr mehr oder weniger verunreinigte. Hier liegt der Grund auf der Hand: die verschiedene Religion; in dem Augenblicke, in dem der Jude des Mittelalters den Glauben seiner Väter abschwur und die Taufe empfing, galt er als völlig gleichberechtigtes Glied der Gesellschaft. Nicht ganz so leicht wurde das dem Zigeuner gemacht, dessen Ausgestoßensein ja auch neben seiner Nichtseßhaftigkeit in seiner heidnischen Religion den Grund fand; er mochte, wie der andalusische Zigeuner, sich seßhaft machen, mochte Christ werden und blieb dennoch durch die Jahrhunderte – wenn auch kirchlich und staatlich gleichberechtigt – dem Volke stets verdächtig und verächtlich. Viel schärfer aber, und zugleich viel geheimnisvoller als bei Juden und Zigeunern, war die soziale Abgeschiedenheit bei den Cagoten, die an dem Fuße der Pyrenäen in der Gascogne, in der Guyenne und in Béarn lebten (Cahets), dann in der Bretagne und in Maine (Caqueux) und endlich in Poitou (Golliberts). Kein Mensch weiß, woher sie stammten; man weiß heute nur, daß ihre Ableitung von den Westgoten – canis goticus – völlig falsch ist. Nicht ein Tropfen gotischen Blutes rollte in den Adern der Cagoten; die Goten waren die Herren im Lande und nicht die Knechte, wenn man irgendwo ihr Blut suchen will, so muß man beim ältesten Adel beginnen. Ebensowenig stichhaltig sind die verschiedenen Theorien, die sie als Nachkommen von Mauren, Juden oder Arianern schildern. Die letzte Hypothese endlich, die lange Zeit geglaubt wurde: die Cagoten seien weiter nichts als Idioten und Cretins, ist womöglich noch mehr aus der Luft gegriffen. Durch nichts ist zu beweisen, daß sie andern Stammes oder anders geartet waren als die Leute, die um sie herum wohnten; und doch wurden sie durch ein Jahrtausend als der schlimmste Auswurf in Frankreich, kaum noch als Menschen betrachtet. Die große Revolution, die recht eigentlich erst das Mittelalter beendete und so manchen faulen Sumpf in Europa austrocknete, gab auch den Cagoten die Menschenrechte; freilich auch heute, nach hundertzwanzig Jahren, ist das soziale Vorurteil ihnen gegenüber noch nicht ganz erloschen. Nur eine Kleinigkeit unterscheidet sie von den anderen Franzosen: ihnen fehlen fast stets die Ohrläppchen. Aber – kann man nicht das Gleiche auch bei den Parisern feststellen? Und daß die Mädchen der Cagoten die schönsten in Frankreich sind, das wird man ihnen doch gewiß nicht als Fehler anrechnen!

Seltsam – dasselbe findet man bei dem ausgestoßenen Volke Ceylons, den Rodiyas. Ihre Frauen sind schön, schön selbst für unsere Augen; keine Singhalesin und keine Tamilin kann sich entfernt mit ihnen messen.

Wir gebrauchen oft die Namen »Paria« und »Tschandala«, wenn wir von dem elendesten und niedersten Volke sprechen. Mit Recht, denn die Parias und Tschandalas Indiens bilden die tiefste, die verachtetste Kaste. Und doch stehen sie noch höher, wie der Rodiya, der überhaupt keiner Kaste mehr angehört; er ist ein »Outcast«, eine »Mleccah« wie es der Europäer ist. Nur, daß der Europäer über, der Rodiya – das heißt: »der Unreine« – unter der Kastenordnung steht.

Die Sage erzählt, die Vorfahren der Rodiyas seien die Jäger des Königs von Kandy gewesen, die seinen Tisch mit Wildbret versorgen mußten. Eines Tages brachten sie ihm einen besonders leckern Braten; der schmeckte dem Könige so gut, daß er ihn wieder bestellte zum nächsten Tage und so fort. Da aber brachte sein Barbier heraus, daß es Menschenfleisch war, das die Jäger gebracht, und das der König gegessen hatte. Der König geriet über dies Verbrechen in großen Zorn; er sann lange nach, welche Strafe er den Jägern geben sollte. Er war sonst ein großer Künstler im Totmachen: Pfählen, Zerreißen, Verbrennen und Zerstückeln gehörten zu seinen täglichen Vergnügungen. Aber um einer solchen Todesart wert zu sein, brauchte man nur irgendein unbedachtes Wort gesagt zu haben – – was konnte er also erfinden, um dieses entsetzliche Verbrechen zu sühnen? Endlich bestimmte er, daß die Jäger und alle ihre Verwandten und Bekannten für ewige Zeiten ausgeschlossen sein sollten aus dem Kreise der Menschen; sie und ihre spätesten Nachkommen sollten tief verachtet im Lande leben, als abscheulicher Schmutz, als – Rodiyas.

Der Ursprung der Sage liegt offen genug. Man suchte nach einem Grunde für die abnorme, so schmähliche Stellung dieser Leute und konnte diesen nur in einem entsetzlichen Verbrechen, das nicht wieder zu sühnen war, finden. Und etwas Schlimmeres, als der geheiligten Person des frommen Königs das Fleisch getöteter Menschen vorzusetzen, gab es nach buddhistischer Anschauung, der schon die Tötung jedes kleinsten Tieres ein Greuel ist, schlechterdings nicht.

Die Cagoten Frankreichs durften ihr Wasser nicht aus dem Gemeindebrunnen holen, sie durften, wenn sie eine Brücke überschritten, nicht das Geländer berühren. Sie waren Christen; aber sie durften die Kirche nur durch einen besonderen Eingang betreten und hatten ihr eigenes Weih Wasserbecken. Um sich kenntlich zu machen – denn ihre Berührung verunreinigte – mußten sie ein Stück rotes Tuch, in andern Gegenden eine Eierschale, am Kleide tragen; ja, sie durften nicht barfüßig gehen – um die Erde nicht zu beschmutzen. Fast denselben, zum Teil noch peinlicheren Vorschriften hatten sich die Rodiyas zu fügen. Sie durften kein Land erwerben, ihre Hütten durften nur eine schräge Schutzwand haben, sie durften auch nicht an der Straße liegen.

Zur Bekleidung war ihnen nur ein Lappen um die Hüfte gestattet. Wenn ihnen jemand auf der Landstraße begegnete, so mußten sie dreißig Schritte ins Dschungel hineinlaufen und da laut schreien, um den Wanderer vor ihrer beschmutzenden Gegenwart zu warnen. Jedes Handwerk war ihnen ebenso verboten wie der Ackerbau; nur die niederste, die verachtetste Arbeit durften sie leisten: Riemen aus Kuhhäuten schneiden und Seile drehen. Und gerade das war auch das einzige Handwerk, das den Cagoten erlaubt war; verachtet deshalb, weil es die Tätigkeit des Henkers und seiner Gehilfen war.

Die Engländer haben in Ceylon das getan, was die große Revolution in Frankreich tat, sie haben die Entrechtung des Rechtlosen aufgehoben. Der Rodiya darf heute Grund erwerben, darf Hütten bauen, wie er will, darf sich bekleiden und darf jede Arbeit verrichten. Vor dem Gesetz und dem Gericht ist er dem Singhalesen und Tamilen, dem Malaien und Mauren und jedem andern Bewohner Ceylons völlig gleich. De facto aber ist er genau so geächtet wie früher. Niemand würde ihm Land verkaufen – außer der Krone und dem Europäer, und auch nur diese kaufen ihm die Produkte seiner Arbeit ab. Eigentümlich ist der Brauch der Bekleidung geworden: begegnet ein nacktes Rodiyamädchen einem Europäer, so bedeckt es sich mit einem Tuche – denn die Engländer können keine nackten Brüste sehen, sagt es. Ist es aber bekleidet und begegnet so einem Eingeborenen, so entblößt es sich sofort – um den Respekt nicht zu verletzen. Das Gefühl der tiefen Verachtung, des Außerhalb – alles – Menschlichen – Stehens ist eben gerade so tief in den Rodiyas selbst eingewurzelt wie in den andern Eingeborenen. Nie würde noch heute ein Rodiya wagen, die Hütte eines Singhalesen oder Tamilen zu betreten. Vor nicht allzu langer Zeit hatte irgendein Rodiya einen andern erschlagen; er sollte verhaftet werden. Aber die Polizisten weigerten sich, ihn zu berühren: sie wollten sich nicht beschmutzen. Man könne ihn ja abschießen, meinten sie.

Die Rodiyas sind viel schöner als alle andern Bewohner der Insel. Ihre Züge sind fast edel, ihre Hautfarbe bedeutend heller. Sie sind besser und gleichmäßiger gebaut, ihr Wuchs, namentlich der der Beine, ist viel ebenmäßiger. Es ist, als ob diese so tief verachteten Menschen gewissermaßen eine Aristokratie von besonders edlem Blute Ceylons darstellten.

Und es läßt sich nicht leugnen, daß in ihren Adern allerdings das beste Blut rollt, das Blut der Großen im Lande, ja der Könige – –

Gerade ihr »Schmutz«, ihre verpestende Gegenwart war es, die ihnen diese Blutmischung brachte. Genau so, wie im frühen Mittelalter die feudalen Herren und Barone Nordwesteuropas für die ehebrecherische Gattin oder die gefallene Tochter und Schwester keine schlimmere Strafe kannten, als sie den Bettlern vorzuwerfen, den Siechen, Krüppeln und Aussätzigen – genau so ward in Ceylon die edle Frau den Rodiyas zugewiesen: das war die entsetzliche Strafe für oft nur geringfügige Vergehen. Wenn – vor aller Augen – der elende Rodiya sie zum Weibe nahm, indem er ihr mit seinen unreinen Lippen den halbgekauten Betelbissen in den Mund schob, dann war sie für alle Zeit aus der Gesellschaft der Menschen ausgestoßen, sie war selbst eine Unreine geworden: ihr Atem verseuchte fortan die Luft, die sie atmete, ihr Fuß befleckte die Erde, die sie trat –

Die hellere Hautfarbe ist in Indien, wie überall sonst in der Welt, das Zeichen der besseren Rasse. Die höchste Kaste Indiens, die Brahmanen, die »Zweimalgeborenen«, sind sehr viel heller wie die andere Bevölkerung, in manchen Gegenden kaum dunkler als der Europäer. Je tiefer die Kasten sind, um so dunkler ist im allgemeinen die Hautfarbe; eine Blutmischung zwischen ihnen ist aber bei dem so ungeheuer scharf ausgeprägten Kastengeiste der Indier fast undenkbar. So waren auch die edlen Frauen, die den Rodiyas hingeworfen wurden, von guter Rasse und von heller Farbe: ihr Blut mag noch heute den Ausgestoßenen die edlere Farbe und Körperform gewahrt haben.

Eine seltsame Tatsache, daß nämlich sowohl die Rodiyas wie die Cagoten Frankreichs eine Reihe nachweisbar zigeunerischer Worte in ihrer Sprache gebrauchen, wird schwerlich zu einer Erklärung ihres Ursprungs führen. Sie erklärt sich wohl am besten dadurch, daß natürlich diese Ausgestoßenen am ehesten mit den ebenso verachteten, überall herumziehenden Zigeunern zusammenkamen und so einige ihrer Worte annahmen; genau so wie die Gauner und Gaukler des Mittelalters von den jüdischen Hehlern eine ganze Menge Ausdrücke aufgriffen, so daß noch heute das Verbrecherrotwelsch mit hebräischen und aramäischen Worten geradezu gespickt ist. Doch mag vielleicht ein anderes Moment sowohl bei den Rodiyas wie bei den Cagoten ein kleines Licht auf ihren Ursprung werfen.

Ich sagte schon, daß das einzige Handwerk, das den Cagoten erlaubt war, die Seilerei war; die Caqueux der Bretagne durften nur die Schreinerei betreiben. Beide Handwerke waren tief verachtet, weil der Seiler den Strick, der Zimmermann den Galgen dem Henker lieferte: man sah sie also als die Gehilfen, gewissermaßen die Knechte der Scharfrichter an. War schon dieser ungeheuer verachtet, so hatte er doch einen gewissen Respekt im Volke; man schrieb ihm stets übernatürliche Kräfte und Kenntnisse zu. Dies war nicht der Fall bei seinen Gehilfen: sie wurden noch viel niedriger eingeschätzt. – Nun sehen wir, daß auch die Rodiyas nur das Seilerhandwerk betreiben durften. Wir erfahren dazu aus dem »Mahawansa«, Ceylons ältestem Geschichtsbuch, das etwa 500 n. Chr. entstand, daß die singhalesischen Könige Anuradhapuras einer großen Anzahl südindischer Tschandalas, also der niedrigsten Kaste, deren Schatten schon verunreinigte, die Niederlassung gestatten. Wir lesen weiter, daß aus den Tschandalas die Henker und Kerkermeister genommen wurden. Die Klasse der Tschandala ist nun im heutigen Ceylon verschwunden, sie ist aufgegangen in der übrigen Bevölkerung; die Rodiyas aber sind geblieben und machen noch heute Stricke, wie zu alter Zeit: betreiben das Gewerbe des Henkergehilfen. Man mag also vielleicht annehmen, daß ihre Ahnen, als die Knechte der Tschandalahenker, der tiefste Auswurf allen Volkes waren.

Heute ziehen die Rodiyas im Lande herum, sind Gaukler und Schlangenbeschwörer, und ihre Töchter tanzen. Sie sind tief verachtet: Henker waren ja ihre Väter. Und sie sind sehr schön: ihre Mütter waren Königskinder.


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