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Der Schutzpatron des prächtigen Bremer Lloydschiffes, das mich nach Indien brachte, Georg Derfflinger, pflegte recht ärgerlich zu sein, wenn ihn, den Generalfeldmarschall, irgend etwas daran erinnerte, daß er einmal den Ziegenbock statt des Rosses geritten und die Elle statt des Schwertes geführt hatte. Ich bin ein besserer Mensch: ich sehe mit christlicher Nächstenliebe auf mein früheres Handwerk zurück, ertrage es hochherzig, wenn die Leute immer noch »Herr Doktor« zu mir sagen, und hege wie stets eine unbegrenzte Hochachtung vor allen Menschen, die Juristen sind. Ja, noch mehr, ich benutze jede Gelegenheit, mir in allen Ländern der Welt Gerichtssitzungen anzusehen – man lernt da so allerhand.
Außerdem – – was soll ein vernünftiger Mensch in Kalkutta tun? Die Stadt ist so europäisch wie Berlin, nur sind die Leute, die da herumlaufen, ein bißchen brauner und ein gut Teil schmutziger. Das Museum soll ja freilich hochinteressante Stücke haben: Hyänoarctusse, Amphikyonen, Dinormisse und Megaloscelornisse, reizende Tierchen, die ich für mein Leben gern gesehen hätte. Dazu den köstlichen Säbelzahntiger, den Siwalikstrauß und die Siwalikschildkröte, die größer wie ein Mammut ist. Aber leider hat das Museum das eigentümliche Prinzip, alle diese Dinge hermetisch zu verschließen. Und Tag für Tag kann man doch auch nicht durch die so herrlichen Gandharasäle gehen, zumal sie stets eng gefüllt sind mit grinsenden, unendlich dumm-frechen Bengalis.
Auch das große Kalkutta-Sweepstake war schon vorüber, und ich hatte natürlich verloren, wie immer beim Rennen.
So ging ich also eines Morgens früh zum Justizpalast. Aber auch hier schien tote Saison zu sein, die Herren Richter waren augenscheinlich in Simla, wie der Vizekönig. Ich lief von einem Saale zum andern und geriet schließlich in den »Chief Presidency Magistrate Court«. Dort wurden Anträge aller Art verhandelt, alle möglichen Petitionen meist ganz belanglosen Charakters. Ein Anwalt nach dem andern trug die besonderen Wünsche seiner Klienten vor; der Vorsitzende am grünen Tische, der Sehr Ehrenwerte Herr J.W. Swinhoe, ein würdiger, glattrasierter Fünfziger, hörte sie geduldig an. Wenigstens tat er so, wie eben alle Richter so tun, als ob sie zuhörten. Es ist das ein ganz besonderes Talent, das manche Juristen zur Vollkommenheit gebracht haben: höchst aufmerksam zuhören zu können, ohne auch nur eine kleine Silbe zu erfassen. Ein Staatsanwaltassessor in Köln war zu meiner Zeit ein wahres Genie darin; jeder Mensch im Saal hätte darauf geschworen, daß bei einer zehn Stunden langen Verhandlung auch nicht ein Wort ihm entgangen wäre. Und dabei war sein glückseliger Geist nur damit beschäftigt, auszurechnen, wieviel Chancen er habe, als Bankhalter beim Vingt-et-un zu gewinnen, wenn bei fünf Mitspielern und einem Höchsteinsatz von hundert Mark er dreimal drei dreifach besetzte Asse bekomme.
Ich weiß nicht, ob der Sehr Ehrenwerte Herr J. W. Swinhoe auch Vingt-et-un spielte oder ob er, wie ich, dem großen Kalkutta-Sweep nachtrauerte und seine Chancen für das nächste Jahr berechnete, oder ob er endlich wirklich zuhörte. Wenn er das tat, so war er jedenfalls ein Muster christlicher Pflichterfüllung, denn solch dummen, langweiligen Kleinkram, wie in dieser angloindischen Petitionskammer, habe ich meiner Tage noch nicht verhandeln hören. Und dann sandte ihm jedenfalls der Herr zur Belohnung den Sadhu Prawanath und seine höchst merkwürdige Petition.
Der Sadhu, der mit tiefer Verbeugung, beide Hände an der Stirne, zur Barre trat, war ein Bengali-Hindu von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Er trug eine schöne weiße Mütze und war recht respektabel angezogen nach der Mode, die man in Nordostindien »Marwari« nennt. Seine Stirne schmückte ein runder roter Farbenfleck, das »Chandan«, das ihn als Anhänger einer Schiwasekte erkennen ließ. Zaghaft trat er vor und überreichte seine Bittschrift; die war schön geschrieben auf weißem Bogen. Auch die Stempel, die das Gesetz vorschreibt, fehlten nicht.
Der Sehr Ehrenwerte nahm die Petition und warf einen flüchtigen Blick darauf. Aber er wurde bald aufmerksam, griff in die Tasche und entnahm dem krokodilledernen Etui einen schönen goldenen Zwicker. Sorgsam putzte er die Gläser mit seinem Palthyseidentuche, schneuzte sich und krönte die Nase mit dem Goldkneifer. Dann griff er wieder nach der Bittschrift, und diesmal las er wirklich. Manchmal blickte er auf und warf einen erstaunten, forschenden Blick auf den Sadhu. Plötzlich unterbrach er sich – er fühlte wohl, daß die Anwälte auch ein Recht hatten von diesem seltsamen Schriftstück etwas zu erfahren, das die Langeweile seiner Kammer endlich einmal unterbrach. Ob er auch an mich dachte und mir eine kleine Freude machen wollte, weiß ich nicht, gewiß aber wandte der Sehr Ehrenwerte sich ein wenig zu mir um, blickte mich prüfend an, hob die Bogen und begann dann laut die Bittschrift Prawanaths vorzulesen.
Der Sadhu setzte da des längeren auseinander, welch entsetzlichen Einfluß (pernicious influence) der Halleysche Komet für das indische Volk haben würde; ganz besonders gefährlich aber würde der himmlische Landstreicher der englischen Verwaltung werden. Er nun, der Sadhu Prawanath, sei ein großer Patriot, der sein Volk liebe und schätze, noch mehr aber sei er ein treuer Untertan Seiner Majestät des Kaisers von Indien und der englischen Krone. Und darum habe er beschlossen, Indien und England zu retten.
Lange sei er mit sich zu Rate gegangen, was zu tun sei. Er habe weiter alle in Betracht kommenden Autoritäten befragt, insbesondere verschiedene Kollegien brahmanischer Priester. Das Ergebnis sei, daß nur ein Mittel helfen könne: man müsse der Göttin Kali, des furchtbaren Schiwa schrecklichen Gattin, in ihrem Heiligtum zu Kalighat ein Menschenopfer bringen. So würde die grausame Göttin, die den Komet gesandt habe, versöhnt werden und wenigstens von Indien und allen Ländern des mächtigen Britenreiches den Untergang abwenden. Freilich würden dann die anderen Länder und Völker der Erde doppelt unter ihrem Zorne in der Gestalt des Kometen zu leiden haben – aber das sei deren Sache; sie könnten ja selbst der Kali oder sonst einer besseren Gottheit irgendein Menschenschlachtopfer bringen.
Hier unterbrach der Sehr Ehrenwerte die Lektüre der Bittschrift. Er sah den demütig vor ihm stehenden Inder scharf an und fragte ihn, wen man denn zu dem Opfer eigentlich nehmen solle? Ob man ihn etwa auslosen solle in einem Sweepstake? Oder ob er glaube, daß sich in ganz Indien ein Dummer finde, der sich freiwillig dazu bereit erkläre?
Der Sadhu verbeugte sich wieder tief und hob beide Hände zur Stirne. Dann zeigte er bescheiden auf die weißen Bogen in der Hand des Sehr Ehrenwerten – dort stehe die Antwort auf die Frage.
Herr J. W. Swinhoe nahm die Bittschrift wieder auf und las weiter. Sein Leben, so setzte der Sadhu Prawanath auseinander, sei ein völlig verfehltes und keinen Kupferpei wert. Darum wäre er glücklich, wenn er es hingeben dürfe im Tempel der Kali zu Kalighat, um so den Zorn der furchtbaren Göttin abzuwenden von seinem Lande. In alter Zeit habe man oft solche Opfer gebracht und jedesmal mit dem allerbesten Erfolge. Die Göttin Kali wolle eben Menschenblut, und man müsse es ihr geben – sonst lasteten die Hände ihrer acht Arme schwer auf dem Lande.
Und darum bitte er, Prawanath, der Sadhu, ein gutes und gerechtes Gericht gehorsamst und untertänigst, ihm die obrigkeitliche Erlaubnis geben zu wollen, sich zum Wohle Indiens und des ganzen Britenreiches im Tempel zu Kalighat, Kali, der Gattin Schiwas, als Opfer schlachten lassen zu dürfen. Die Behörde selbst aber möge Tag und Stunde bestimmen; sie würde in ihrer Weisheit gewiß die Zeit herausfinden, die am günstigsten wäre für das Opfer und in der am ehesten man Kalis Zorn beschwichtigen könne.
Herr J. W. Swinhoe lachte nicht. Er war im Amte und wahrte seine Würde. Und er wußte auch, welch große Stütze das englische Gericht für die britische Herrschaft in Indien ist, wußte, welch unbegrenztes Vertrauen die Hindu, die in ihrer Geschichte stets nur eine Justiz der Willkür gekannt haben, in das Recht der englischen Regierung setzen. So blieb er ernst. Er sagte dem Sadhu, daß weder er noch irgendein Beamter je seine Erlaubnis zu einer solchen Scheußlichkeit geben könnten. Er möge nach Hause gehen und recht ernsthaft und inständig zu seinen Göttern beten: dann würden diese gewiß von seinem Lande das große Übel abwenden, das der böse Komet anrichten wolle.
Der Sadhu schüttelte den Kopf. Nein, nein, das würde gar nichts helfen. Schiwa bekümmere sich nicht darum, was Kali mache, er würde ihn nur auslachen. Kali aber verlange Blut, Menschenblut – und sie müsse es haben. Er warf sich zur Erde nieder und bat und flehte. Er habe Geld, viel Geld sogar – und er wolle alles der Regierung geben für irgendeinen Zweck. Nur möge man ihm die Erlaubnis geben, sich schlachten lassen zu dürfen.
Der Sehr Ehrenwerte benutzte die Gelegenheit, um wieder einmal dem Hindu begreiflich zu machen, daß ein englischer Richter nicht bestechlich sei. Der Sadhu sah das ein und bat um Verzeihung – und obwohl er von vorneherein das wußte, machte es doch sichtlich einen starken Eindruck auf ihn, daß man sein Geld zurückwies. Aber er jammerte weiter und flehte unter Tränen, doch seinen Wunsch zu erfüllen. Und gebeugt, niedergeschmettert, völlig verzweifelt schritt er endlich aus dem Saale.
Die Sitzung war zu Ende, der Sehr Ehrenwerte stieg von seinem Sessel herab und plauderte mit den Anwälten. Kein Hindu war mehr im Saale außer den Dienern; so lachten sie herzlich über diesen närrischen Kauz, der durchaus unter schrecklichen Folterqualen zu Füßen des abgeschmackten und geschmacklosen Kalibildes zu Kalighat sterben wollte. Und sie kamen zu dem Schluß, daß solche ausgemachten Narreteien sich auch nur ein Inder aushecken könne.
* * *
Mir aber fiel der bierbäuchige Professor ein, der uns Sextanern römische Geschichte vorerzählte. Er hatte einen langen grauen Bart und wir Jungen konnten nach dem, was darin hing, stets erkennen, was er zu Mittag gegessen hatte. Der Mann war dafür bezahlt, daß er das Ideale in uns wecken sollte, und das tat er auch. Er sprach mit großem Pathos von dem Konsul Publius Decius Mus, der den Opfertod für sein Vaterland am Vesuv starb, und von seinem Enkel, der den gleichen Namen trug und den gleichen Tod starb bei Sentinum. Er erzählte eifrig die Geschichten von Horatius Cocles und Mucius Scaevola, schilderte uns, wie ein großer Abgrund sich auftat, der Rom zu verschlingen drohte, und wie sich der Ritter Marcus Curtius, um sein Vaterland zu retten, mit voller Rüstung und hoch zu Pferde hineinwarf. Und wir waren sehr begeistert und schwuren uns, einmal Leonidasse und Coclesse und Musse und Curtiusse zu werden. Oder zum allerwenigsten Scaevolas!
Aber es ist ein eigen Ding mit solchen Heldentaten. Wenn man zu Rom, zu Athen oder Syrakus die Herrscher mordet, dann wird man ein weltberühmter Mann wie Harmodios und Aristogeiton und wie Damon, der zu Dyonis, dem Tyrannen, schlich. Man wird reichlich bedichtet, und noch in Tausenden von Jahren lernen die Schulkinder die herrlichen Taten, besonders dann, wenn diese nie geschehen sind. Tut man's aber heute, so wird man hingerichtet und ist ein ganz niederträchtiger, hundsgemeiner Schuft wie Caserio und Ravachol und all die andern. Und ich finde, daß das sehr ungerecht ist. Wenn Prawanath ein armseliger Narr ist, so soll man den Marcus Curtius auch einen Esel und Dummkopf nennen. Wenn man diesen aber durch die Jahrtausende als Helden feiert – – warum in aller Welt versagt man dann dem Sadhu aus Kalkutta seinen wohlverdienten Ruhm?