Nataly von Eschstruth
Gänseliesel
Nataly von Eschstruth

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Achtes Kapitel.

Entblättert die Rebe, vom Sturm bewegt,
Ans Fenster die letzte Ranke schlägt,
Feucht rieselt das Laub, verwelkt und dürr
Wirbelt's umher in tollem Gewirr!
Vierordt.            

Lange, einsame Monate waren über Groß-Stauffen hingezogen. Wohl hatte die Herbstsonne noch voll heuchlerischer und wolkenloser Pracht am Himmel gestanden, so daß ein paar späte Rosenknospen an der Schloßmauer zutraulich die zarten Kelche öffneten und die Astern und Georginen auf den Gartenrabatten glaubten, es sei ihnen noch Frist zum Blühen und Hoffen gegeben. Aber in der Nacht war ein tückischer Reif gefallen, der hatte mit kühlen Lippen einen Kuß auf die Rosen gedrückt, daß sie bis in die tiefste Seele zusammenschauerten, weh und todesbang erbleichend, bis die Köpfchen herniedersanken zu langem, langem Traume.

Dann waren dunkle Schatten über den Himmel gezogen, und über die weite Ebene sauste ein kalter Sturmwind, der knickte das braune Schilf am Seeufer, peitschte die Wellen und klirrte wie 186 grelle, tolle Lieder durch das Röhricht. »Hu!« sagten die Leute, »hört ihr, wie die ungetreue Wäscherin die Leinen klatscht? Das sind böse Weisen, die sie singt!«

Der Wind aber flatterte mit grauen Schwingen ruhelos dahin, fegte die letzten Halme über die Stoppelfelder, knarrte und pfiff durch den düsteren Nadelwald und rüttelte an den Läden und Turmschaltern des Stauffener Schlosses. Da wirbelten die letzten Blätter in den Staub hernieder, und Josephine kam mit zerzausten Haaren heim, suchte sich ein traulich Eckchen am warmen Ofen, um mit lächelnden Lippen und halbgeschlossenen Augen gar selige, sonnige Sommerlust zu träumen.

Tante Renate war geschäftiger als je, ging mit sorgenvoll gefalteter Stirn umher, seufzte oftmals tief auf und schüttelte das Haupt; kein Mensch glaubte wohl, wie schwer es war, so Haus und Hof für Monate voraus zu bestellen!

Auch Onkel Bernd stand nachdenklich vor den Ställen, schaute mit wenig vertrauensvollem Blick auf seine geliebten Pferde und dachte im Herzen: »Wie werd' ich euch armes Luderzeug wohl wiederfinden? Werdet's merken, daß der Alte fehlt, daß sein Auge nicht mehr über der Haferkiste wacht; na in Gottes Namen, 's ist ja um des Kindes willen, die Phine soll tanzen und vergnügt sein, was hilft's da!«

Und der kalte Novembertag war auch gekommen, wo die hohe, gelbe Kutsche vor dem Schloß stand 187 und Pastors mit verweinten Augen ab und zu rannten, um zahllose Schachteln und Kistchen und Kästchen in dem Innern des Ungetüms aufzustapeln; und dann kam Tante Renate im violetten Sammethut und dem kampferduftenden Pelzmantel, und sie umarmte die schluchzende Pastorin und sagte: »Na, ich verlasse mich auf Sie, liebes Pfarrerchen, Sie sehen mir ab und zu mal nach dem Rechten und schreiben mir, wie's steht! Hätte selber geglaubt, daß ich leichter einen Rettig mit den Wurzeln aus der Erde zöge, als meine alten Knochen von Stauffen losrisse, aber um der Phine willen! Das Kind muß raus, Pfarrerchen, muß absolut! . . . Und somit Gott befohlen, und die Mustöpfe und das Backobst, und was ich sonst noch in den Hausflur da gestellt habe, das nehmen Sie sich hübsch mit und essen Sie's Alle gesund und vergnügt auf!«

Die kleinen Pastors quietschten trotz des Trennungsschmerzes hell auf vor Freude und drängelten ungestüm um den dicken Pelzmantel: »Du leiwe Olling, ik krieg äwerst ok wat aff?«

Nur Gretchen behauptete die dunkle Stimmung, und brachte noch allerhand Grüße von ihrem Bruder, der ein Abschiedsgedicht für die Phine gesandt hatte.

Josephine bedankte sich ganz beschämt über so viel Liebenswürdigkeit und lud den zukünftigen Classiker dringend ein, sie sofort aufzusuchen, wenn er die Universität in der Residenz beziehen würde. Seiner Krankheit wegen hatte er ja diesen Sommer ganz still verleben müssen, aber Neujahr, vielleicht 188 schon zu Neujahr, kam er nach in die köstliche, große Stadt!

Mit vieler Umständlichkeit wurde zuerst die Tante, dann der sehr gerührte Onkel Bernd und zuletzt Josephine und Mademoiselle in die Chaise eingeladen, während Pastors ein herzzerreißendes Jammergeschrei anstimmten und die Tücher schwenkten, Alle mit überströmenden Augen, bis auf das Kleinste, welches in praktischer Umwandlung nachschrie: »Du, oll' Phining! äwerst tom Swineslachten bist widder to Hus! Sonst krieg' ik min lütt Worst nich aff! Häst hiert?«

Und »Phining« beugte das Köpfchen weit vor und nickte und lachte und winkte »Ade!« Mit brennenden Wangen, glückstrahlenden Augen und hochklopfendem Herzen schied Fräulein von Wetter von der Heimat, nie waren ihr die Thränen ferner gewesen, als in diesem Augenblick, welchen sie mit Sehnsucht erharrt hatte, welcher einen so großen Wendepunkt ihres Lebens bildete und welcher wie leuchtende Morgenröte dem feurigen Sonnenglanz des Glückes voranschwebte!

Wie das Vöglein, das aus dem kleinen, engen Ei geschlüpft ist, wonnevoll die Flügel dehnt und voll süßen Entzückens zum ersten Mal die weite, freie lachende Gotteswelt erblickt, so schaute auch Josephine halb hochmütig, halb verächtlich auf die zerbrochene Eierschale von Groß-Stauffen zurück, sie, der junge, flügge gewordene Vogel, welcher mit ungeduldigen Schwingen hinaus in die fremde, weite Welt flatterte, dem Glück entgegen!

189 Ihre Seele jauchzte den stummen Psalter tiefempfundener Wonne, all' die süßen Gaukelbilder der Zukunft glitzerten durch ihren Sinn, all' die seligen Träume der Vergangenheit lebten frischer auf denn je, wie ein Zauberschleier senkte es sich über Herz und Auge, zog fester und leuchtender seinen rosenroten Faden und wallte wie ein magisches Blenden um eine weiße Männerhand, die den Purpurkelch einer Rose emporhielt. »Dies soll das Symbol Ihrer Zukunft sein!« flüsterte es leise – bethörend in ihr Ohr.

O du glückselige Wanderlust!

Weiße Schneesternchen wehten um die Wagenfenster und hauchten einen dichten Reif dagegen, da verschwammen die Tannen und Gebüsche draußen und lagen in tiefem Nebel, selbst der Stauffener Schloßturm war von der Wegbiegung aus nicht mehr zu erblicken, die grauen Wolken schienen tief auf der Erde zu liegen, gleich einer gewaltigen Scheidewand, welche der Himmel selber zwischen das Vergangene und Künftige gestellt.

Tante Renate fand es sehr kalt und wickelte sich einsilbig in ihren Pelz, Onkel Bernd ließ die schwarze Ledertasche mit dem Proviant nicht aus den Armen und schlurrte mit den Füßen recognoscirend auf dem Wagenboden, um ein Stück Fußsack zu erwischen.

Während dessen dachte er auch einzig nur an seine armen Gäule daheim und an seine Wildschweine, Hirsche, Füchse und Hasen, welche in diesem Winter gewiß ganz unverschämt gewildert werden, weil der 190 Herr nicht zu Hause ist, und er seufzte tief auf und fügte in Gedanken hinzu: »Und meine hübschen Ableger werden auch zum Deiwel sein, die Pastern vergißt es doch gewiß, sie ordentlich zu gießen! Na, um der Phine willen! Mag's in Gottes Namen in die Welt hineingehen, einmal bläst es ja doch wieder zum Heimmarsch!«

Auch Mademoiselle war einsilbig und von der Außerordentlichkeit des Reiseereignisses etwas beklommen, sie saß kerzengerade der Freifrau gegenüber und verbiß sich mit wunderlichen Grimassen das Gähnen, hie und da voll Verzweiflung all' die Schachteln und Packete auf ihrem Schooß mit den hageren Armen umklammernd, wenn der holprige Fahrweg die Insassen der Chaise wie ein Kaleidoskop durcheinanderschüttelte.

Das langweilte Josephine; sie lehnte sich tief in die Wagenecke zurück, entfaltete Friedels Papier und las andachtsvoll und unendlich geschmeichelt die unsterblichen Reime, welche»nach großem Muster« mit viel rührender Anhänglichkeit an Heinrich Heine den »Abschied von Josephine« verherrlichten.

Fräulein von Wetter seufzte nach dem Durchlesen der Zeilen unwillkürlich laut auf und drückte des Dichterlings gepanzertes Sonett in heftiger Anerkennung gegen die Brust. Onkel Bernd aber schien förmlich auf eine derartige Kundgebung gelauert zu haben, denn er rückte eifrig auf seinem Sitze vor und blinzelte die junge Dame verständnißinnig an: »Nicht wahr, hast Hunger, Phine?«

191 Die Gefragte schüttelte mit schwärmerischem Blick das Köpfchen: »Ach nein, Onkelchen!«

»Du hältst Dir ja aber den Magen?« beharrte der Rittmeister, »hängt gewiß schief von dem verdeiwelten Geruttele, da . . . . hier haste ein Schinkenbrot, ich esse den Kameraden dazu.«

»Aber Bernd!« wunderte sich Tante Renate schläfrig und schüttelte den violetten Sammethut, daß der verblaßte Penséestrauß erschrocken vornüber nickte, »wie weit soll's denn reichen, wenn jetzt schon das Gefuttere losgeht? Den Wein läßt Du mir auf alle Fälle noch in Ruh!«

»Wir fahren ja mit der Bahn, Mutterchen, und sind in anderthalb Stunden da,« schmunzelte Onkel Bernd mit kräftigem Biß in die delikate Schnitte. »Du aber hast ebensoviel eingepackt wie vor fünfzehn Jahren, wo wir zwei Tage und zwei Nächte in dem alten Kasten hier troddelten; willste auch ein Brod? – Da hier . . . . ein's mit Schlackwurst,« und er drückte eifrig das Genannte in die mechanisch hingestreckte Hand der Gattin, welche durch den riesigen Pelzhandschuh einen beinah beängstigenden Umfang angenommen hatte.

»Hier, Mamsell, auch was für Sie . . . . na, man nur immer schlank weg! 's ist Käse drauf!«

Und die gelbe Chaise aus Groß-Stauffen quietschte langsam weiter durch den Schnee, dieweil es in ihrem Innern eine lange Zeit behaglich still blieb; Onkel Bernd hatte eine praktische Art, für Unterhaltung zu sorgen.

* * *

192 Der Zug sauste wie ein unglaubliches Märchengebild durch das weißverschneite, nordische Flachland und führte die Insassen der Groß-Stauffener Kutsche wie mit Zauberei dem Ziel entgegen. Zuerst mit einem Gefühl unendlicher Bangigkeit, dann mit jubelndem Entzücken schaute Josephine durch das Coupéfenster in die Gegend hinaus, welche schneller fast, als sie denken konnte, gleich einem Guckkastenbild an ihr vorüberflog.

Onkel Bernd hatte sich ihr gegenüber gesetzt, der großen Wärme wegen den Mantel abgelegt und sein bequemes Hausmützchen über die grauen Locken gezogen, ja sogar sein Pfeifchen hatte er sich anstecken dürfen, und so, im Vollbesitz aller Behaglichkeit, hielt er mit Josephine gnädige Musterung über die vorbeiwirbelnden Dörfer, Felder und Waldungen und erinnerte sich schließlich an das schöne Lied aus seiner Jugendzeit: »Welche Lust gewährt das Reisen,« welches er leise vor sich hinbrummte.

Auch die Freifrau empfand zuerst unverhohlenes Vergnügen an der schnellen Beförderung auf einem ihr so ungewöhnlichen Wege, mußte aber dann all' ihre liebenswürdige Aufmerksamkeit der armen Mademoiselle widmen, welcher das Reisen weniger Lust gewährte als Onkel Bernd, und welche nun überzeugt war, daß der große Goethe sein »Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an« einzig in einem gleichen Zustande so gewaltig wahr empfunden und niedergeschrieben hatte.

Schneller als es sich die Familie von Wetter 193 jemals hatte träumen lassen, tauchten plötzlich die Kuppeln und Türme der Residenz über der sandigen, jetzt wie ein endloses Schneemeer daliegenden Ebene empor, nur hie und da noch durch eine kurze Strecke hochstämmigen Kiefernwaldes verdeckt, an welchen sich bereits die entfernt liegenden Fabriken und Eisenwerke der westlichen Vorstadt anschlossen. Ein unaussprechliches Gefühl schnürte das Herz Josephinens zusammen. »Wieder in seiner Nähe! Vielleicht schon in wenigen Minuten an seiner Seite!« jauchzte es in ihr auf. »O Du langes, schmerzliches Warten und Harren, daß Du nun für immer zu Ende bist!« Und sie preßte das glühende Gesichtchen gegen die Fensterscheibe, in deren Eisdecke sie eine große offene Stelle gehaucht hatte, und spähte dem Perron entgegen, auf welchem er vielleicht stand und sie erwartete.

Mit gellendem Pfeifen brauste der Zug in die verdeckte Glashalle ein, wüster Lärm, Schreien, Rollen, Lachen und Läuten drang fast betäubend auf sie ein, dann riß der Schaffner die Coupéthür auf. »Zehn Minuten! Für Braubach, Zeuten und Drömnitz den Zug wechseln!« schrie er mit Löwenstimme, und Onkel Bernd, welcher bereits marschfertig beladen dastand, rief ein ängstliches: »Schnell, schnell doch – raus!« und schob Josephine vor sich her, in die wogende, fremde Menschenflut hinein.

Da fielen die ersten bitteren Tropfen in den Kelch der Reiselust. Tante Renate steuerte mutig dem Wartesaal entgegen, ein wenig devoter 194 Dienstmann mit dem Gepäck neben ihr her und Onkel Bernd schimpfend hinterdrein; denn die Leute hier waren sämmtlich unverschämt grob und hatten für seine umständliche Art absolut kein Verständniß. Außerdem wollte er in keinem Hotelomnibus, sondern in einer Droschke fahren, was der Hoteldiener aber energisch verweigerte. »Na, dann zum Teufel, immer schlank weg und mang die Weindrosseln!« fauchte er endlich mit zornrotem Kopf.

Mit angstvollen Augen spähte Josephine über die Menge, freudig aufzuckend, wenn sie eine schmucke Husarenuniform gewahrte, und doppelt enttäuscht, wenn der Träger derselben ein Fremder war. »Er weiß es ja nicht, wann wir kommen!« tröstete sie sich schließlich, »und die Ueberraschung wird doppelt groß sein!« Und sie folgte Tante Renate und wunderte sich, daß alle Leute ihr nachsahen und lachten.

»Du, guck aber mal die Sturmhaube!« hörte sie gerade einen stumpfnasigen Jungen rufen und sah, wie er die rotgefrorene Hand, nach der Freifrau violettem Hute deutend, emporhob; »die kommt von der Maskerade! Ah, komm, da machen wir hinterdrein!«

Ganz erstaunt starrte Josephine die frechen Bengel an, welche, Grimassen schneidend, neben Tante Renate herhüpften. »Aha, sie kennen uns nicht!« dachte sie, »wir sind ja ganz fremd hier, und der schöne Staatshut sticht ihnen in die Augen!« Und mit überlegenem Lächeln kletterte sie in den 195 großen Hotelomnibus, welcher sie endlich zum Ziel ihrer Reise bringen sollte.

Dichter und dichter fiel der Schnee; es war schon so dämmerig, daß man die Gesichter der Straßenpassanten nicht mehr erkennen konnte, hier und da flammten die hellen Lichter in den Läden auf, und es war ein Wagengerassel, Stimmengewirr und Lärm um sie her, daß Josephine mit schwerem Köpfchen die Augen schloß.

»Das Kind ist auch ganz herunter!« nickte Tante Renate, »es war eine stramme Tour, und meine Knochen sind wie gerädert! Jetzt wird oben in unseren Stuben zu Nacht gegessen und dann marsch ins Bett; soll doch übermorgen zum Ball nicht wie ein Käse aussehen, die Phine!« Und Tantchen raffte die Schachteln zusammen und erhob sich tief aufseufzend: »Gottlob, nun sind wir da!«


Vor dem hohen Spiegel saß Josephine und wurde von Tante Renate eigenhändig zum Hofball frisirt.

»Hübsch glatt und ordentlich, damit die Strähnen nicht gleich nach dem ersten Tanz um den Kopf fliegen!« sagte die Freifrau und drehte die schönen blonden Haare so fest und steif an dem Wirbel zusammen, daß sie wie ein glänzender, spitz abstehender Kauz dem schlanken Köpfchen gar wunderliche Façon gaben. Dazu wurde die Pomade nicht gespart, jedes Löckchen über der Stirn mußte fest gekleistert anliegen, so glatt, daß man sich in den flach 196 zurückgerissenen Haaren spiegeln konnte, und oben darauf, rund um den Flechtenknoten legte Tante Renate nun den dicken Kranz weißer und roter Kamelien, welchen sie persönlich mit genauer Angabe der Größe beim Hofgärtner bestellt hatte; denn Phine sollte frische Blumen tragen, wie das dazumal auch Mode gewesen war, als die Freifrau noch als Comtesse Malwitz hier am Hofe getanzt hatte.

Mit großen, glückstrahlenden Augen lächelte das junge Mädchen ihrem Spiegelbilde zu. Sie fand sich allerdings sehr anders aussehend als sonst, aber entschieden höchst geputzt und der Feierlichkeit vollkommen angemessen; auch sagte die Tante, sie musternd nach allen Seiten drehend: »So, nun bist Du fertig und siehst recht manierlich aus! Auch der Kranz sitzt wie angenagelt und kann Dir beim Tanzen nicht herunterfallen; dennoch bitte ich mir aus, daß Du nicht zu wild bist, Phine!«

Fräulein von Wetter schlang die schönen, weißen Arme, so rund und lieblich geformt wie die der tanzenden Marmorodaliske auf dem Kamine, voll stürmischer Zärtlichkeit um die Sprecherin und küßte sie stumm auf den Mund. Das kleine Herz war gar zu voll, um Worte zu finden, welche Alles hätten aussprechen können, was sie empfand.

»Und nun das Kleid angezogen!« fuhr die Freifrau diktatorisch fort. »Hast Du schon die vier weißen Röcke an?«

Josephine nickte eifrig und sah an sich nieder auf die breit abstehenden, steif gestärkten Jupons, 197 welche ihrer Zeit die weiteste der Krinolinen überspannt hatten; die schlanke Gestalt verschwand darin wie in einer aufgeblähten, unförmigen Wolke, aber die alte Dame sagte ruhig: »Bleib mit den Händen davon; die drücken sich schon mehr als genug im Wagen zusammen!« Und sie öffnete den großen Schließkorb und hob vorsichtig ein weißes Tüllkleid heraus, frisch gebügelt und gesteift, ein wahres Prachtstück von feinster Stickerei.

Die Augen des jungen Mädchens strahlten vor Wonne, zärtlich strich sie über die vielen Volants, welche so duftig und reich mit den köstlichsten Blütengewinden bestickt waren, eines über das andere fallend, und »echte« Spitzen sogar daran; o, selbst die Prinzessin wird ein solch kostbares Kleid nicht aufzuweisen haben.

Auch Tante Renate blickte mit wahrer Zärtlichkeit auf das prächtige Stück hernieder.

»Ja, ja, Phinchen, darin habe ich einstmals große Triumphe gefeiert,« nickte sie mit seltener Weichheit in der Stimme, »war der Tag, wo ich meinen lieben Alten zum ersten Mal sah. Trat mich auf den Fuß, als er mit der kleinen Brandau einen stürmischen Galopp tanzte, und da sprachen wir zum ersten Mal ein Wort zusammen, tanzten auch gleich eine Extratonr; ja, ja, kleine Ursache und große Wirkung! So, mein Herzchen, nun halt den Kopf steif, daß ich Dir den Rock überwerfe, hier die Taille . . . bleib mit den Händen davon! Und sput' Dich ein Bischen, es schlägt schon halb!«

198 Mit sehr echauffirtem Antlitz vollendete die Freifrau die Toilette der jungen Dame, band ihr die buntfarbig geflammte Seidenschärpe, welche vor fünfundzwanzig Jahren gewiß einmal sehr modern gewesen war, mit gigantischer Schleife um die Taille fest und steckte den Kamelienstrauß an die Schulter.

»Ist mir doch, als ob ich mich selber wieder jung sähe!« nickte sie mit fast melancholischem Lächeln, »und weiß nun, wozu ich all' die schönen Sachen so sorglich aufgehoben habe! Nun bist Du fertig, Kind! Jetzt stell' Dich dort in die freie Ecke an den Tisch und zieh Dir die Handschuhe an, aber nicht etwa hingesetzt! da sollte das frische Kleid gleich schön aussehen!« Und Tante Renate nestelte die lange Schleppe ihrer Staatsrobe, welche sie während ihrer Hilfsleistung emporgesteckt hatte, los und warf die weiße Parchendjacke ab.

Auch die Toilette der Freifrau erblickte unverändert nach zwanzigjährigem Todesschlaf heute die fürstlichen Säle wieder, durch welche sie ehemals als viel bewunderte Pracht gerauscht war.

Es war eine dunkellila Sammetschleppe, welche über ein Unterkleid von zart nüancirtem Damast fiel, in breiten Boden mit kostbaren Spitzen besetzt, welche auf der Vorderbahn durch große Amethystagraffen gehalten wurden. Obwohl Stoff und Points einen hohen Wert repräsentirten und weder vergilbt noch verlegen aussahen, so war doch der ganze Gesammteindruck der großen und ziemlich korpulenten Erscheinung der alten Dame ein so 199 unendlich altmodischer und ungewohnter, wie man ihn höchstens noch auf der Bühne an humoristischen Figuren gewohnt war.

Josephine streifte mit vieler Mühe und Ungeschicklichkeit die weißen Handschuhe an, sah sich dabei möglichst oft in den Spiegel und dachte mit glühenden Wangen: »Ach, wenn mich doch Pastors jetzt sehen könnten!« Dabei wirbelten die Gedanken wie ein Heer bunter Schmetterlinge durch das kleine Köpfchen; all' die neuen Eindrücke der beiden letzten Tage stürmten wieder auf sie ein, um ihre rege Phantasie und ihre so wie so schon sehr sensible Natur aufs höchste anzuspannen und zu erfüllen. Erstlich der so vollkommen fremde Anblick der Großstadt, welche sich heute, am Geburtsfeste des Herzogs, von ganz außergewöhnlich lebhafter und prächtiger Seite zeigte; dann die Parade mit den vielen Soldaten und der köstlichen Musik, welche sie just gesehen hatten, als sie bei den vielen Staats- und Hofchargen Visite fuhren und überall nur Karten abzugeben brauchten, und die vielen geputzten Leute, welche sie alle so neugierig auf der Straße ansahen! Günther hatte sie noch nicht gesehen, obwohl sie mit sehnsüchtig klopfendem Herzen von frühester Morgenstunde an am Hotelfenster gestanden und auf den Marktplatz hinausgespäht hatte; auch unter den vielen Offizieren, welche heute schon den ganzen Tag über in den verschiedensten Uniformen dem Palais zuströmten, hatte sie ihn nicht entdecken können. Aber nun! Nun ist es bald überstanden, dies schreckliche 200 Harren und Hoffen, und sie wird in den Saal treten und sein überraschtes fröhliches Gesicht sehen, ach, und wird lachen vor Wonne und Seligkeit, lachen, daß alles Leid darüber vergessen ist! Vielleicht ist auch Hattenheim da! Das ist ihr aber ganz gleichgültig, nach dem hat sie gar kein Verlangen und würde noch kein Wort darum verlieren, wenn er selbst im Pfefferlande säße! Sie denkt nur an Einen, geht nur um dieses Einen willen zum Ball und würde ihr Herzblut für ihn hingeben, wenn's verlangt würde; sie hat ihn ja so lieb, so herzinnig lieb, diesen Einen!

Da trat Onkel Bernd im Frack und weißer Weste, mit seinen Orden im Knopfloch und mit hochfrisirter Tolle aus dem Nebenzimmer herein.

Er war den ganzen Morgen schlechter Laune gewesen, weil Tante Renate die Dinereinladung für den Nachmittag vor dem Ball nicht angenommen hatte. »Weil's zu viel wird; und ich keine doppelten Kleider zurechtgemacht habe!« hatte sie gesagt; aber der Rittmeister hätte gewiß viel mehr Vergnügen an dem Diner als an dem langweiligen Ball gehabt.

»Na, 's ist um der Phine willen!« hatte er endlich resignirt geseufzt, und war schnell nochmal die Hauptstraße hinabgegangen, um sich eine weiße Kravatte zu kaufen.

»Na, Alte, sind wir's?« fragte er schmunzelnd, stellte einen Teller mit belegten Brödchen und zwei Eiern vor sich auf den Tisch und fuhr eifrig fort: »Ehe wir weggehen, wird aber noch ein Brod 201 gegessen, damit uns nicht blümerant wird! Ranmarschirt, Phinchen! Da haste ein paar harte Eier und eine Butterschnitte, nun mal immer schlank weg; ist ja nur ein Ohnmachtshappen!«

Josephine sträubte sich aus Leibeskräften.

»Ich kann nicht, Onkelchen, mir ist der Hals wie zugeschnürt!« versicherte sie mit purpurleuchtenden Wangen.

Tante Renate aber sprach ein strenges Machtwort, und mit verzweifeltem Gesichtchen, die bereits mit Handschuhen bekleideten Finger vorsorglich abspreizend, ließ sich Fräulein von Wetter von dem Onkel füttern, ganz wie vor langen Jahren, da sie als Baby auf seinem Knie gesessen hatte und der Rittmeister das Frühbrod der Kleinen, in zierliche Stückchen zerschnitten, als »Schwadron Soldaten« vor ihr aufmarschiren ließ. Dann rollte der Wagen drunten vor die Thür, und mit fiebernden Pulsen stürmte Josephine in die fremde, bunte Welt hinein; hinter ihr fiel die Thür schmetternd ins Schloß, just, als ob das Schicksal einen Riegel vor die Vergangenheit schieben wollte, als ob sich die goldene Pforte glückseliger Kindheit für ewige Zeiten hinter dem flüggen Vögelchen schlösse. 202


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