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Wenn ein Deutscher über Eisenbahnen spricht, so schimpft er gewöhnlich über seine eigenen und lobt dafür alle anderen; das Ideal für ihn aber ist der amerikanische Pullmannwagen, von dem er irgendwo in einem illustrierten Blatt einmal eine Abbildung gesehen hat. In der Tat ist dieses »Ideal an Komfort« ein höchst altmodisches Möbel, das sich in Europa kein Reisender gefallen lassen würde. »Praktisch« ist es freilich, aber nur für die Pullmanngesellschaft und keineswegs für das Publikum. Der Speisesaal wird einfach von ein paar schmutzigen Niggers in einen Schlafsaal umgewandelt; rechts und links stehen dann in zwei Reihen übereinander die Betten, dicht mit einem möglichst viel Staub sammelnden Vorhang verschlossen. Dazwischen läuft der schmale Mittelgang. Man klettert in sein Bett, zieht sich aus, schläft und zieht sich am andern Morgen wieder an – – alles, so gut es eben gehen mag. Nur die Waschräume sind für die Geschlechter getrennt; an einem Ende können sich die Damen, am andern die Herren waschen – aber eine solche Massenwaschung ist ein sehr zweifelhaftes Vergnügen. Während man dort die größten Anstrengungen macht, sich mit wenig Wasser von sehr viel Schmutz zu reinigen, verwandeln die schwarzen Stewards den Schlafsaal wieder in einen Speisesaal, wobei von einem auch nur oberflächlichen Reinmachen gar nicht die Rede sein kann. Wir Europäer können uns trösten: die Speisewagen und Schlafwagen unserer Schlafwagen-Gesellschaften sind, wenn sie auch ganz gewiß nicht mustergiltig sind, doch bei weitem besser als die Pullmannwagen Amerikas.
Im allgemeinen haben Länder, die keine Industrie haben, natürlicherweise die besten Eisenbahnen – oder könnten sie wenigstens haben. Das klingt im ersten Augenblick ein wenig paradox, ist es aber ganz und gar nicht, wenn man bedenkt, daß nur solche Länder die freie Auswahl haben und daher am besten und billigsten kaufen können. Deutschland kann naturgemäß nur deutsches Material kaufen, England nur englisches, Frankreich nur französisches; man würde – und mit Recht – im anderen Falle der betreffenden Regierung die bittersten Vorwürfe einer antinationalen Politik machen. Rumänien aber – das eine Zeitlang in der Tat die besten Bahnen Europas hatte – braucht keine Rücksichten auf seine Eisenbahnindustrie zu nehmen – weil es eben keine hat. Es kann sich deutsche und französische, englische, belgische und italienische Proben ansehen und das Beste bestellen. Und es wird das Material immer noch billiger einkaufen als das Vaterland des betreffenden Lieferanten, aus demselben Grunde, aus dem China, Argentinien oder Peru seine Kanonen von Krupp, Ehrhardt oder Schneider-Creuzot trotz des weiten Transportes immer noch preiswerter bezieht als Deutschland oder Frankreich.
Aber ich will ja von indischen Bahnen sprechen und nicht von europäischen Kanonen. Indien hat nicht den Vorteil anderer Länder ohne Eisenbahnindustrie; es bezieht alles Material vom Mutterlande England. Trotzdem aber sind seine Bahnen die besten, die ich in fünf Weltteilen kennen gelernt habe; dazu sind sie neben den australischen die billigsten. Man fährt in erster Klasse etwa zum vierten Teil des Preises, den man in Deutschland bezahlen würde; die zweite Klasse – die alleinreisende Herren ganz gut benutzen können, und die sich an innerer Ausstattung kaum von der ersten unterscheidet – kostet die Hälfte dieser; die dritte wieder die Hälfte der zweiten Klasse. Selbst die dritte Klasse, in der man fast umsonst fährt, hat noch besondere Abteile für Europäer. Eine vierte Klasse aber mutet man selbst dem Kuli nicht zu. In der ersten Klasse kann man drei, in der zweiten zwei eingeborene Diener zum Preise dritter Klasse mitführen; diese haben ein besonderes Abteil nebenan, so daß man sie stets sofort zur Hand hat.
Natürlich sind nicht alle die vielen indischen Bahnen – sie sind in den Händen von Privatgesellschaften – gleichwertig, aber gut sind sie mit einer Ausnahme sämtlich. Das schwarze Schaf ist die Madras-Railway, »schwarz« auch insofern, als sie auch Eingeborene in ihrem Beamtenkörper hat, was keine andere Gesellschaft tut. Es muß dieser Gesellschaft wohl sehr schlecht gehen; sie ist auch die einzige, die die Reisenden mit dem Gepäck belästigt, alles genau abwiegt und dann lächerlich hohe Gebühren verlangt. Sonst sind gerade in diesem Punkte die indischen Bahnen sehr liberal, sie gewähren eine Menge Freigepäck im Gepäckwagen und erlauben dazu dem Reisenden, das »Handgepäck« nach seinem eigenen Gefallen zu bestimmen. Und was alles »Handgepäck« ist – das kann man in Indien lernen! Vier große Kabinenkoffer, sechs kleine Koffer und ein halbes Dutzend Schachteln und Taschen ist durchaus kein ungewöhnliches »Handgepäck« für einen einzelnen Reisenden.
Die Gesellschaften wetteifern darin, dem Reisenden die Stunden oder Tage der Fahrt so bequem wie möglich zu machen. Auf jeder neuen Bahn sieht man wieder neuen Komfort, namentlich bieten die »East Indian«, die »Audh and Rohilkhand«, die »South Indian« und die vereinigten »East Coast« und »Bengal-Nagpur« alles mögliche auf, um ihr Publikum zu befriedigen. Ich bin durch Indien in der allerheißesten Zeit gereist, bei oft über 50 Zentigrad im Schatten, und doch habe ich Fahrten von 40 bis 45 Stunden nicht so unangenehm empfunden wie eine Fahrt von nur zehn Stunden in Europa.
Das Abteil ist so groß wie ein kleines Zimmer; die Sitze sind nicht quer wie bei uns, sondern stehen in der Zuglinie längs den Fenstern. Alle Wagen sind hell elektrisch beleuchtet, sie haben Spiegel, kleine Tische und Stühle; die Wände zieren große Bilder mit hübschen Ansichten der Strecke – und nicht ein Sammelsurium von Verboten und Reklamen wie bei uns. Zu jedem Kupee gehören eine Toilette und ein Badezimmer, das eine große Wanne mit Brause und Warm- und Kaltwasserleitung enthält. Die Fenster sind fünffach; man mag nach Belieben wählen: ein gewöhnliches Glasfenster, eine dunkle Scheibe, um die Augen zu schonen, eine durchbrochene Holzscheibe gegen die Sonne, ein Drahtgeflechtfenster und endlich ein Rohrfaserfenster. Dieses letztere ist in der Hitze besonders angenehm. Man drückt auf einen Knopf – und vom Dache rinnt Wasser über die Scheibe, so wie von den Glasfenstern unserer besseren Blumenläden. Will man zu Bett gehen, so schiebt man ein kleines Fenster zurück, das zum Nebenabteil führt, und ruft seine Diener. Oh, das ist wirklich nicht so großartig, wie es klingen mag; es ist sehr billig in Indien, ein paar Boys zu haben. Man kann freilich heute schon in ganz Indien durchaus ohne eingeborene Diener reisen, da man in jedem Hotel Boys antreffen wird, die einigermaßen Englisch verstehen; aber der Mehraufwand ist so sehr gering und die Annehmlichkeit eigner Boys so groß, daß doch jeder Europäer sich bald nach der Ankunft einen oder zwei Diener mietet. Man ruft also seine Boys und läßt sein Bett machen – jeder Europäer führt Matratze, Bezüge, Kissen und Decken mit sich. Ich halte das für außerordentlich praktisch; es ist ein sehr viel angenehmeres Gefühl, in seinem eigenen Bett zu schlafen, als in europäischen Schlafwagen in einem fremden – trotz aller Reinlichkeit. Mittlerweile nimmt man im Speisewagen sein Abendessen, außerordentlich opulent – unter fünfzehn Gängen gibt es in Indien nun einmal nichts – und dabei meist recht genießbar und stets billig. Dann steigt man in sein Bad und geht zu Bett. In aller Frühe bringt der Boy heißen Tee und Toast an das Bett, man steht auf, nimmt wieder ein Bad und läßt derweil seine Betten packen. Man muß sagen: bequemer kann man es auch in keinem Hotel haben.
Geradezu mustergiltig ist die außerordentliche Liebenswürdigkeit der Beamten. Es macht den Eindruck, als ob ihnen nichts angenehmer sei als die Fragen der Reisenden zu beantworten – und es sind doch gewiß recht langweilige Fragen und immer dieselben. Aber der Station-Master ist stets von der gleichen Zuvorkommenheit und enthebt einen der bei uns oft so üblen Plackereien auf den Bahnhöfen vollständig. Auf den größeren Stationen sah ich häufig einen Herrn mit einem Stöckchen oder einer kleinen Peitsche – ich weiß nicht, was er eigentlich war, aber ich pflegte ihn nur »den freundlichen Mann« zu nennen. Dieser »freundliche Mann« ist einfach großartig. Wenn ein Reisender unruhig hin und her blickt und nicht weiß, wo er dies oder jenes besorgen will, erscheint der »freundliche Mann« und hilft. Er besorgt die Wagen, fertigt die Kulis ab, weiß überall glänzend Bescheid und gibt absolut sichere und gute Ratschläge. Er tut das, was bei uns der Bahnhofsportier – tun sollte; nur hat er gar nichts von einem Beamten, sondern gibt sich als liebenswürdigen Gentleman.
In manchen Städten, wo es keine Hotels gibt und wo die Dak Bungalows – die Regierungsunterkunftshäuser – nicht empfehlenswert sind, haben die Bahnen im Bahnhofsgebäude eine Reihe von Zimmern eingerichtet. Jedes hat natürlich sein Badezimmer und was sonst dazu gehört und ist genau so gut wie die Zimmer der besten indischen Hotels – dabei kostet es nur wenige Groschen. Das Essen in den Bahnhofsgebäuden ist meist ebenso gut wie in den Speisewagen – und daß man nicht genug bekomme, darüber braucht man sich in Indien nicht zu beklagen.
Alles in allem: der Eisenbahnbetrieb ist in Indien für das Publikum da, während bei uns oft das Publikum nur für die Eisenbahnen da ist – – damit der Staat oder die Aktionäre hübsch Geld verdienen. Sie sollten einmal in Indien reisen, um zu lernen, daß das recht gut auch andersherum geht.