Nataly von Eschstruth
Gänseliesel
Nataly von Eschstruth

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Einundzwanzigstes Kapitel.

»Wenn Alle untreu werden,
So bleib ich Dir doch treu!« –
Novalis.        

Die Kunde von der Erkrankung Seiner Excellenz und die eigentümlichen Gerüchte über die plötzliche Ordre des Herzogs, jedwede Untersuchung betreffs der Defraudation niederzuschlagen, flogen wie auf Sturmesschwingen durch Stadt und Land und rissen zaubermächtig die heuchlerischen Larven von dem Antlitz der meisten Mitglieder der Gesellschaft.

Da zischte die lange gedämmte Flut des Hasses und der Mißgunst plötzlich himmelhoch empor, da war endlich das Signal gegeben, mit offenem Visir gegen den Namen Lehrbach vorzugehen.

Wie viele scharfe Krallen schlugen sich da unbarmherzig in das wehrlose Opfer, um ihm die Ehre und den guten Klang des Namens zu zerfleischen, um das stolze Wappenschild herniederzureißen und in den Staub zu treten! Wohin war die große Zahl der Freunde zerstoben, welche noch vor wenigen 182 Tagen den Rücken vor der Allmacht des Ministers bogen und den Kapricen des Glückskindes ein schmeichlerisches Bravo klatschten?

Da blieb kein Einziger von Allen.

Wie unklug wäre es gewesen, öffentlich für einen Mann zu sprechen, welcher allerhöchsten Ortes so ostensibel in Ungnade gefallen, über welchen man ungenirt die ehrenrührigsten Dinge erzählte?

Jeder ist sich selbst der Nächste. Wer von all den lächelnden dekorirten und hochgestellten Herren steht wohl fest auf dem höfischen Parquet? Da strauchelt auch der Sicherste und läuft Gefahr auszugleiten, da hat ein Jeder gerade genug zu thun, um seiner eigenen Position die Balance zu halten. Auch zur Villa Carolina fanden all die Gerüchte und Schreckenskunden ihren Weg.

Eine verzweifelte Aufregung erfaßte Josephine. Die Wettersche Linie trat scharf und drohend zwischen die Augenbrauen, keine Thräne netzte das bleiche Antlitz, aber die kleinen Hände ballten sich in zitternder Entrüstung.

Der alte, ehrwürdige Graf ein Dieb? Dieses edle, silberumlockte Haupt mit den sanften, müden Augen und dem melancholischen Lächeln sollte verbrecherische Gedanken hinter der Stirn gehegt haben? Eher wollte sie glauben, daß die klare Sonne selber vom Himmel herniederstieg, um ihr leuchtendes Diadem der Herrlichkeit in Sumpf und Staub zu drücken! Mochten Autoritäten einen Spruch fällen, welcher Art sie wollten! Josephinens Glauben an 183 die Rechtschaffenheit des unglücklichen alten Mannes war größer als die schlagendsten Beweise moderner Wissenschaft.

Ganz allein, ganz verlassen und hilflos liegt er auf seinem Schmerzenslager!

Wer ist bei ihm? – Das weiß man nicht, man vermutet, sein treuer Kammerdiener und – vielleicht sein Sohn!

Wie können diese einen so schwer Erkrankten pflegen? Der Graf ist auf der rechten Seite völlig gelähmt, sogar der Sprache beraubt. Ist denn keine von all' den Damen, welche sich auf so unzähligen Festen Seiner Excellenz noch vor kurzer Zeit so himmlisch amüsirten, zur Stelle, um ihn mit weicher, schonender Hand zu pflegen?

Keine von Allen. Wie sollte man auch? Die Schwelle dieses Hauses war verpönt, man wandte den Kopf ab, wenn man daran vorüberfuhr. Und nun gar sich als treue Freundin geriren und Krankenpflegerin bei diesem »dunklen Ehrenmann« werden? Eine solche Nichtachtung allerhöchster Ungnade wäre ja geradezu Rebellion gewesen!

Hatte doch Prinzessin Sylvie gestern öffentlich mit unglaublicher Ironie geäußert: »Wie geht es denn dem Herrn Exminister? Man sagte mir, er habe einen ›Schwindel‹-Anfall gehabt!« Da wußte man, was es im Palais geschlagen hatte.

Josephine erklärte der Hofmarschallin mit der größten Entschiedenheit, daß sie fest entschlossen sei, sich der Pflege des Ministers anzunehmen, und 184 bestürmte sie um die Gefälligkeit, sofort mit ihr bei dem Kranken vorzufahren.

Ein trauriger, etwas verlegener Ausdruck trat auf das Antlitz der Gräfin Lattdorf. Sie machte es Josephine begreiflich, daß sie auf die Stellung ihres Mannes Rücksicht zu nehmen hätte und der allgemeinen Meinung einfach nicht Opposition bieten dürfte. Sie hege die freundschaftlichsten Gesinnungen für Lehrbachs, dieselben aber in solch eclatanter Weise zu äußern, verbiete ihr die Ergebenheit und Devotion, welche sie in ihrer Position als Palastdame und als Gattin des Hofmarschalls dem Herzog schuldig sei. Es sei doch absolut nicht erwiesen, daß Graf Lehrbach an der Defraudation unschuldig sei, wenngleich sie der festen Ueberzeugung wäre. Im Gegenteil, alle Beweise sprächen gegen ihn, dokumentirten es sogar, und es würde der Welt gegenüber schon unmöglich sein, die Partei dieses Mannes zu nehmen.

Josephine hörte die Gräfin ruhig an und gab ihr seufzend Recht, sie kannte ja die große Welt genügend, um die Tragweite eines solch auffälligen Schrittes bemessen zu können.

»Könnte es auch für Sie und Ihren Herrn Gemahl Unannehmlichkeiten haben, wenn ich im Hause des Grafen aus- und eingehe?« fragte sie gesenkten Hauptes.

Die Hofmarschallin sah sie betroffen an.

»Ohne Chaperonne, liebstes Herz? Unmöglich!«

»Und wenn ich mir für eine Begleiterin sorge?«

185 »Wenn dieselbe einer solchen Stellung entspricht, ohne Frage! Du bist Dein eigener Herr und weder durch Stellung noch sonstige Verbindlichkeiten verpflichtet, Rücksicht auf den Hof und die Gesellschaft zu nehmen. Allerdings sage ich Dir im Voraus, daß man viel und gewiß nicht vorteilhaft darüber reden wird, die bösen Zungen wagen sich ohne Scheu auch an die Werke der Barmherzigkeit. Wenn Du den Mut hast, der ganzen öffentlichen Meinung die Spitze zu bieten, so wage es in Gottes Namen; ratsam ist es jedoch auf keinen Fall.«

Da hob Josephine das blonde Köpfchen; eine strahlende, opfermutige Freudigkeit lag auf dem lieblichen Gesichte.

»Ich kenne nur einen Richter über mein Thun und Lassen!« sagte sie stolz, »und das ist mein Gewissen! Ich werde die Rücksicht, welche ich Ihrem Hause schulde, keinen Augenblick außer Acht lassen, liebe Gräfin, und bemüht sein, meiner Handlungsweise ein Relief zu geben, welches den bösen Zungen doch eine gewisse Schranke auferlegen soll; ich werde zur Herzogin Marie Christiane fahren und um ihre Hilfe bitten!«

Mit wenig hoffnungsvollem Lächeln schüttelte die Hofmarschallin den Kopf: »Dieser Weg wird vergeblich sein, fürchte ich. Der alte Lehrbach war allzu ausgesprochenes Mitglied von der Gegenpartei des Pavillons, und Graf Günther hat sich sogar mehr als einmal erdreistet, die hohe Frau 186 und Personen ihrer Umgebung in sarkastischer Weise zu karikiren. Fräulein von Sacken hat ja nur einer solchen Zeichnung ihren Spitznamen ›die fromme Helene‹ zu verdanken! Marie Christiane ist von all dem wohl unterrichtet, und Du wirst wohl selber einsehn, liebes Kind, daß in Folge dessen wenig Sympathieen für die Lehrbachs im Pavillon herrschen.«

Josephine war noch bleicher geworden, aber die Zuversicht leuchtete dennoch aus ihren Augen.

»Ich kenne die Herzogin, ich habe schon höhere Tugenden als das ›Vergeben‹ an ihr bewundern dürfen; ich versuche es wenigstens und wage einen Bittgang zu ihr!«

»Meine aufrichtigsten Wünsche begleiten Dich, wenngleich ich selten so hoffnungslos war wie in dieser Angelegenheit!«

Josephine küßte die Hand der Gräfin, dann eilte sie in ihr Zimmer, um Hut und Mantel anzulegen und ihren Vorsatz sofort auszuführen.

Ein Gemisch von Schnee und Regen schlug ihr in das Antlitz, der Wind pfiff durch die Parkanlagen und zauste ihre Kleider, wie ein Frösteln ging es durch die ganze Natur, grau in grau schwamm der Himmel, und die Fläche des kleinen Sees, welcher zur Seite hinter den Bosquets glänzte, wogte zitternd auf und nieder, wie eine ruhelos atmende Brust.

Still und einsam wie immer lag der Pavillon.

Josephine war ein gern gesehener Gast; Fräulein von Sacken meldete sie bei der Herzogin und 187 erhielt die Weisung, das junge Mädchen direkt in das Schlafzimmer der hohen Frau zu führen; heftig auftretender Husten und rheumatische Schmerzen nötigten Marie Christiane, auf etliche Tage das Bett zu hüten. Dennoch wollte Hochdieselbe Josephine sehn, um so mehr, da Fräulein von Sacken mitgeteilt hatte, daß die Kleine mit einer dringenden Bitte zu Ihrer Hoheit käme.

Die Unterredung war viel kürzer, als es Josephine gedacht hatte. Sie brauchte gar nicht zu bitten! Die einfache Erzählung der Thatsache genügte, um das wärmste Mitgefühl und die aufrichtigste Teilnahme bei der Herzogin sowohl wie bei Fräulein von Sacken zu erwecken. Beide Damen hatten bereits von der Ministerkrise und der herrschenden Aufregung gehört, ohne jedoch die Details in Erfahrung gebracht zu haben.

Es verkehrten so wenige Menschen aus der großen Welt in diesem stillen Hause. Marie Christiane nahm es für ganz selbstverständlich, daß man sich der Pflege des alten Herrn auf das sorgfältigste annehmen müsse. Sie wies ebenfalls die Glaubwürdigkeit einer Veruntreuung seinerseits mit Entrüstung zurück und hoffte mit Bestimmtheit, daß sich eine baldige Lösung dieses peinlichen Rätsels finden würde.

Sie fand Fräulein von Sacken auch sofort bereit, mit Josephine in dem Lehrbachschen Hause vorzusprechen, um sich über die ganze Lage der Dinge zu orientiren.

188 Man beschloß, es umgehend zu thun, und befahl die Equipage.

Auf alle Fälle sollte die Hofdame zwei bewährte Krankenpflegerinnen für die Nacht engagiren, denn voraussichtlich konnten sich die Damen selbst doch nur etliche Stunden während des Tages der Pflege widmen.

»Ich werde bei den grauen Schwestern vorfahren, Hoheit?« informirte sich Fräulein von Sacken.

Die Herzogin sann einen Augenblick nach.

»Die Lehrbachs sind nicht katholisch,« sagte sie dann mit ihrer leisen, sanften Stimme, »man möchte vielleicht diese Wahl ungeschickt oder gar anmaßend von mir nennen, die Welt ist ja so schnell bereit, auch dem besten Bemühen eine boshafte Deutung zu geben. Unter den protestantischen Diakonissinnen haben wir ja ebenfalls ausgezeichnete Pflegerinnen. Die Oberin wird mir zu Liebe schon Schwester Magda damit beauftragen, und dann ist der Minister vortrefflich aufgehoben.«

Josephinens Herz bebte vor Dankbarkeit und Glück. Sie kniete neben dem Himmelbett nieder, unter dessen kreuzgekröntem Baldachin die hohe Frau inmitten der schneeigen Spitzen, Stickereien und Linnen lag, mit dem glattgestrichenen Scheitel und den dunklen milden Augensternen, aus welchen ein ganzes Evangelium von Liebe und Vergebung strahlte.

Sie neigte das Köpfchen über die bleiche Hand der Herzogin und küßte sie, und als sich die schlanken 189 Finger herzlich auf ihr Haupt legten, da war's, als flute Frieden, Licht und Zuversicht durch ihre Seele.

Im Hause des Ministers schien man völlig den Kopf verloren zu haben. Der Geheime Medizinalrat und Leibarzt des Herzogs hatte sich mit einer sehr eiligen Fahrt auf das Land entschuldigt und seinen jungen Assistenzarzt zu dem Grafen Lehrbach geschickt, welcher bleich und regungslos, einem Todten gleich, auf seinem Lager ruhte. Noch ebenso angekleidet, wie er vor zwei Stunden in das Palais gefahren war, das breite Ordensband um den Hals, den Stern des Hausordens auf der Brust.

Die Bestürzung der Dienerschaft war zu groß gewesen, man wagte nicht eine eigenmächtige Anordnung zu treffen und war nach etlichen ungeschickten Versuchen, die leblos steifen Glieder Seiner Excellenz zu entkleiden, aus Sorge, den Zustand des Kranken noch zu verschlimmern, davon abgestanden. Erst nach zwei Stunden hatte man Graf Günther in der Stadt gefunden. Er hatte mit seinen Kameraden gefrühstückt. Bleich wie der Tod wurde sein Antlitz bei dem wehklagenden Bericht des Dieners, er erhob sich, die Hand, welche sich auf den Tisch stützte, zitterte dergestalt, daß die vor ihm stehenden Weingläser leise erklangen, dann wandte er sich mit stummem Wink zu Hattenheim und verließ, auf dessen Arm gestützt, mit schweren Schritten das Restaurant.

Den ganzen Tag und die ganze Nacht über 190 wachten die beiden Offiziere in Gemeinschaft mit dem Arzt an dem Krankenbett des Ministers.

Der alte Kammerdiener hörte nur einmal aus dem Zimmer des jungen Grafen ein fast wahnwitziges, gellendes Gelächter schallen, welches wie in dumpfem Stöhnen erstickte, dazwischen klang Hattenheims ernste, beruhigende Stimme.

Dann war Alles still, und als er später die Lampe in das Zimmer brachte, da saß Graf Günther vor dem Tisch und drückte das Antlitz auf die beiden verschränkten Arme, welche auf der Ebenholzplatte ruhten; er schlief wohl – Herr von Hattenheim jedoch saß ihm gegenüber und schrieb sehr eifrig auf großen, halbgeknickten Bogen.

Am anderen Tage trug der Sohn des Ministers Civil, und die Dienstboten starrten betroffen in sein farbloses Antlitz, mit welchem über Nacht eine so jähe Veränderung vor sich gegangen war.

Der Sonnenschein war verschwunden, schwere unheilvolle Schatten lagen darüber ausgebreitet, eine starre Entschlossenheit, und zum ersten Mal, seit man ihn kannte, machte Graf Günther den Eindruck eines ernsten, gereiften Mannes.

Die Vorhänge vor den Fenstern des Krankenzimmers waren fest zugezogen, ein matter Lichtschein fiel durch ihr Damastgewebe und ließ die Gegenstände des Gemaches in Dämmerung verschwimmen, nur der broncirte Knauf des Betthimmels schwebte als mattglänzende Krone über den seidenen Kissen, auf welchen das greise Haupt des Kranken ruhte.

191 Tiefe Stille herrschte ringsum, nur ein leiser Schritt klang in kurzen Zwischenpausen auf dem schwellenden Teppich, und ein rosiges Mädchenantlitz neigte sich mit besorgtem Blick über den Schläfer, um die Eiskompressen auf dem Haupt zu erneuern. Der Kranke atmete nur tiefer auf und regte leise zuckend den linken Arm, dann lag er abermals in der Lethargie, welche ihn seit Ausbruch des Leidens noch nicht verlassen hatte.

Der Arzt erkannte die rechte Seite für gelähmt und zuckte bedenklich die Achseln; er hatte mit freudiger Dankbarkeit die Hofdame Marie Christianens und Fräulein von Wetter an dem Krankenlager begrüßt, da ihm die weibliche Hilfeleistung und Pflege ungemein gefehlt hatte.

Josephine nahm sofort den Platz am Bett des Ministers ein, derweil Fräulein von Sacken, dem Wunsch der Herzogin gemäß, nach dem protestantischen Diakonissenhaus in der Vorstadt fuhr.

Die Unruhe und Bestürzung hatten ihre deutlichen Spuren in dem Krankenzimmer zurückgelassen. Alles lag bunt durcheinander und machte einen unwohnlichen und sehr wüsten Eindruck.

Josephine schritt lautlos auf und nieder und versuchte Ordnung zu schaffen, hob den feuchten Eiseimer von dem Seidendamast eines Sessels und die Tasse mit der warmen, dunkelbraunen Bouillon von dem so zart und duftig gemalten Tischchen, welches aus dem nächsten Salon herzugeholt war; es lag so tausenderlei umher, wofür sie absolut 192 keinen passenden Platz fand. So elegante Schlafzimmer sind doch nicht auf kranke Bewohner eingerichtet, dachte sie.

Indem klangen Schritte im Nebensalon, sehr hastig wurde die Portière getheilt, und Graf Günther stand auf der Schwelle.

Ein unbeschreiblicher Ausdruck lag auf seinen Zügen, er blickte das junge Mädchen an wie ein holdes Wunder, welches man nicht begreifen kann, seine bebende Hand streckte sich ihr entgegen.

»Also ist es Wahrheit – Sie sind hier!« – es rang sich mühsam von seinen Lippen, er wollte mehr sprechen, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt, sein Herzschlag drohte ihn zu ersticken.

Fräulein von Wetter hatte mit ängstlichem Blick nach dem Kranken den Finger auf den Mund gelegt und bedeutete dem jungen Mann zu schweigen, dann trat sie ihm lautlos entgegen und legte ihre Hand in seine dargebotene Rechte.

»Ja, ich bin hier, Graf Lehrbach, und werde Ihren lieben Vater nicht verlassen, bis er gesund ist!« flüsterte sie kaum hörbar, mit vollem Blick in sein Auge. »Sie müssen mir schon dies Recht einräumen, denn getreue Nachbarn halten zusammen, und nichts liegt Lehrbach näher denn Groß-Stauffen.«

Sie sah seine furchtbare Aufregung, sie fühlte den krampfhaften Druck seiner kalten Finger.

»Gehen Sie! Ich bitte darum!« sagte sie leise. Da neigte er sich und küßte mit zuckenden Lippen ihre Hand. »O Josephine!« murmelte er, »Gott 193 lohne Ihnen diesen Augenblick. Er hat mir den Glauben an die Welt zurückgegeben!«

Als er sich aufrichtete und das junge Mädchen seinem Blick begegnete, da sah sie es feucht an seinen dunklen Wimpern glänzen, der erste Thau, welcher in das verseichtete, sonnedurchglühte Herz des Glückskindes fiel, dann wandte er sich hastig ab und trat über die Schwelle zurück.

Josephine aber hob die gefalteten Hände zu dem Bilde des gekreuzigten Heilandes, welches vor ihr an der Wand zwischen zwei breiten Bronceleisten eingelassen war, und brachte voll gläubigen Vertrauens ihr wehes Herz dem Herrgott dar, welcher selber das Elend vor Sein gnädiges Angesicht ruft: »Kommet her zu Mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid!«


Langsam schlichen die Stunden.

Der Arzt kam und beobachtete den Zustand des Kranken. Er äußerte sich nicht darüber, aber es lag ein sorgenvoller Ausdruck in seinen Zügen.

»Wir müssen soviel wie möglich dem Fieber vorbeugen,« sagte er im Fortgehen zu Fräulein von Sacken, welche soeben die Nachricht gebracht hatte, daß gegen Abend eine Diakonissin zur Pflege eintreffen würde, vorläufig fordert die Natur noch so gewaltig ihre Rechte, daß die höchlichst überreizten Nerven wie in einem Todesschlafe liegen. Doch denke ich, daß das Bewußtsein noch im Lauf dieser Nacht wiederkehren wird.«

194 Dann gab er noch etliche Verordnungen und versprach, in einigen Stunden abermals nach dem Kranken zu sehen.

Fräulein von Sacken löste währenddessen Josephinen ab. Graf Günther begrüßte die Hofdame mit tief gesenktem Haupt, glühende Röte brannte auf seiner Stirn und die wenigen Worte, welche er sprach, klangen gepreßt und heiser.

Fräulein von Sacken war voll aufrichtiger Herzlichkeit und Teilnahme, sie war vollkommen einverstanden mit der Bitte des jungen Offiziers, die Nachtwache mit der barmherzigen Schwester teilen zu dürfen. Dann zog sich Graf Lehrbach wieder zurück.

Hattenheim kam in der Dämmerung.

Er reichte Josephinen beide Hände entgegen, es lag ein tiefer Schmerz auf seinem Antlitz. Er bat sie leise, ihm in das Nebenzimmer zu folgen, da er ihr Verschiedenes mitzuteilen habe.

Josephine trat in den Salon der verstorbenen Gräfin und setzte sich auf einen kleinen Sessel neben dem Fenster nieder, sie stützte das Köpfchen in die Hand und blickte traurig zu dem blonden Manne empor. Hattenheim sagte ihr, daß Günther seinen Abschied eingereicht habe, und daß auch er dem Beispiel des Freundes zu folgen gedenke. Die Wandlung der Verhältnisse sei ihm derart unerträglich, daß er fest entschlossen sei, vollkommen mit allem Hiesigen zu brechen.

»Das war viel Sturm auf einmal,« fuhr er 195 mit tiefem Aufseufzen fort, »zu viel fast! Wer hätte ein solches Unglück ahnen können! Ich habe entsetzliche Stunden durchlebt, Fräulein Josephine, ich sah es mit an, wie die Wucht dieses Unwetters das schwanke Rohr zu Boden peitschte. Mein Herz stand still in dem Augenblick der Entscheidung, ich habe mehr gelitten als Günther selbst; aber Gott sei gelobt, die Krisis ist überstanden. Der Sturm hat das Mark des Rohres geprüft, hat es mit mildem Atem geschüttelt und es bis in seine tiefsten Wurzeln erzittern lassen, aber geknickt hat er es nicht! Im Gegenteil, es ist sich jetzt der eigenen Kraft und Stärke bewußt geworden und stolzer und höher denn je emporgeschnellt!

»In den ersten Stunden nach der furchtbaren Katastrophe fürchtete ich für Günthers Verstand, er schien gebrochen an Leib und Seele, seine Verzweiflung war herzzerreißend, dann hatte sein Schmerz ausgetobt, eine starre, trotzigkühne Entschlossenheit bemächtigte sich seiner.

›Wie gut war es, Reimar‹, sagte er, ›daß jenes graue Gespenst, welches Schicksal heißt, schon vorher bei mir angeklopft hatte, das war der Ritterschlag, welchen mir das Herzeleid gab, damit ich jetzt als Mann und Held die Waffe in heißem Kampfe führen kann.‹

»Wir haben die Zukunft bereits durchsprochen, Pläne gemacht.

»Günther wartet eine Entscheidung in der Krankheit seines Vaters ab und will dann sofort 196 von hier abreisen, um sich in Düsseldorf oder München als Maler auszubilden. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als diesen Beruf zu erwählen, wenn er seine Zukunft sicher stellen will, denn das Glückskind, der flotte, übermütige Graf Lehrbach, welcher gewohnt war, das Gold mit vollen Händen auszustreuen, ist über Nacht zum Bettler geworden.«

Josephine schrak empor. »Wie ist das zu verstehen?« fragte sie atemlos.

Hattenheim strich gedankenvoll mit der Hand über die Stirn und dämpfte seine Stimme zum leisen Flüsterton.

»Sie wissen, daß man den Minister beschuldigt, eine bedeutende Summe veruntreut zu haben«, sagte er schwer atmend, »und werden es begreiflich finden, daß Günther Alles aufbieten wird, die Ehre des Vaters so viel wie möglich zu rechtfertigen. Leider Gottes sind wir ja so völlig im Unklaren, ob es Thatsache ist, daß der alte Graf in unbegreiflicher Schwäche mit fremden Geldern spekulirt hat, daß er aus irgend welchem Grund jene Quittung unterschrieb und nicht buchte, kurzum, der entsetzliche Zweifel, ob er schuldig ist oder nicht, ist die furchtbarste Qual für Günther, welche ihn trotz seines Glaubens an die Rechtschaffenheit des Vaters fast zu Boden drückt.

»Durch den jetzigen Zustand Seiner Excellenz ist auch jegliches Forschen nach Klarheit abgeschnitten.

»Günther erklärte sofort, daß er nur im Sinne 197 seines Vaters handeln würde, wenn er mit seinem eigenen Vermögen die fehlende Summe deckte, und hat diesbezüglich bereits seine Erklärung an das Ministerium abgegeben.

»Da nun das baare Vermögen nicht ausreicht, sieht sich mein Freund genötigt, sein Stammgut Lehrbach zu verkaufen.«

Ein leiser, zitternder Aufschrei rang sich von den Lippen Josephinens. »Lehrbach verkaufen? Mein Gott, das darf nicht sein! Der Gedanke ist entsetzlich!«

Hattenheims Haupt sank noch tiefer auf die Brust. »Und dennoch wird uns nichts Anderes übrig bleiben. Leider Gottes bin ich persönlich allzusehr durch das Majorat gebunden und kann die erforderliche Summe durch mein Baarvermögen nicht stellen, sonst würde ich selbstverständlich das alte Stammschloß der Lehrbachs vor den Händen fremder Leute retten. Nun werde ich in erster Linie nach einem Käufer suchen, welcher auf die Bedingung eingeht, das Gut der Familie zurückzugeben, wenn sich die Verhältnisse derart gestalten, daß es Günther wieder einlösen kann!«

Eine dunkle Glut brannte auf dem Antlitz des jungen Mädchens.

»Haben Sie diese Angelegenheit in die Hand genommen, Herr von Hattenheim?«

Reimar nickte. »Da Günther die Residenz so schnell wie möglich verlassen möchte, habe ich mich erboten, seine Privatangelegenheiten zu regeln. Es 198 wird auf alle Fälle besser sein, denn Günther ist unglaublich unpraktisch und versteht von geschäftlichen Dingen so gut wie nichts. Ich möchte ihm so unendlich gern wenigstens so viel Vermögen erhalten, daß er seine Studien bestreiten kann, welche womöglich an den teueren Stunden und dem kostspieligen Leben einer großen Stadt scheitern!«

»Wird denn sein Vater keine Pension beziehen?«

»Nein! Günther hat dieselbe im Namen Seiner Excellenz abgelehnt; wir sind übereingekommen, daß der alte Herr im Notfall auf mein väterliches Gut übersiedeln wird!«

Josephine atmete schnell.

»Ist Lehrbach sehr teuer, kostet es mehr als eine Million?« fragte sie plötzlich.

Hattenheim mußte unwillkürlich lächeln.

»O nein!« schüttelte er das blonde Haupt, »so hoch wollen wir nicht hinaus. In runder Zahl kann ich Ihnen den Wert des Gutes aus dem Kopfe nicht nennen, doch stehen ja leider Gottes momentan die Ländereien so außerordentlich niedrig im Preise, daß wir mit Mühe die notwendige Summe dafür erhalten werden.«

Einen Augenblick sahen ihn die dunklen Augen des Gänseliesels fest und leuchtend an. »Ich werde Lehrbach kaufen, Herr von Hattenheim!« sagte sie kurz.

»Sie?« Reimar lachte trotz seines Kummers. »Wollen Sie Groß-Stauffen unter den Hammer 199 bringen, um ein Stückchen Lehrbach zu erwerben? Wie gut und treu Sie es meinen, Fräulein Josephine! Dieser gute Wille wiegt in Günthers Augen gewiß mehr, als all die Goldsäcke, welche ihm ein Käufer für sein Besitztum bieten wird!«

»Sie halten mich für ein armes Mädchen?« Auch über das Gesichtchen der jungen Dame huschte ein schelmisches Lächeln.

Reimar wurde sehr verlegen. »Ich halte Sie wenigstens nicht für reich genug, um ein Gut, wie Lehrbach, ankaufen zu können!« sagte er wie entschuldigend.

Josephine zog einen Brief aus der Tasche.

»Lesen Sie!«

Hattenheim blickte sie erst betroffen und unschlüssig an, dann entfaltete er gehorsam das Schreiben der Tante Renate, neigte sich näher zu dem Fenster und überflog seinen Inhalt. Am Ende ließ er Hand und Brief langsam sinken und schaute starr vor Erstaunen auf die junge Dame nieder.

»Nun?« neckte Josephine mit fast strahlender Heiterkeit. »Hat das Gänseliesel nicht Geld wie Heu? Und ist es nicht eine rechte Chance für Groß-Stauffen, daß seine Besitzerin einen armen Lieutenant heiraten kann?«

»Das ist allerdings eine Ueberraschung, welche ich mir nicht hatte träumen lassen!« Reimar sah viel eher bestürzt als erfreut aus, »und es würde ja ein außerordentliches Glück für Günther sein, wenn Ihr Herr Onkel sich zu dem Ankauf des 200 Gutes entschließen würde; pardon, haben noch andere Leute außer Ihnen Kenntniß von dem Inhalt dieses Briefes?«

»Außer Lattdorfs Niemand, vor wenigen Tagen ist dieses Schreiben überhaupt erst angekommen; warum fragen Sie?«

Der junge Offizier atmete erleichtert auf. »Es würde jetzt eine höchst einfache Lösung der ganzen verwickelten Angelegenheit geben, wenn – nun, wenn Sie Günther heirateten! Ihre kühne Liebe würde darin kein Opfer erblicken, denn sie scheute sich ja auch nicht, angesichts der ganzen Welt an die Seite des verleumdeten und verlassenen Mannes zu treten, dessen guten Namen man steinigt. Für Günther könnte das jedoch nur ein Glück sein, welches ihn mit der Wucht seiner unverdienten Gnade zu Boden drücken würde, und für Sie wäre es überhaupt kein Glück, denn noch haben Sie keinerlei Garantie für die Wandlung in Günthers Charakter. Erst wenige Schritte hat er auf der dornenvollen Bahn des Schicksals gethan, und vorläufig hat der Sturm wohl das tiefe Meer seiner Seele aufgewühlt und die Schlacken und den Schlamm herausgewaschen, aber Perlen hat er uns noch nicht gezeigt, und geglättet und geläutert hat die Flut sich auch noch nicht. Wollte das Glück seinem Liebling sofort wieder zu Hilfe kommen, so würde es mit einem einzigen Sonnenstrahl die reiche Ernte versengen, welche wir mit Sorge und Thränen gesäet haben, Fräulein Josephine. Ich 201 flehe Sie darum zu Ihrem eigenen und zu Günthers Heil an, lassen Sie erst den Segen dieser kummervollen Zeit auf ihn wirken, lassen Sie ihn erst erkennen, was es heißt, durch eigene Kraft auf festen Füßen stehen, lassen Sie ihn nur kurze Zeit in die Schule des Lebens gehen, damit er lernt, sich selber sein Brod zu verdienen! Glauben Sie mir, dadurch thuen Sie ihm einen größeren Liebesdienst, als wenn Sie ihm jetzt alles Gold und alles Glück der Welt in den Schoß schütteten.«

»So soll Lehrbach in fremde Hände kommen?« fragte Josephine leise mit tief gesenktem Haupt.

»Wenn Ihr Herr Onkel seine Einwilligung zu dem Ankauf gibt, würde er dadurch meinen größten Wunsch erfüllen!« schüttelte Reimar eifrig den Kopf, »nur darum bitte ich Sie, daß meinem Freund der Name des Käufers verborgen bleibt, daß er nicht ahnt, in wessen Hände sein Stammgut übergeht. Da er mir unumschränkte Vollmacht in dieser Angelegenheit gegeben hat, wird es mir hoffentlich gelingen, die Komödie durchzuführen, um so mehr, da Günther in seiner qualvollen Aufregung bat, ihn so wenig wie möglich von all diesen Vorkommnissen wissen zu lassen. Er braucht zu seinem Studium vor allen Dingen seine innere Ruhe und seinen Gleichmut, und diese würden durch ein stets neues Mahnen an die hiesige Misère wohl am grausamsten gestört werden.«

Josephine reichte ihm herzlich die Hand entgegen. »Ich füge mich vollkommen Ihren 202 Anordnungen, Herr von Hattenheim, und weiß, daß Graf Günthers Angelegenheiten in den besten Händen ruhen! Sie haben bisher als guter Schutzgeist über meinem Leben gewacht und es mir bereits mit dem besten Erfolge bewiesen, wie gut ich daran that, mein Wohl und Weh Ihrer Fürsorge anzuvertrauen! Ich werde sofort an Onkel und Tante schreiben und ihnen Mittheilung über die Lage der Dinge machen. Dann werden sie hoffentlich sofort hierher abreisen und mit Ihnen das Nähere besprechen.« 203


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