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»Sie liegen krank und zum Sterben im oberen Kämmerlein!« |
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Chamisso. |
Man hatte sich über die Affaire Lehrbach ausgesprochen in der Residenz. Neue Ereignisse, neue kleine Skandale, wenn auch bedeutend harmloserer Natur, ließen sie in der Gesellschaft nach und nach in Vergessenheit geraten, und keine Seele gedachte der Möglichkeit, daß diesem Ministerdrama noch ein Nachspiel folgen könne, welches mit einem Schlage jene vergangenen Ereignisse aufs Neue in den Vordergrund drängen würde. Ein fast unglaubliches Gerücht verbreitete sich blitzschnell in der Residenz.
Baron d'Ouchy hatte sich erschossen.
In einem Anfall von Geistesstörung, so vermutete man, da das seltsam veränderte Wesen des jungen Diplomaten bereits seit Wochen aufgefallen war. Man glaubte in erster Zeit, daß der Kummer über den Sturz des Ministers, dessen Liebling und 237 leidenschaftlicher Anhänger er gewesen, die Schuld daran habe.
Und so ganz plötzlich war es gekommen! Allerdings kurze Zeit nach einem Besuch beim Grafen Lehrbach, welchen er in höchster Aufregung verlassen haben sollte.
Etliche Briefe hatte er noch geschrieben und dieselben durch seinen Diener besorgen lassen, dann hatte ein Schuß in dem Schlafzimmer des Baron d'Ouchy die Bewohner des deutschen Gesandtschaftshotels alarmirt.
Durch unverschlossene Thüren eindringend fand man den Attaché in einem Sessel liegen, starr und leblos bereits. Die Kugel war durch die Schläfe in das Gehirn gedrungen, und es mußte dem zu Folge der Tod unmittelbar eingetreten sein.
In dem Kamin flackerte noch ein kleines Feuer; verkohlte Papiere, Ueberreste von Cotillonorden und welken Blumen, sowie eine vergilbte Bandschleife zeugten davon, daß der Verblichene zuvor seinen Schreibtisch für fremde und profane Augen eingerichtet habe.
Das Motiv dieser unheilvollen That schien vorerst ein Rätsel, über welches man sich die Köpfe zerbrach. Tiefe, allgemeine Teilnahme und aufrichtiges Bedauern herrschte in der Residenz, denn d'Ouchy war ein allgemein sehr beliebtes Mitglied der Gesellschaft gewesen, von welchem man erwartet hatte, daß er nach seiner reichen Erbschaft eine hervorragende Rolle unter der Jeunesse dorée spielen würde.
238 Die Aufklärung aber, welche nicht lange auf sich warten ließ, war fast noch aufregender, noch unbegreiflicher als die That selbst.
D'Ouchy hatte ein Schreiben an das Ministerium hinterlassen, in welchem er sich der Defraudation, welche Seiner Excellenz dem Minister, Graf von Lehrbach zur Last gelegt worden sei, für schuldig bekannte. Er gab eine genaue Aufklärung der so unglaublich scheinenden Affaire, und versicherte, diesen unseligen Schritt in einem Zustand der Verzweiflung und der höchsten Not gethan zu haben, ohne zu ahnen, daß derselbe so fürchterliche Folgen für das Haus Lehrbach haben könne. Er sei der festen Ueberzeugung gewesen, daß der Herzog seinen Günstling in jeder Hinsicht schonen, und daß die ganze Angelegenheit von vornherein, ohne den mindesten Staub aufzurühren, niedergeschlagen werden würde. Daß Graf Lehrbach die Stellung als Minister aufgeben müsse, hätte er allerdings mit Bestimmtheit vorausgesehen, dieses Unglück jedoch im Verhältniß zu seiner eigenen verzweifelten Lage für kaum eines gehalten. Was er an seinem edlen Gönner und Freund verbrochen habe, sühne er jetzt durch freiwilligen Tod, und sei bereit, durch eine genaue Darlegung der Verhältnisse die angegriffene Ehre Seiner Excellenz zu rechtfertigen. – –
Es folgte nun eine Detaillirung der einzelnen, gravirenden Momente.
Die Namensunterschrift des Ministers war in der That echt. Eine Verkettung der günstigsten 239 Umstände hatte den jungen Attaché bei seinem Vorhaben in überraschendster Weise unterstützt, und ihn in die Lage versetzt, ohne jegliche Gefährdung seiner eigenen Persönlichkeit, den so unglaublich riskirten Schritt zu wagen. Von Arbeit überbürdet, nervös und in hohem Grade abgespannt, hatte Graf Lehrbach sich einer etwas von seiner gewöhnlichen Weise abweichenden Manier bedient, die laufenden Geschäfte zu erledigen.
Er las die einzelnen Aktenstücke, welche ihm zur Unterschrift vorgelegt wurden, aufmerksam durch, eines nach dem anderen, und schichtete die geprüften Schriften neben sich auf, um sie alsdann, meist ziemlich mechanisch und schnell, nach einander zu unterzeichnen. Baron d'Ouchy war ihm oftmals dabei behülflich gewesen, hatte die einzelnen Akten, Rechnungen und Quittungen zugereicht und sie nach empfangener Unterschrift weiter besorgt, und dabei eine günstige Gelegenheit benutzt, die Quittung des Berliner Bankhauses unbemerkt unterzuschieben.
Der Minister, welcher sich nur bei dem Lesen der Aktenstücke seiner Lorgnette bediente, seinen Namen jedoch einer Angewohnheit zu Folge fast immer mit ein und demselben Federzuge, ohne nur scharf auf das Papier zu sehen, niederschrieb, übersah bei seiner Fernsichtigkeit vollkommen den Inhalt der Quittung, welche er unterschrieb, und überließ sich dem guten Glauben, daß ein jedes einzelne dieser Papiere bereits aufs sorgfältigste von ihm durchgesehen sei.
240 So war es möglich gewesen, ohne jegliches Risiko und ohne nur Verdacht zu erwecken, zu der Unterschrift Seiner Excellenz zu gelangen. Es war, als ob das Glück die verhängnißvolle That d'Ouchys auf jede Weise begünstigen wolle. Ungewöhnliche Verhältnisse trugen dazu bei, die Geldsummen in unauffälligster Weise in die Hände des Attachés gelangen zu lassen und d'Ouchy empfing sie in der Ueberzeugung, daß der Günstling des Herzogs auf viel zu sicheren Füßen stehe, um ernstlich durch diese Defraudation Ehre und Ansehen zu verlieren, wenn er wirklich noch eine Entdeckung derselben erleben sollte; er war ja so alt und hinfällig geworden, der Allmächtige am Hofe.
Mit diesem Gedanken betäubte d'Ouchy sein Gewissen, da es sich anfänglich mahnend geregt hatte; im großen Ganzen aber schäumte das Zigeunerblut viel zu wild und zu verwegen, um überhaupt etwas zu bedenken. Ueber Leichen führte sein Weg, mit erbarmungslosem Fuße niedertretend, was sich als Schranke einer Liebe entgegenstellte, die weder Recht noch Gesetz und Macht kennt!
So war plötzlich ein greller Lichtschein auf die mysteriöse Affaire Lehrbach gefallen, welcher dem Publikum die Augen blendete und den Herzog Franz Eginhard mit solch unvermuteter Klarheit förmlich zu betäuben schien.
Wie ein Wirbelwind faßte es Aller Herzen! kaum hatte der Sturz des Ministers und die sensationellen Ereignisse, welche ihn bedingten, eine 241 solche Aufregung hervorgerufen, als diese unsagbar überraschende Lösung jenes Rätsels, welches der Ehre und dem Lebensglück eines völlig Schuldlosen das Todesurteil gesprochen hatte.
Franz Eginhard befand sich in qualvollster Erregung. Gewissensbisse folterten ihn. Die volle, kaum unterdrückte Neigung für den treuen Freund, welcher ihm nahe gestanden hatte wie ein Vater, an dessen Krankheit und Elend seine harten Worte, seine Ungnade schuld gewesen, erwachte mit der ganzen Innigkeit in seinem Herzen. Sie trieb ihn sofort nach dem Ministerhotel, um mit doppelt und dreifacher Huld und Auszeichnung die Wunden zu heilen, welche der Ehre jenes greisen Hauptes so unbarmherzig geschlagen waren.
Zu spät. Leer und öde stand das Lehrbachsche Haus. Noch trug der gelbliche Sand der Gartenwege die Spuren des kleinen Krankenwagens, welcher Seine Excellenz für ewige Zeiten in die Verbannung getragen.
Er erfuhr von dem Arzt, daß die außergewöhnliche Aufregung, in welche ein Gespräch mit Baron d'Ouchy den Kranken versetzt habe, seinen Zustand um Beträchtliches verschlimmert habe, so daß vorläufig erst die volle Ruhe des Landaufenthaltes ihre Wirkung auf die alterirten Nerven ausüben müsse, ehe man es wagen dürfe, den alten Herrn mit einer neuen Nachricht zu erschüttern, wenn dieselbe auch noch so erfreulicher Natur sei.
242 So beschloß der Herzog ein eigenhändiges Schreiben an Graf Günther zu senden, mit dem Ersuchen, seinem Vater, sobald wie es dessen Zustand erlaube, Mitteilung von demselben zu machen. Er forderte den jungen Offizier auf, möglichst sofort in die Heimat zurückzukehren, um seinem wohlaffektionirten Fürsten Gelegenheit zu geben, ihm seine außerordentliche Freude über die Lösung der peinlichen Angelegenheit aussprechen zu können. Die Residenz werde ihn mit offenen Armen empfangen.
Graf Günther antwortete in einem sehr ergebenen und hochbeglückten Schreiben. Die Aufforderung »zurückzukehren« lehnte er jedoch sehr entschieden mit der Bemerkung ab, daß er so völlig mit Leib und Seele bei seinen Studien sei, und ein solch verlockendes Prognostikon für sein Talent von seinem Meister und Lehrer ausgestellt bekommen habe, daß er es für seine Pflicht halte, auf dem eingeschlagenen Wege weiter zu wandeln, um einen Lorbeer zu ernten, welchen er hoffe, seiner Zeit seinem gnädigsten Fürsten zu Füßen legen zu dürfen.
In demselben Sinne erhielt auch Hattenheim ein Schreiben seines Freundes. –
»Ich will mich in Zukunft nicht mehr auf das Glück, sondern auf meine eigene Kraft verlassen, lieber Reinz,« schrieb er, »und hoffe alsdann einen sicherern Boden unter meinen Füßen zu haben, als wie bisher, wo ich mit blinden Augen auf dem 243 Turmseil des Zufalls balancirte, welches mich mit tödtlichem Sturz bedrohte, sowie die Göttin Fortuna ihrem Protégé die Hand entzog. Ich will auch den guten Leuten da oben zeigen, daß der »Cirkus« doch noch nicht »Lehrbachs letzte Idee« zu sein braucht. Ich male an einem ziemlich umfangreichen Bild, welches eine Vorstudie für ein Ausstellungsgemälde sein soll. Der Professor fand die Methode meiner heimatlichen Lehrer vortrefflich, und überraschte mich mit der beglückenden Kritik, daß meine Arbeiten das Niveau des Mittelmäßigen bereits um ein Weites überschritten hätten. Im Juli und August bekomme ich Ferien, dann fliege ich in Deinen Arm, mein treuer Reinz, und nehme Dir alle Last, welche Dir meine Ungeduld und feige Wanderlust aufgebürdet hat, von den breiten Schultern. Gott sei Dank, daß d'Ouchy so anständig war und die Gelder nicht vor seinem Ableben verputzt hat, nun kann ich mit gutem Gewissen mein liebes Lehrbach zurückkaufen. Ich hätte gar nicht geglaubt, daß ich für das »weiland Krähennest« ein solch zärtliches tendre haben könnte, aber ich versichere Dir, Dicker: der Gedanke, Lehrbach zu verlieren, war für mich der furchtbarste unter all dem Kummer, welchen ich durchkostete.«
Ein seliges Lächeln hatte Reimars ehrliches Antlitz verklärt, als er diesen Brief zu Ende las. Ja, das war wieder sein glücklicher, lachender Liebling von ehedem, welcher diese Zeilen geschrieben hatte, und doch war er ein Anderer geworden; in 244 dem Herzen, wo früher das giftige Pflänzchen Eitelkeit und Leichtsinn auf seichtem Boden sproßte, da wogte es jetzt von köstlichem Hoffnungsgrün.
* * *
An dem Tage, da das Gerücht von Baron d'Ouchy's so jähem und entsetzlichem Ende wie ein Unheilsvogel mit düstern, bluttriefenden Schwingen in der Residenz von Haus zu Haus flatterte, um den Leuten zu erzählen, daß das Schicksal auf den stürmischen Pfad eines Zampa seine Klippen gebaut habe, an welchen sein heißes Herz und sein gebrechliches Schifflein rettungslos gescheitert sei, an dem Tage senkte sich auch über die Villa Carolina eine drohende Wolke, welche allem Glück und allem Sonnenschein ein Ende zu bereiten schien.
Gräfin Auge hatte in ihrem Boudoir gesessen, um eine sehr feine, mühsame Malerei zu beenden.
Ein Geigenkasten aus dunkelem Ebenholz stand vor ihr, dessen Deckel ihre schlanke Hand mit den eigenartigsten Arabesken schmückte, welche sich, aus den Attributen der Musik zusammengestellt, um den gekrönten Namenszug des Baron d'Ouchy schlangen.
Ange arbeitete an einem Vielliebchen, welches ihr der junge Diplomat anläßlich eines kleinen musikalischen Streites abgewonnen hatte.
Sie neigte sich tief über Pinsel und Palette, es war ihr, als ginge ein Summen und Klingen aus diesen verschnörkelten Figuren, feurige Weisen, wie sie nur Leons Geige sprühte, als wirbele es plötzlich wild durcheinander in tollem Tanze, als 245 würden die schwebenden Genien zu fratzenhaften Zerrbildern . . . . . .
Die Komtesse richtete sich momentan empor und preßte die Hände gegen die Schläfe, schloß die Augen und atmete tief auf, sie arbeitete zu angestrengt und andauernd, sie mußte eine Weile ausruhen.
Wie ihr Herz stürmte und klopfte, war sie denn krank? Es lag wie Centnerlast auf ihrer Seele, eine unerklärliche Unruhe und Angst erfaßte sie, vielleicht wird ihr eine Spazierfahrt durch den Schloßpark, ein Aufatmen in frischer Luft gut thun.
Ange schlug den Deckel ihres Malkastens zu; die Spitze ihres Aermels streifte die kleine Schaale, in welcher Carmin aufgerieben war, sie schlug um, ein blutroter Farbenstrom ergoß sich grell über den Deckel des Geigenkastens, just über das Monogramm d'Ouchys und tropfte auf den Teppich nieder. Wie ein Schauder ging es durch Anges Glieder, sie sprang empor und rührte eilig die Schelle. Die Kammerjungfer erschien.
»Bringen Sie schnell Wasser und einen Schwamm,« rief ihr die junge Dame entgegen, »ich habe rechtes Malheur gehabt! Fast zu Ende mit der großen, mühseligen Arbeit, und nun verderbe ich mir zum Schluß die ganze Malerei!«
»Ach, gnädigste Komtesse, haben Sie's denn schon gehört?! . . . . . .« jammerte Lore mit starrem Blick auf die Carminflecken: »diese rote Lache mahnt mich wieder dran . . . . puh . . . . ich kann gar nicht 246 hinsehen! . . . .« und sie deckte die Hand über die Augen.
Ange sah sie erstaunt an. »Was ist denn passirt? Was soll ich wissen? . . . .«
»Ach, Komtesse, der Baron d'Ouchy! . . . . der schöne, vornehme Herr . . . . und so ein Unglück, so ein schreckliches Unglück!«
Groß und gläsern starrten sie die Augen der jungen Dame an. »Baron d'Ouchy? . . . . was ist ihm geschehen?« fragte sie kaum hörbar.
»Erschossen hat er sich! . . . . wie ein Blitz aus heiterem Himmel! . . . . eben erzählt es Tessins Diener drunten . . . . in seinem Sessel haben sie ihn liegen gefunden, todt und kalt bereits, kein Mensch weiß, warum.«
Ange wurde bleich wie Schnee, sie hob beide Hände in zitternder Abwehr gegen die Sprecherin.
»Eben ist auch Herr von Hattenheim gekommen und erzählt es der Frau Gräfin, ich sollte Komtesse gerade herzuholen.«
»Wasser!« rang es sich wie ein Schrei von Anges Lippen.
»Ja, ja . . . . sofort, ich bringe auch ein Tuch zum Nachreiben!« und, fast erschrocken über den fast rauhen Befehl ihrer sonst so gütigen Herrin, stürmte Lore durch die Thür.
Sie sah nicht mehr, wie die junge Dame die Hände gegen die Brust preßte, wie sie noch einen Schritt vortaumelte in das Zimmer, wie sie ohne Laut zusammenbrach . . . .
247 Als Lore wiederkehrte, wich sie mit gellendem Schrei zurück, um sich alsdann völlig fassungslos neben der todesstarren Gestalt niederzuwerfen, und mit ihren Hilferufen die Villa Carolina in höchste Bestürzung zu versetzen. – –
Auf starken Armen hatte Reimar von Hattenheim die Ohnmächtige in den Nebensalon getragen, um sie daselbst so zart und behutsam auf die Chaiselongue zu betten, als sei die bleiche Last auf seinem Arm eine sturmgeknickte Lilie, deren Kelch unter der lindesten Berührung zu entblättern droht.
Nach qualvoll langen, unerträglich langen Minuten schimmerte das erste lebenswarme Rot auf den Wangen der Komtesse, sie schlug die dunkeln Wimpern auf, ihr erster Blick senkte sich in die blauen Augen Reimars, welcher neben ihr kniete und ihre kalten Hände voll bebender Hast zwischen den seinen rieb.
Ein Angstschrei rang sich aus ihrer Brust, sie klammerte sich an die große, ungefüge Männerhand: »Laß ihn nicht herein, Reimar . . . . schließ die Thür zu . . . . hörst Du nicht? . . . . Schritte . . . . näher, immer näher . . . . Allmächtiger Gott!« –
Laut aufschluchzend neigte sich die Hofmarschallin über ihr Kind und drückte schirmend die fieberheiße Stirn gegen ihre Brust.
Vor die Hausthür rollte der Wagen des Arztes.
* * *
Gräfin Ange Lattdorf war an nervösem Fieber erkrankt. Ihre erhitzte Phantasie quälte sie mit 248 unheimlichen Bildern, sie hörte durch die Stille der Nacht die wilden, feurigen Czardasweisen des Baron d'Ouchy brausen, hörte des Zampa leidenschaftliche Lieder, welche wie tolles Tongewirre anschwellend zum donnernden Sturmgeheul hohnlachender Phantomen ihr Lager umkreisten, um ihr gellend, leise, süß und furchtbar drohend in das Ohr zu raunen: die Lieb', die vom Zigeuner stammt, kennt weder Recht, Gesetz und Macht – und dann dröhnte ein Schuß! wimmernd . . . . aufschluchzend verklangen die gespenstischen Stimmen, ein bleiches Angesicht tauchte aus dem Nebel empor, mit dunkel flackerndem Blick und einer Stirn, über welche wehe, blutige Flammen zuckten, und eine Hand streckte sich nach ihr aus . . . .
Gellend auf schrie Ange vor Qual und Entsetzen, »Reimar! . . . . Hilf mir, Reimar! . . . .« und ein blondes Männerhaupt, eine hohe, markige Gestalt trat neben sie, die hob den Arm gegen das bleiche Gespenst, faßte es mit eisernem Griff und drückte es zu Boden, tiefer . . . . immer tiefer . . . . bis es hinter den wirren, wallenden Teppichmustern verschwand.
Da atmete sie auf wie von unseligem Bann erlöst, faßte die Hand des blonden Mannes und klammerte sich zitternd daran fest, bis sie von Neuem aus dem Halbschlaf emporschreckte, bis sie der sanfte Druck dieser Hand abermals in süßen, milden Schlummer koste.
Drei Nächte hindurch hatte der Hofmarschall 249 an dem Krankenbett seiner Tochter wachen müssen, welche in zitternder Angst seine Hand umschlossen hielt und ihn Reimar nannte.
Dann trat eine schnelle Besserung ein und auf Wunsch des Arztes sollte die Komtesse bereits gegen Ende des Mai zu ihrer Erholung nach Groß-Stauffen abreisen, woselbst sie mit herzlicher Sehnsucht von Josephine erwartet wurde.
Frühlingssonne fiel in das Balkonzimmer der Villa Carolina.
Goldene, lachende Strahlen webten einen Duftschleier um die blühenden Zweige des Blumentisches, neben welchen der bequeme Sessel geschoben war, in dessen Kissen die Komtesse seit etlicher Zeit schon wieder die Tagesstunden verlebte.
Sie sah noch blaß aus, aber ihr Auge hatte den alten Glanz, den ruhig heiteren Blick, welcher Jedermann so unaussprechlich wohlthuend in die Seele leuchtete.
Außer etlichen Besuchen der Herzogin Marie Christiane, welche in höchsteigener Person sogar schon an das Krankenlager der jungen Dame getreten war, hatte Ange noch keinerlei Visiten empfangen. Nur Reimar von Hattenheim ging täglich aus und ein, und die zahlreichen Bouquets von Maiglöckchen, Veilchen und Primeln, welche aller Ecken und Enden im Zimmer Anges dufteten, repräsentirten seine Morgengrüße, mit welchen er sich täglich schon in aller Frühe nach dem Befinden der Cousine erkundigte.
250 Mit wahrer Ungeduld erwartete ihn Ange. In diesen behaglichen, stillen Plauderstunden hatten sich Beide erst so recht eigentlich kennen gelernt, da war so viel zur Sprache gekommen, was sonst wohl niemals im Gespräch berührt worden wäre. Und wenn Reimar von seiner Jugend, von daheim, dem einsamen, majestätischen Schloßbau erzählte, nach welchem er sich zurücksehne wie der Eisbär nach seiner Scholle, dann zerflossen die Erinnerungen an wilde Carmenlieder wie Nebelgebilde im hellen Sonnenlicht, dann war es Ange zu Mute, als strich eine milde Hand ganz leise über ihre Augen, damit sie sehend würden.
Heute hatte Fräulein von Dienheim ein Billet geschickt, mit der Anfrage, »ob Komtesse Ange die zwei Augensterne ihrer Huld nun endlich wieder über Gerechte und Ungerechte leuchten lasse, und ob sie, Ilse, nicht mit langer Nase abzuziehen brauche, wenn sie unter Mittag mal in Villa Carolina Sturm läuten würde?«
Der Medizinalrat war just anwesend gewesen, als man das stark nach Jockeyklub duftende Briefchen in die Hände der jungen Gräfin geliefert hatte.
»Die Dienheim?« lachte er, »natürlich, die dürfen Sie empfangen, Komtesse, deren Besuche sind nicht aufregender Natur, solange nicht die Fäuste ins Spiel kommen! An klirrenden Sporen und deutschen Kernworten werden Sie sich nicht den Magen verderben, wenngleich es etwas unsympathische Kost für Sie ist!«
251 Als sich dann später ein mörderlicher Skandal vor Villa Carolina erhob, Hundegekläff, Pfeifen und lautes, sehr biderbes Raisonniren, da sagte Ange unwillkürlich lachend: »Jetzt kommt Ilse! Sie annoncirt sich in gewohnter Weise!«
Und richtig, nach einer etwas geräuschvollen Verhandlung im Korridor stolperte und sprang es vernehmlich die Treppe empor, die Thür wurde mit kräftigem Schlag auf die Klinke geöffnet und dann stürmte Sylviens große Ulmer Dogge geradenwegs auf Ange zu. Ilse folgte laut lachend.
»Haben Sie's gehört, wie die infame Töle sich selber die Thür aufmacht? Das haben wir ihr im Schweiße unseres Angesichts beigebracht, um Susanne zu äffen. Die fürchtet sich nämlich vor der kalten Schnauze hier wie vor der asiatischen Cholera, und darum jagen wir ihr den »Pirat« und die »Madonna« täglich ein Dutzendmal in die Stube! Komm hier, Du Lump! . . Schönchen! . . Gib der Tante einen Kuß! . . . Sie wollen nicht, Ange? Ekeln Sie sich vor ihm? Na dann geben Sie ihm doch einen Tritt!«
Und Ilse setzte sich auf die Armlehne eines Sessels und baumelte mit den Füßen. »Haben Sie vorhin den Raddau vor dem Hause gehört? Die Köter bissen sich mal wieder mit einem Plebejer, darum habe ich die »Madonna« zur Strafe in Ihre Schränkestube unten gesperrt! Sie glauben gar nicht, wie oft man dazwischenfahren muß.« Und Ilse ließ ihren kleinen, sehr eleganten Spazierstock 252 bekräftigend durch die Luft sausen. »Darum ist ja jetzt auch der Skandal mit der Oberlandjägermeisterin, haben Sie schon davon Wind gekriegt?«
Ange verneinte.
»Das alte Gestell hat über Hoheit und mich skandalisirt, die tolle Prinzeß und ihr Küchendragoner hat sie uns betitelt!« und Ilse nahm ungenirt ihren Fuß empor, um das Schnürsenkel ihres englischen Schuhs, welches sich meistens ungebundenster Freiheit erfreute, zusammenzuknoten.
»Ah ich entsinne mich, davon gehört zu haben, aber nichts Genaues, ich hielt es für eine der unvermeidlichen Klatschgeschichten.«
»Nee, diesmal war die Sache ernst! Die alte Kröte wird's auch gewahr werden, wie schlecht Sylviens Laune seit einiger Zeit ist, Hoheit nimmt jetzt Alles gleich persönlich! Also hören Sie, die Sache war nämlich so: Prinzeß Sylvie und ich wollen einen Nachmittagsbummel machen und durch den Park gehen, um uns Hölzer zu neuen Spazierstöcken zu schneiden, und weil's Herzogin Mutter befohlen hat, nahmen wir die Hunde als Chaperon mit! Ich weiß es ja längst, daß Fafner ein Durchgänger ist, und wollte ihn gleich an die Leine nehmen, aber Prinzeß Sylvie will, daß er Ordre parirt, und behauptet, schon mit dem Köter fertig zu werden; also ziehen wir los. Natürlich sind wir knapp bis an die Gärtnereien gekommen, als auch schon mein Fafner selbständig wird, und Hurrah hinter der Postkutsche herjagt. Wir natürlich 253 hinterdrein geschrieen, gepfiffen, daß uns fast die Lungen platzten, aber Kirschkuchen! Hin ist hin, und Fafner gibt Fersengeld. Natürlich ärgerte uns das, denn faktisch, so ein Köter ohne Appell ist mir noch verhaßter wie eine Omelette mit 'ner eingebackenen Maus! Wie wir nach einer Stunde endlich auf dem Rückweg sind, wer kommt angeschwänzelt? Monsieur Fafner! »Warte, du Kanaille, jetzt bekommst du erst mal ein Paar aus der Armenkasse ausbezahlt!« grollte Prinzeß Sylvie, und lockte ihn 'ran. Aber da wir keine passenden Stöcke gefunden und geschnitten hatten, waren wir in Verlegenheit, womit wir ihn hauen sollten, bis ich auf die Idee kam, eine Latte von dem Staket des Küchengartens zu reißen, und damit gegen ihn loszuziehn. Erst prügelte ich ihm ein paar über, und dann nahm Hoheit den Stab der Gerechtigkeit und gab das Dessert, derweil ich den Köter hielt. Na, und da wollte eben das Unglück, daß ich einen Nagel an der Latte mit rausgerissen hatte, und der kratzte den Fafner an die Nase, wie er sich wälzte und mit dem Kopf zur Seite fährt! Da liefen ihm so ein paar Tröpfchen Blut über, und in dem Augenblick muß uns der Kukuk die alte Norbach in die Quere schicken, damit sie nun in der Stadt herumrennt, und Gott dankt, daß sie was zu hecheln hat! So; das ist der ganze Salat! Auf die Reden der Dame Norbach gebe ich gerade so viel!« und Ilse schnippte verächtlich mit Daumen und Zeigefinger in die Luft, und schaute fragend auf Ange.
254 Diese beschränkte sich darauf, die Achseln zu zucken mit einem: »Unglaublich!« welches ebensogut der Oberlandjägermeisterin, als der »tollen Prinzeß und ihrem Küchendragoner« gelten konnte; Ilse aber nahm die Semmel, welche neben der Frühstücksbouillon der Komtesse lag, und ließ den »Pirat« danach springen.
»Es ist jetzt recht oft schlecht Wetter bei der Hoheit,« sagte sie mit etwas boshaftem Augenzwinkern, »können Sie sich denken, warum?« Ange machte ein sehr erstauntes Gesicht und schüttelte das Köpfchen.
»Na ich danke, sind Sie harmlos! . . . Apropos . . . erzählt ihr Vetter nicht manchmal von Lehrbach?«
»Sehr selten! der Graf arbeitet so sehr angestrengt, daß er nicht mal zum Schreiben kommt!«
»Glauben Sie, daß es der Kerl wirklich zu etwas bringt? Wir sind hochgradig gespannt.«
Ilses Blick schien förmlich zu schillern.
Ange war entsetzlich lakonisch, und Ilse hatte so wenig Talent, etwas aus den Leuten herauszuquetschen.
»Sagen Sie mal, ich glaube, Lehrbach liebt das Gänseliesel?«
»Ach? Sie überraschen mich, Ilse!«
»Na, Sie sind doch die Intima?«
»Meiner Unwissenheit nach doch wohl nicht!«
»Die Wetter hat aber Lehrbach gekauft?«
»Das Erste, was ich höre! Reimar sprach nur von einer wildfremden Dame!«
255 »Sylvie ist wütend, daß sie sich den Ankauf hat entgehen lassen. Glauben Sie, daß Sie jetzt noch Schritte thun könnte, sich mit der Besitzerin in Verbindung zu setzen?
»Das möchte wohl schwer halten!« Ange konnte kaum das verächtliche Lächeln bemeistern, welches sich um ihre Lippen schlich.
»Hoheit läßt Sie dringend bitten, uns doch durch Ihren Vetter die Adresse der Dame zu verschaffen, wollen Sie?«
»Ich werde selbstverständlich Reimar darum bitten!«
»Bon! Hoheit wird sich erkenntlich zeigen. Uebrigens, wie geht es denn eigentlich mit Ihrer Gesundheit? Sie sehen so wohl aus, daß ich beinah ganz vergessen hätte zu fragen!«
Währenddessen riß »Pirat« einen Gueridon um, Ilse pfiff ihm und schwang den Stock. Bald darauf ging sie.
Als Ange Lattdorf nach etlichen Wochen abreiste, versäumte es Herr von Reuenstein nicht, an der Bahn zu erscheinen, um für das Gänseliesel einen Rosenstrauß mitzuschicken.
Er erbat sich zu diesem Zwecke Urlaub von dem Herzog und Prinz Detlef, welche er auf einem Morgenspaziergang begleitete, und wurde auch mit dem huldvollsten Lächeln von den hohen Herrn entlassen.
»Der Einzige von Allen, der sich immer gleich bleibt!« nickte Detlef dem Enteilenden nach, »ich 256 habe bemerkt, lieber Franz, daß die Knopflöcher dieses armen Kerls noch verteufelt öde aussehen . .«
»Dem Manne kann geholfen werden!« lachte der Herzog in bester Laune. 257