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Ich weiß längst, daß Visitenkartensammeln eine der geistreichsten Beschäftigungen der Welt ist. Schon der Briefmarkensammelsport – bei uns nennt man das alles »Sport« – ist sehr schön. Es hat auf mich einen sehr tiefen Eindruck gemacht, als mir so ein Sportsmann zum ersten Male auseinandersetzte, warum und weshalb bei ungebrauchten Marken der sogenannte »Gummiglanz« die große Hauptsache wäre. Noch höher steht eigentlich der Ex-libris-Sport, und dieser wird wieder weit hinter sich gelassen von dem Stollwerck- und Liebig-Bilder-Sammelsport. Aber ich denke, daß die Höhe aller Papierstückchen-Sammelsporte doch von den Visitenkartenafficionados erreicht wird.
Eine sehr schöne Sammlung dieser Art besitzt zweifellos die verwitwete Frau Rechnungsrat Kleinchen in der Alten Jakobstraße zu Berlin. Sie hat viele Tischchen in ihrer guten Stube, und auf jedem dieser Tischchen steht eine große Schale – aus Alabaster, mit drei Täubchen am Rande. Die Schalen sind mit weißen Schondeckchen zugedeckt, und auf die Schondeckchen hat Frau Minna Kleinchen mit fleißigen Händen die Inschriften aufgestickt. Da steht in Blau: »Hoheiten«, in Rot: »Künstler«, in Gelb: »Religion«, in Lila: »Freundschaft«. Bei den Hoheiten ist eine Krone, bei den Künstlern eine Lyra, bei der Religion ein Kreuz und bei der Freundschaft sind zwei verschlungene Hände zugestickt. So sind alle die Deckchen große Zierden ihres Salons; am schönsten aber deucht mich eines, das die Inschrift »Moabit« trägt. Jeder Buchstabe ist in anderer Farbe, und das soll wohl bedeuten, daß hier alles vertreten ist: Hoheiten und Künstler, Religion, Freundschaft und manches noch. Als Symbol zeigt das Moabitdeckchen einen Totenschädel und zwei gekreuzte Knochen; darunter steht: »Fiat Justitia«.
Ich kenne Frau Kleinchen, weil ich einmal als möblierter Herr bei ihr gewohnt habe – leider wurde mir nach acht Tagen wegen unsittlichen Lebenswandels gekündigt. Aber wir schieden in aller Freundschaft – weil wir beide gebildete Menschen sind, Frau Rechnungsrat sowohl wie ich – darum liegt meine Visitenkarte auch in der Abteilung »Freundschaft« und nicht unter den »Künstlern«. Seitdem erhalte ich regelmäßig, wenn ich in Berlin bin, den Besuch der lieben Dame, und sie nimmt dann alle Visitenkarten mit, die bei mir herumliegen. So bin ich eine Quelle zu ihrer Sammlung; aber sie muß noch eine Menge anderer Quellen haben, die etwas geheimnisvoll sind. Denn zu Lebzeiten des Herrn Rechnungsrates kannte sie gar niemanden außer dem Herrn Expeditor Bammer, dem Herrn Revisor Leipold und dem Herrn Privatier Hartbauch, die jeden Samstag abend zum Skate kamen. Diese Herren mögen wohl zu der Kategorie »Freundschaft« manche wertvolle Gabe aus ihren Kreisen beigesteuert haben, aber es scheint mir doch kühn, wenn man annehmen wollte, daß sie auch für die anderen Schalen viel Brauchbares herbeibrachten. Und man braucht nur in den großen Katalog, den der Herr Rechnungsrat selber anlegte und seiner lieben Minna zur silbernen Hochzeit schenkte, hineinzublicken, um sich zu überzeugen, welch köstliche Stücke in ihrem Besitze sind. Man blicke nur in die Abteilung »Künstler«! Die großen Tiere haben drei Sterne, andere zwei, einen oder gar keinen – wie im Baedecker. Drei Sterne hat Caruso, ferner sämtliche Mitglieder der Hofbühnen, des Metropoltheaters und aller Operettenbühnen. Drei Sterne haben auch Blumenthal, Leo Fall, Léhar, Margarete Böhme, Gustav Frenssen und solche berühmten Leute. Ich muß bekennen, daß Frau Kleinchens Ausbeute bei mir immer sehr dürftig war: ich habe in die Gattung »Künstler« nur mindere Namen wie Hauptmann, Dehmel, R. Strauß, Liebermann usw. beisteuern können, von denen keiner auch nur einen kleinen Stern bekommen hat. Dagegen hatte ich mehr Glück bei den »Hoheiten« und vor allem bei »Moabit«. Hierzu habe ich Manolescu, Henning, Frau Humbert, Frau Steinheil, Margulin und eine Menge anderer gestiftet – sie haben fast alle drei Sternchen! Freilich habe ich dabei ein nicht ganz reines Gewissen – – ich muß gestehen, daß ich ein wenig geschwindelt habe. Ich konnte die stummen Vorwürfe der Frau Rechnungsrat, daß ich so gar nichts Erstklassiges zu ihrer Sammlung beitragen konnte, einfach nicht mehr ertragen: da habe ich denn eines schönen Tages die Karten drucken lassen. Aber ich frage jeden vernünftigen Menschen: ist es nicht ganz gleichgültig, ob ich die Karten bestellt habe oder Herr Manolescu und Frau Steinheil selber? Oder ist auch hier bei Sammlern eine Art »Gummiglanz« oder sonst eine merkwürdige Sache besonders wesentlich?
Die »Hoheiten« hat Frau Rechnungsrat Kleinchen fast komplett, wenigstens die europäischen; von mir bekam sie einige zwanzig indische Maharadschas, dann ein paar Dutzend russische Großfürsten und malaische Sultane, darunter den von Johore (zwei Sternchen) und seine Frau, geborene Katz aus Frankfurt am Main. Den »Hohen Adel« sammelt sie nach dem Gothaischen Kalender, hier sind noch einige Lücken; dagegen ist »Religion«, wenigstens was Berlin betrifft, außerordentlich glänzend vertreten, sowohl an positiven wie liberalen Pastoren. Frau Kleinchen scheint da etwas parteiisch zu sein; wenigstens haben die positiven immer ein Sternchen mehr als die liberalen – –
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Die zweite großzügig angelegte Visitenkartensammlung sah ich bei Hattan-Island am Ausgange der Magelhaensstraße. Von der, von der ich eben erzählte, unterscheidet sie sich wesentlich: jene gehörte Frau Rechnungsrat Kleinchen in der Alten Jakobstraße, diese aber durchaus niemanden. Auch das Format ist ein anderes: unter drei Meter groß ist keine der Visitenkarten auf dem weißen Felsen. Religion, Freundschaft und Moabit sind hier ebensowenig vertreten wie die Hoheiten und Künstler; die Sammlung von Hattan-Island ist zwar international, aber doch recht einseitig: nichts, was noch lebt, ist da vertreten, und alles hat den gleichen Tod gefunden, den in den Wellen. Es sind Planken und Trümmer von untergegangenen Schiffen, auf denen die schiffbrüchigen Seeleute, die sich retten konnten, mit plumper Hand den Namen ihres Fahrzeuges aufmalten. In großen roten Buchstaben leuchtet »Albatros« in der Abendsonne, daneben in weißer Farbe auf schwarzen Planken »Jenny Hopkins«. Ich fand da »Kong Bjarne« wieder, einen norwegischen Tramp, der mich einmal von Brisbane nach Neuguinea trug, und »Marie Vahlen« aus Rostock. Viele Deutsche, Engländer, Skandinavier ruhen in diesem großen Grabe, das rings auf der Fläche Planken und Trümmer trägt und stets spielt mit ein paar Wracks, die es hochwirft und wieder hinabreißt, um sie endlich, Stück um Stück, zu zerfetzen. »Regina Elena« lese ich weiter, und »Restauradore« und »Isle de France«. Alle Nationen sind hier gleich, und keine hat einen bevorzugten Platz. Aber die weißen Felsen von Hattan-Island zeigen noch manch freien Raum – – ins Ungeheure mag in den Jahren diese Visitenkartensammlung anwachsen. Große Pinguine watscheln vor den Tafeln auf und ab; sie reden wie auf der Börse und scheinen es furchtbar komisch zu finden, wenn wieder ein neues Schild beweist, daß immer noch der Mensch weder recht fliegen noch recht schwimmen kann, und daß er zum Zeichen dessen die bunten Tafeln da aufhängt. Der graubärtige Kapitän aber steht neben mir auf der Brücke; er spricht gar nichts; starrt hinüber nach Hattan-Island und schweigt. Ich mag ihn nicht stören; er ist sentimental wie alle Seeleute. Er macht sich so seine Gedanken, und es ist gewiß, daß ihn die Aussicht da schrecklich traurig stimmt.
Traurig – – komisch – –? Sie haben letzten Endes alle beide recht. Der Kapitän so gut wie die Pinguine.
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Auch Europa hat solch eine Visitenkartensammlung großen Stils, wenn sie auch nicht ganz so romantisch und so wild ist, wie die der Magelhaensstraße – das ist die Sammlung im Hotel Skagen zu Skagen; mancher Schiffsname auf morschen Planken erzählt da von der Heimtücke der Wogen bei Jütlands Nordküste. Was Deutschland betrifft, so muß man die Sammlung der Rasenmühle bei Göttingen, die sicher manchen guten Namen enthält, nennen. Das ist Biedermeierstil und zahme Romantik: man rudert hinaus auf den Teich und wirft seine Karte in das klare Wasser, sieht zu, wie sie in langen Gleitflügen nach unten schwebt. Unglück bringt es, wenn sie mit dem Namen nach unten fällt, Glück aber, wenn man seinen Namen unten leuchten sieht, tief heraus vom Grunde. Studenten rudern zu der tiefen Stelle, im Mondschein oder bei strahlender Abendsonne, mit oder ohne ihre Liebchen –
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Einmal, als Student, schwor ich auf diese Visitenkartensammlung, später auf die der Frau Rechnungsrat Kleinchen, endlich aber schien auch diese mir doch überholt zu sein durch die andere von Skagen, und die wieder durch die noch wildere von Hattan-Island. Heute aber blicke ich stolz hinab auf alle, denn ich sah – in Hyderabad – Rahatmö Umfal, die lebende Visitenkartensammlung.
Herodot erzählt irgendwo eine entzückende kleine Geschichte. Eine schöne Buhlerin in Ägypten, ich glaube, sie war noch Königstochter obendrein, ließ sich von jedem ihrer Geliebten einen großen Stein schenken. Sie sammelte Stein um Stein und ließ dann Stein auf Stein legen. Und da sie sehr fleißig war, so bekam sie gar viele Steine, und als sie starb, zeugte von ihr eine gewaltige Pyramide, größer wie eine der Könige Ägyptens.
Diese Dame wollte im Gedächtnis der Menschen noch durch viele Jahrtausende leben. Rahatmö Umfal war bescheidener, und wenn auch sie von allen ihren Geliebten ein ganz besonderes Andenken begehrte, so war es doch nur, um damit ein sicheres und ruhiges Alter zu genießen. Geld und Gold zerrinnt, dachte sie, seidene Gewänder vermodern, aber was ich auf meiner braunen Haut trage, das kann mir keiner nehmen. Und so bat sie ihre Geliebten, doch ihre Namen fein säuberlich auf Papier zu schreiben. Das Papier aber brachte sie ihrer lieben alten Mutter, und sie, die die beste Tätowiererin im großen Reiche des Nizams von Hyderabad war, grub dem Töchterlein die Namen mit giftiger Nadel tief in die Haut. So wurde Rahatmö bald bekannt in ganz Mittelindien, und viele kamen, um ihrer bunten Schönheit zu huldigen.
Heute ist sie freilich eine alte Frau, aber nach wie vor empfängt sie die Besuche aller großen Sahibs. Freilich nicht mehr wie einst – – ihre Sammlung ist heute geschlossen, und kein neuer Name kann mehr hinzukommen. Ich weiß nicht, wieviel Steine das ägyptische Fräulein erwarb, aber ich weiß, daß Rahatmö Umfals einst gewiß sehr schönen Leib eine ungeheure Zahl von Namen zieren, und daß von der Stirne bis hinab zu den Zehen nirgends ein freies Plätzchen ist. In allen Sprachen prangen da ihre Geliebten, in Französisch und Englisch, in Deutsch, Russisch und Italiänisch, in Holländisch, Schwedisch und Dänisch – aber auch in Griechisch, in Persisch, in Urdu, Bengali und Tamil. Ich las den Namen eines bekannten deutschen Paters, und dahinter stand: S.J. – ich freute mich, das fromme Mitglied der Societas Jesu in so guter Gesellschaft zu wissen. Ich fand auch Mantegazza da und nicht weit von ihm Otto Ehlers. Ich las Namen von Konsuln und von Gelehrten, von deutschen Fürsten, englischen Lords und indischen Maharadschas. Ganz klein aber – und an sehr diskreter Stelle – fand ich den Namen von dem siebten Edward, Englands klugem Könige – damals freilich war er noch Prinz von Wales.
Rahatmö Umfal ist eine Hindufrau, und wenn sie stirbt, so wird sie verbrannt. Ich habe in sie hineingeredet wie in eine kranke Kuh, sie möchte mir für den Fall ihres Ablebens doch ihr Fellchen verkaufen. Es wäre das ein glänzendes Geschäft für mich, ich würde in Berlin oder London jeden Phantasiepreis dafür bekommen. Aber Rahatmö will nicht. Sie ist fromm, und sie will verbrannt werden. Und so wird mit ihr das schönste Stammbuch in Indien in Flammen aufgehen – – wer also Wissensdurst hat und die herrlichste Visitenkartensammlung der Welt noch einmal sehen will, der beeile sich und reise nach Hyderabad!