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Die heilige Insel

Wir Romantiker können leicht Geschichten ersinnen, phantastische Träume träumen, mit den Sternen Fangball spielen und alles Seltsame und Unmögliche und Wahnsinnige zu Papier bringen. Wenn wir Glück haben und wenn unsre Geschichten einmal recht, recht gut sind, dann gelingt es uns, auf eine halbe Stunde vielleicht den Leser zu »fesseln«, wie man das so nennt; ihn glauben zu machen an unser Reich und das ganz Unwahrscheinliche für natürlich und das Allerundenkbarste für handgreiflich zu nehmen. Freilich – nach einer kurzen Weile erwacht der Mensch, den wir fingen, reibt sich die Augen, wirft die zerbrechlichen Fesseln ab, in die ihn unsere Kunst schlug, und lacht uns aus. Und er lebt vergnügt weiter in der bequemen Welt, die er kennt, und weiß recht gut, daß das alles – »ja gar nicht wahr ist!«

Wie aber, wenn er nun einmal in ein Land kommt, wo solche wilden Phantasien Wirklichkeiten sind? Wenn er mit Händen greifen, mit Augen sehen und mit zermarterten Ohren hören muß? Wenn das ganz Unmögliche eine kalte Tatsache ist und das gar nicht Faßbare dicht vor ihm steht?

Es ist eine höchst unbequeme Empfindung, die man dann hat. Man weiß nicht mehr aus und ein; sucht eine Brücke und findet keine, möchte irgendeine Verbindung schaffen zwischen sich und dem unnahbar Fremden und findet doch nirgends die leiseste Berührung. Zum Verzweifeln ist es!

So aber und nicht anders ergeht es dem Europäer, wenn er durch Südindiens Tempelstädte wandert, durch Madura, durch Tanjore und Trichinopoli. Er hebt die Augen und staunt und starrt – und kann doch nichts begreifen von alledem, was er sieht. Das alles muß aus längst vergangenen Jahrtausenden stammen, denkt er, aus einer Zeit, da der Menschen Hirn noch anders geartet war. Und er weiß doch, daß diese unerhörte, wahnsinnige Kunst mit all ihren grotesken und bizarren Auswüchsen kaum dreihundert Jahre alt ist, daß dieser Kult des Wilden und Grausamen gerade heute blüht und mächtige Flammen schlägt in den Köpfen der Menschen, die nicht um ihn stehn.

Er faßt sich an die Stirne und grübelt. Das alles ist ja gar nicht möglich? sagt er. Aber es steht doch vor ihm, titanenhaft und gewaltig. Und so seltsam zugleich und so rätselhaft und so unfaßbar für unser Hirn, daß er kaum fähig ist, sich von dem allen auch nur ein äußerliches Bild zu machen.

* * *

Indische Kunst – kein Mensch kann sagen, was das ist, und niemand kann ein Bild davon geben. Doch kann man wohl sagen, wie sich die eine Kunst gibt oder jene andere, die aufwächst aus dem heißen Boden des Kaiserreiches. Kann ein Bild geben von der edlen vornehmen Kunst des Islam in Agra und Delhi, in Gwalior, Dschaipur und Ahmedabad. Oder von der grandiosen Kunst der Jaina in Gudscherat und in Ratschputana. Von der Kunst auch, die aus Gautama Buddhas Boden wuchs, in Magadha und später in Gandhara. Von der Gotik und Renaissance endlich, die die Europäer nach Bombay, Kalkutta und Madras brachten. Und auch von Benares, das ein Ding für sich ist, ein wilder Haufen zügellosen Wahnsinns.

Die herrliche Kunst der Mauren verstehen wir gut, wie unsere Gotik und Renaissance. Und auch die Kunst der beiden Erleuchteten, Mahavira und Gautama, liegt unserem Empfinden nahe, wir mögen leicht das Gedankliche im Jainakult wie im Buddhakult erfassen, besonders in dem spätem Stile, den Hellas befruchtete. Aber gar nichts wissen wir anzufangen mit Benares, und eine ungeheure Kluft trennt uns von den grotesken und gewaltigen Baudenkmalen Südindiens.

* * *

Da ist ein hoher Fels in der weiten Ebene, und ringsherum liegt die Stadt Trichinopoli. Schnurgerade steigt eine gedeckte Treppe hinauf, viele hundert Stufen, geht rechts hinein in die Tempel, dann links, steigt wieder, kommt in neue Hallen und geht durch andere hohe Torbogen, von weißen Elefanten bewacht. Überall bettelnde Brahmanen, Kranke, Pilger und Büßer. Unmögliche Steinfratzen in dem Halbdunkel, irgendwelche der hunderttausend Götter Indiens. Oben vom Heiligtum blickt man tief hinab auf die Stadt. Eine alte Kanone träumt in der Sonne und bewacht Krischnas Schrein. Unten der heilige Teich mit kleinen Tempelinseln, Ghats und Heiligtümern ringsherum. Und weit hinten zwischen den Palmenwäldern leuchten die gewaltigen Gopuren von Seringam, der Tempelstadt.

Ein leichter Wagen trägt mich hinaus, an der Mission vorbei. Durch die schmutzige Stadt, durch das Viertel, wo die Christen wohnen, Leute der niedersten Kaste. Durch das Land zu der langen, breiten Brücke, die über die Kaveri führt. Ihr Wasser ist heilig, sagen die Inder, es steht in unterirdischem Zusammenhange mit der Mutter Ganga. Fromme Büßer stehen an der Kaveri Ufer, trinken ihr Wasser und beten. Große Schildkröten sonnen sich auf den Sandbänken, und weit unten erhebt ein gewaltiger Kaiman träge sein häßliches Haupt aus den Fluten. An der andern Seite, umflossen von zwei breiten Armen der Kavery, liegt die heilige Insel, Seringam (Sri Rangam).

Durch einen tiefen Wald hoher Kokospalmen, aber es wirkt wie eine gewaltige Halle, oben das dichte grüne Dach, unten viele tausend Säulen, die es tragen. Die Säulen, die Stämme der Palmen sind rot und weiß gestrichen, in den Farben Wischnus. Zwischen ihnen hocken Männer und Weiber, halten Kokosnüsse feil für die Pilger und gelbe weithin duftende Mangofrüchte.

Wohl eine Stunde lang fliegt mein Dogcart durch die rot-weiße Palmenhalle. Dann beginnt die Tempelstraße; zu beiden Seiten kleine Säulenhallen, die als Pilgerhäuser dienen. Und dann plötzlich hinausspringend aus dem weiten Säulenwald ragt die erste gewaltige Gopura, die Eingangspforte zu Wischnus Tempel.

Tempel – nein: Tempelstadt, in der über zwanzigtausend Menschen wohnen, in der oft eine halbe Million Pilger sich zusammendrängt. Mit solchen Verhältnissen rechnet die indische Frömmigkeit, während Europas froh ist, mit ein paar Tausend Gläubigen ein Gotteshaus füllen zu können.

Die Gopura ist eine riesige Pyramide, durch die der hohe Torbogen führt. Aber nicht flach wie Ägyptens Denkmale, sondern von oben bis unten dicht besetzt mit Tausenden von Figuren. Götterbilder, Dämonen, Helden und heilige Tiere; riesengroß manche, andere winzig klein, ein wildes wirres Durcheinander, das dem Auge nicht einen Moment lang Ruhe gönnt. Das Tor der Gopura stimmt zu ihren gewaltigen Verhältnissen, mächtige Monolithen dienen als Träger und als Deckplatten. Nach rechts und links laufen von der Gopura riesige Wallmauern aus, bilden ein großes Rechteck, wohl vier Meilen lang. Ich gehe durch das Tor, stehe nach dreihundert Schritten vor einer zweiten Gopura, noch größer, noch mächtiger als die erste; sie führt durch die zweite Umwallung. Und so ziehen sich sieben quadratische Mauern um Wischnus Heiligtum und eine jede öffnet sich in der Mitte von allen vier Seiten durch die riesigen Turmpyramiden; an die mächtigen Wälle geklebt hängen die Häuser und zwischen ihnen laufen die Straßen.

Die äußerste Straße ist die des frommen Volkes. Da sind Händler, die den kleinen ballspielenden Krischna verkaufen, andere halten Schminkläppchen feil, daß die Gläubigen sich die rot-weißen Male des Gottes auf der Stirne erneuern mögen. Manche verkaufen lange Schnüre weißer Tempelblumen und andere wieder kleine dichtschließende Gefäße aus Bronze, in das die Pilger das heilige Wasser mit nach Hause nehmen mögen. Frauen ziehen vorüber in roten und gelben Schleiertüchern, auf ihren Zehen aber und auf den Fingern, um die Füße und um die Arme, am Halse, in den Ohren und auf der Stirne und in den Nasenflügeln, überall leuchtet ihr Schmuck in der Sonne. Viel Silber, Goldflitter und buntes Glas.

Im zweiten Ringe hausen die Brahmanen. Sie sind viel dunkler hier als ihre fast weißen Brüder oben im Gangestale, aber doch weit heller als ihre Umgebung, die tiefbraunen Tamilen und Madrassi. Keinem fehlt die kleine weiße Schnur über der linken Schulter, sie gehn stolz daher, elastisch und den Kopf hoch aufgeworfen. Sie verachten den Europäer, den sie dennoch stets anbetteln, sie lachen gleich hochmütig über seinen neugierigen Blick, wie über die neidischen haßerfüllten Gebärden der niederen Kasten.

Fünf mächtige Elefanten kommen heran, heilige Tiere des Gottes, dessen Abzeichen sie auf der Stirne tragen, zwei weiße senkrechte Streifen und ein roter in der Mitte. Mit ihnen kommen Kamele, kommen heilige Stiere und Kühe. Und die Tiere betteln wie ihre Führer, wie ihre Priester, wie alles Volk. Sie fallen auf die Knie, rutschen im Staube und heben das kleine Silberstück auf.

Wieder eine Gopura, wieder eine Straße. Und überall Tempel, Hallen, mächtige heilige Wasserteiche voll trüben grünen Wassers. Lotosblumen leuchten da und ihre breiten Blätter ruhen unbeweglich auf der stillen Fläche; fromme Frauen knien, trinken und befeuchten ihre Stirne und ihre Brüste. Und überall Fratzen wahnsinniger, grausamer Götter; wilde Steine, die Grauen und Entsetzen speien, groteske Fresken, die sich überbieten an obszöner Narrheit.

In einem heiligen Schreine liegt des Gottes Schatz. Seidenstoffe mit vielen herrlichen Perlen besetzt, seine Füße zu decken. Goldene Ketten, seine Brust zu schmücken, Ringe und Armbänder, viele rote und blaue und grüne Steine. Oh, Gott Wischnu von Seringam ist unendlich reich, ob auch seine Schätze keine Zinsen tragen, sondern still in den Truhen ruhen und nur an den Festen durch alles Volk gefahren werden.

Aber seine Priester betteln.

Ich bin in der Halle der tausend hohen Säulen. Jede ist aus einem einzigen hohen Granit gehauen und jede ist von oben bis unten mit wildem Bildwerk verschnitzt. Und die tausend Säulen tragen die Dächer, aus gewaltigen Steinplatten gearbeitet.

Kunst? Ich weiß nicht, ob das alles Kunst ist. Wenn es eine ist, dann ist sie so unendlich fern unserem westlichen Empfinden, daß keine kleinste Brücke des Verstehens zu ihr hinüberführt. Das alles deucht mich so unwirklich, so unmöglich, so gar nicht wahr, daß ich den Gedanken nicht loswerden kann, daß aus diesen Steinen eine uralte Zeit von vielen Tausend von Jahren zu mir herstarre. Und ich weiß doch recht gut, daß das alles zu derselben Zeit entstand, als Schlüter das Schloß Unter den Linden baute!

Die Tempelstadt von Seringam, – das größte Heiligtum Wischnus in Indien. Doch seltsam, dicht bei ihm liegt ein anderer riesiger Tempel, dem Schiwa geweiht. Sei es. daß der Inder nicht wagte, dem Fischgotte ein solches Denkmal zu setzen, ohne dabei auch gleich des Zerstörers zu gedenken – denn jeder Anhänger Wischnus ist dennoch dabei auch ein Verehrer Schiwas – sei es, daß die strengen Bekenner des Schiwa und der Durga den Glanz des Erhalters überstrahlen wollten. Noch ist dieser Tempel Schiwas nicht völlig fertig, noch arbeiten – für das Geld der Chetties von Nattu-Kotla, der schlimmsten Wucherer in Indien – überall in seinen Straßen Steinmetzen an den Säulen und gewaltigen Götterbildern, aber schon herrscht ein Leben wie in Wischnus Heiligtume. Bettelnde Brahmanen, Dewadasi, Fromme, Büßer und Kranke; dazu die Yogin, die wildblickenden Söhne Schiwas. Bettelnde Elefanten hier wie dort, nur tragen sie Schiwas drei weiße Längskiele auf der Stirne, – dazu Kamele, Stiere und Kühe. Und hinten in der innersten Halle, hinter der letzten gewaltigen Gopura, die Tempeltänzerinnen mit den lachenden Augen, die süßen Nautchgirls, Schiwas wilde kleine Frauen.

Geheimnisse allüberall, bei Wischnu wie bei Schiwa. Wenn du Geld hast, magst du alle sehen, jeder Brahmane führt dich und besser noch die Nautch. Zeigt dir Säle, deren Türen sich zurückschieben und deren Wände zu riesigen Spiegeln werden; haushohe Wagen, die die Gottheiten spazieren fahren an den Festtagen. Wandmalereien durch lange Säulenhallen, fromm oft, naiv und kindlich, dann wieder grausam, widerlich und über alle Begriffe obszön. Trotzdem erklärt sie dir der Priester lachend, und lachend die schöne Nautch – –

Aber folge meinem Rate: wenn du scheidest, so schließe die Augen. Laufe geradezu auf deinen Wagen, steige schnell ein und laß die Gäule laufen: es tut nicht gut, auf das Volk zu achten. Lahme sähest du dort zu vielen Dutzenden, Blinde und Krüppel, Aussätzige und Leprakranke. Weiber, zerfressen vom Krebs, Lupuskranke, Rotzkranke, Pilger mit brandigen Armen und Beinen. Vor allem aber die schrecklichen Menschen, die Elefantiasis haben, diese furchtbare Plage Südindiens. Köpfe würdest du sehen wie Riesenkürbisse groß, Beine wie dicke Baumstämme, Arme wie Mammutbeine und Hände wie die Tatzen Goliaths. Sie kommen, kriechen wie du, um Seringam zu sehen, die heilige Insel. Freilich, sie werden faules, stinkendes Wasser trinken aus den Lotosteichen und durchaus nicht den Blutwein, den man dir bot –

Gleichviel: beides ist heilig, und sie sind Parias, du aber bist ein Sahib. Das weiß Schiwa sehr wohl.

Die Sonne Südindiens glüht vom Himmel. Sie ist stark wie das ewige Feuer und sie zeugt in dieser roten Erde all den Wahnsinn, der so üppig hier wuchert. Sie macht all das Unmögliche möglich, all das Unfaßbare handgreiflich. Alle perverseste Phantasie macht sie zum Natürlichen, alle unglaubliche Narrheit zum Selbstverständlichen. Das Entsetzliche wird hier das Alltägliche; aller Spuk und alle Teufelsgespenster werden in dieser Sonne zum Leben geboren.


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