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Die Erforschung irgendeines wilden Menschenstammes in Mittelafrika, im südamerikanischen Chaco, in Polynesien oder in sonst irgendeinem noch kaum bekannten Gebiete ist gewiß interessant, aber sie reizt unsere Neugier doch nicht entfernt in dem Maße, in dem irgendein Naturvolk uns interessiert, das in der Alten Welt mitten unter uns wohnt. Der Grund hierfür ist einfach genug, er beruht auf dem krassen Gegensatz des ursprünglichen, primitiven Stammes und der ihn rings seit Jahrtausenden umgebenden Kultur und Zivilisation. Deshalb wird ein Ethnologe viel lieber als mit irgendwelchen Kanaken, Negern oder Ghacoindianern sich mit den seltsamen Urvölkern Indiens beschäftigen, den Tuda in den blauen Bergen, den Irab, den Badega, den Leptscha und Bhutia in Sikkin, den Limto in Nepal, den Kota, den Kurumba und wie alle diese verlorenen Splitter vergangener Rassen heißen mögen.
Ceylon bietet eine hübsche Musterkarte von allen möglichen Rassen, bunt genug schillernd in weiß, gelb und schwarz und allen Farben, die dazwischen sind. Singhalesen und Tamilen bilden die Hauptbevölkerung, neben ihnen nimmt der Maure noch einen breiten Raum ein. Dann folgen Malaien und Kaffern, weiter die Eurasier, die sich hier Burgher nennen, Mischlinge von Europäern und Eingeborenen. Und endlich die Europäer selbst, die herrschende Rasse, selbst aus einem guten Dutzend verschiedener Länder stammend. Aber interessanter als alle scheinen mir doch die Ureinwohner Ceylons, die auch heute noch wilden Weddah zu sein.
Als die Singhalesen, vermutlich ein nordindischer Stamm, nach der Insel Ceylon – die damals den Namen Lanka führte – kamen, fanden sie dort eine Bevölkerung vor, die sie Yakkha nannten; der Name Weddah – Jäger – wurde ihnen erst viel später beigelegt. Es mögen im Anfang vielleicht einige Kämpfe stattgefunden haben, doch vertrugen sich die beiden Völker sehr bald miteinander. Die singhalesischen Könige räumten den Waldmenschen in ihrem hochkultivierten Kastenstaate eine sehr hohe Stellung ein, gleich neben den Edeln. Auch erwähnt das Mahawansa, Ceylons ältestes Geschichtsbuch, daß König Tandukabhaya sie damit geehrt habe, ihnen die Bewachung des Südtores der Königsstadt Anuradhapura anzuvertrauen. Doch scheinen die scheuen Waldvölker all diese Ehren gar nicht begriffen oder doch wenig geschätzt zu haben, wenigstens wird ihrer in der ganzen Geschichte Ceylons nur wenige Male Erwähnung getan, wenn nämlich erzählt wird, daß sie, Seite an Seite mit den Singhalesen, gegen die von Südindien hereinbrechenden Tamilen gekämpft hatten. Diese Waffenbrüderschaft hielten die Waldleute den Singhalesen auch in späterer Zeit; sie kämpften mit ihnen sowohl gegen Portugiesen wie gegen Holländer und Engländer. Freilich scheint bei ihnen das Kriegführen nicht gerade besonders beliebt gewesen zu sein, wenigstens erzählt Knox, der im siebzehnten Jahrhundert durch zwanzig Jahre Gefangener des Königs von Kandy war, in seiner köstlichen »Ceylonischen Reisebeschreibung«, daß die Weddah zwar mit dem Könige in den Krieg gegen die Holländer gezogen seien, auch als Bogenschützen recht gute Dienste geleistet hätten, sich nach Beendigung des Feldzuges aber noch tiefer in ihre Wälder zurückgezogen hätten, um nicht noch einmal wieder mit solchen Dingen belästigt zu werden. Darnach scheinen die guten Kriegsdienste der Weddah für die Singhalesen stets eher einem mehr oder minder sanften Drucke als eigentlicher Freundschaft oder Kriegsbegeisterung ihren Ursprung zu verdanken.
Das kleine Volk der Weddah verdient aus dem Grunde ein ganz anderes Interesse als alle möglichen anderen primitiven Völker, an denen wir ja auf unserer Erde durchaus keinen Mangel haben, weil es, mitten unter ziemlich hoch zivilisierten Völkern lebend, mit diesen in einem dauernden Verkehr steht – und das seit Jahrtausenden – ohne doch auch nur einen kleinen Schritt voran getan zu haben. Die Weddah sind heute noch genau so Waldmenschen, wie sie es waren, als einst die Singhalesen ins Land brachen; spurlos zogen die Jahrhunderte an ihnen vorbei. Ihre Nahrung besteht in dem Fleisch, das ihnen ihr Pfeil verschafft, dazu in ein paar Wurzeln und dem Honig der wilden Bienen. Über die Kunst, Feuer zu machen, sind sie nie herausgekommen – und auch diese Kunst verstehen sie nur höchst unvollkommen. Sie sind im höchsten Maße scheu, hausen in den Dschungeln in Höhlen oder Baumlöchern und meiden streng jede Annäherung. Ihr »Verkehr« mit den Singhalesen oder Tamilen besteht darin, daß sie nachts in die Dörfer kommen und vor die Hütte des Schmiedes kleine Blätter, die sie in Pfeilspitzenform zerschnitten haben, niederlegen: als Muster für die eisernen Pfeilspitzen, die sie wünschen. Zur Bezahlung legen sie daneben etwas Wildpret, Wachs oder Honig. Der Schmied arbeitet ihnen die gewünschten Spitzen und legt sie seinerseits vor die Hütte; in einer der nächsten Nächte holt sie dann der Weddah ab. Wie tief die Weddah stehen, mag daraus hervorgehen, daß sie sogar Affen schießen und verzehren, was kein Naturvolk, das nur ein wenig aus dem allerniedrigsten Zustande heraus ist, mehr tut. Es gilt bei vielen Stämmen – sowohl in der Südsee, wie in Gran Chaco Boliviens, wie auch im Innern Afrikas – geradezu als der äußerste Ausdruck der Verachtung, wenn ein Volk von dem andern sagt: »Sie essen Affen.«
Der einzige Zusammenhang, den die Weddah haben, ist die Familie; den Begriff der Horde kennen sie nur insoweit, als eine Anzahl verwandter Familien ein. bestimmtes Waldrevier als ihr Jagd- und Honigsammelgebiet betrachtet. Eine eigentliche Religion kennen die Weddah nicht, doch glauben sie an Teufel und Dämonen, die nachts durch die Wälder streichen, und vor denen sie eine mächtige Furcht haben. Ihre Sitten und Gebräuche sind ebenso tiefstehend, doch scheinen sie auf ihre Frauen sehr eifersüchtig zu sein – im Gegensatz zu den Singhalesen, denen das Gefühl der Eifersucht völlig fremd ist. Warum sie freilich ihre Frauen stets verstecken, ist recht rätselhaft, denn häßlichere Geschöpfe als diese mag man auf der ganzen Insel kaum finden.
Ein größeres Interesse mögen ihre Tänze beanspruchen. Eine primitivere Musik als die ihre gibt es nicht: sie schlagen mit den flachen Händen auf den Bauch. Dazu gehen sie sehr langsam vorwärts, dann wieder zurück und drehen sich ebenso langsam einmal herum; das ist alles. Nur der sogenannte »Teufelstanz« zeigt ein anderes Bild. Während die »Musikanten« im Kreise herumstehen, macht der Tänzer erst langsame, dann schnelle und immer schnellere Bewegungen, schließlich dreht er sich sehr rasch im Kreise herum. Plötzlich stürzt er wie ohnmächtig hintenüber, wird aber von einem andern aufgefangen und tanzt weiter. Das geht so einige Male, bis der Tänzer wirklich steif und starr auf den Rücken fällt. Nun heben ihn die andern am Kopfe wie einen Stock hoch und setzen ihn wieder auf die Füße; nach einer kleinen Weile löst sich die Starre – der Tanz ist vorbei. Die Hauptsache ist natürlich die Herbeiführung des kataleptischen Zustandes; es ist eigentümlich, daß während desselben die sonst tiefdunkle Hautfarbe des Tänzers eine viel hellere, beinahe gelblichfahle Färbung annimmt.
Eine weitere Besonderheit dieser Waldmenschen ist die Art und Weise, wie sie Pfeil und Bogen handhaben. Sie legen sich dabei gern auf den Rücken, spannen den Bogen mit den Füßen und legen den Pfeil zwischen die Zehen. Sie glauben so Außerordentliches leisten zu können, doch sind ihre Schießkünste durchaus nicht so hervorragend. Die wirklich guten Dienste, die sie hier und da einem Jäger im Dschungel leisten, bestehen recht eigentlich in den Tugenden eines guten Jagdhundes.
Natürlich hat die englische Regierung alles mögliche versucht, um die Weddah zu heben, um sie seßhaft zu machen und ein wenig zu erziehen; namentlich interessierte sich der Gouverneur Mackenzie in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehr für sie. In Verbindung mit der Wesleyanischen Mission gründete er in den verschiedenen Provinzen Dörfer für sie, so Wippammadu in Battikaloa und Umeng und Willengelawelly in Uwa. Man baute ihnen Hütten, gab ihnen Vieh und Geräte, Reisfelder und Kokoswaldungen. Man grub ihnen Brunnen, gab ihnen Kleider und Arbeitszeug, errichtete ihnen Kirchen und Schulen. Die Waldmenschen zogen auch in die Dörfer und ließen sich die Wohltaten der Zivilisation scheinbar gerne gefallen. Sie wurden sehr gute Christen und schickten ihre Kinder zur Schule; natürlich nur, wenn sie jedesmal etwas dafür bekamen. Aber nach wenigen Jahren hatten sie das Leben wieder satt. Zuerst verließen sie die Kirchen und Schulen – die Arbeit war zu groß; und da sie ja nun alles schon hatten, so schien ihnen die jemalige Belohnung für den Besuch zu gering. Sie ließen die Brunnen verfallen, die Felder veröden; nach wenigen Jahren verließen sie dann wieder die Dörfer und zogen in das Dschungel zurück. Der Versuch der Regierung und der Mission war kläglich gescheitert; andern erging es nicht besser.
Trotzdem hat sich im Laufe der Jahrhunderte doch ein gewisser Teil der Weddah in den Singhalesen- und Tamilendörfern angesiedelt. Man nennt sie Dorfweddah, sie gehen langsam in der übrigen Bevölkerung auf. Die eigentlichen Weddah aber, die Waldweddah, halten sich nach wie vor im Dschungel und den unwegsamen Bergabhängen verborgen; sie gehen alle einer sicheren Vernichtung entgegen – gewiß nicht durch die »Zivilisation«, wie man so oft – und so falsch – stets von allen absterbenden primitiven Völkern liest.
Es ist natürlich außerordentlich schwer, ihre Zahl festzustellen. Zur Zeit der singhalesischen Könige müssen sie sehr beträchtlich gewesen sein, sonst würden diese gewiß nicht so ihre Freundschaft gesucht und sie so geehrt haben. Noch Knox erwähnt (1689), daß er auf seiner Flucht aus den Ländern des Königs von Kandy das Dschungel »ganz voll« von solchen Waldweddah gefunden habe. Dagegen schätzt sie die Volkszählung von 1881 nur auf etwa 2200 Köpfe, die von 1891 auf 1200, welche heute schon wieder auf die Hälfte zusammengeschmolzen sein mögen.
Freilich gilt diese Zählung nur von den sogenannten »zahmen« Weddah, während die wilden, die »Bergweddah«, die in den völlig unzugänglichen Dschungeln und Steinöden des Innern wie die wilden Tiere hausen, sich natürlich durchaus jeder Schätzung entziehen. Die Küstenweddah, die Wewattaweddah, die Nilgalaweddah – kurz alle die »zahmen« Weddah sind oft genug von Gelehrten besucht, untersucht und gemessen worden, ziemlich gründlich von dem Leipziger Professor Emil Schmidt; zu den »Bergweddah« aber haben bisher nur die Gebrüder Sarrazin ihren Weg gefunden. Der Tag ist nicht fern, an dem der letzte Weddah zugrunde geht, um vielleicht – wie der letzte Tasmanier vor zwanzig Jahren – in irgendeinem Museum ausgestopft, Kunde zu geben von dem seltsamen Stamme, der einst eine große Insel beherrschte.