Nataly von Eschstruth
Gänseliesel
Nataly von Eschstruth

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Fünfzehntes Kapitel.

»Welch Leben in den Kleinen!«
Herwegh.            

Villa Carolina hatte wieder einen weißflockigen Schleier übergeworfen, und glitzernde Eiszapfen an die Dachfirst gehängt. Rosiges Licht schimmerte durch die bereiften Fensterscheiben des kleinen Boudoirs, welches Gräfin Ange und Josephine als trauliches Plaudereckchen mit Vorliebe in den Nachmittags- und freien Abendstunden aufsuchten.

Ange hatte hier ihr Piano stehn, welches durch den brillanten neuen Flügel aus dem Musiksalon verdrängt worden war, und sie konnte Fräulein von Wetter keine größere Freude bereiten, als hier in der behaglichen Stille die Tasten zu rühren, in eigenen Phantasien, welche so wundersam Lust und Weh verflossener Stunden zu malen verstanden, ein zauberisches Gewebe von Hoffen und Harren, von Lächeln und Thränen, Leidenschaft und banger Klage, ein hohes Lied der Liebe und des Hasses, durch welches die einzelnen Melodien schmeichelten.

56 Auch heute saß Josephine vor dem knisternden Kamin im Schaukelstuhl und lauschte mit zurückgeneigtem Haupt und halb geschlossenen Augen dem Spiel der Freundin. Eine zartblaue Seidenrobe floß in glänzenden Falten um ihre Figur und lag in spitzenduftiger Schleppe lang auf dem Parquet, Schneeglockensträuße zitterten an Brust und Haar, und mattglänzender Silberschmuck schlang sich um Nacken und Arme.

Die jungen Damen waren soeben von einem Diner zurückgekehrt, welches der Kommandeur des Husarenregiments gegeben hatte und zu welchem auch der Hof vollzählig erschienen war. Prinzessin Sylvie und Detlef waren lebenslustig, amüsirten sich gern und zeichneten die meisten Privatfeste der Hofgesellschaft durch ihre Anwesenheit aus.

Die Hofmarschallin hatte sich etwas ermüdet gefühlt und sich zurückgezogen, Ange und Josephine aber hingen einen rosa Schleier über die Lampe, machten es sich vorerst noch in den Sesseln des kleinen Boudoirs bequem und tauschten ihre Erlebnisse aus.

Josephine war vom Freiherrn Clodwig geführt worden, welcher sich fast während der ganzen Dauer des Diners den Kopf zerbrach, ob die Brillanten der russischen Botschafterin echt, ob die Bachforellen noch angesichts des Kochtopfes gelebt hätten – aus Vorsicht verzichte er lieber – und ob sich wohl Prinzeß Sylvie jemals zu einer Mésalliance entschließen würde; er sei hochgradig gespannt! Und dabei hatte 57 er keinen Blick von Ihrer Hoheit verwandt, welche sich lebhafter und vertraulicher als je mit Graf Lehrbach unterhielt; man hatte den jungen Offizier selbstverständlich an ihre Seite placirt.

Josephine wußte auf keine der Fragen eine rechte Antwort zu geben, sie wechselte mit Ange, welche, von dem Ordonnanzoffizier Herrn von Reuenstein geführt, dicht neben ihr saß, einige Blicke, welche viel Resignation ausdrückten.

Zum Glück saß Baron d'Ouchy beiden Damen gegenüber, als Kavalier der jüngsten Tochter des Generalintendanten der Herzoglichen Schauspiele, einer sehr stillen und schüchternen Blondine, welche mehr Gewicht auf die diversen Süßigkeiten des Menus, als auf pikante Würze der Unterhaltung legte. So konnte der junge Diplomat ungenirt an den Gesprächen seines vis-à-vis teilnehmen.

Er sprach hauptsächlich mit Komtesse Lattdorf, blickte aber desto mehr zu Josephine hin, er schien völlig von der Unterhaltung mit Ange absorbirt und verlor dennoch kein Wort, welches zwischen Clodwig und Fräulein von Wetter gewechselt wurde.

Nur einmal, als Prinz Detlef fernher von der Tafel sein Champagnerglas ostensibel gegen Josephine hob, schloß er sich dem Wohl an und wandte sich direkt mit ein paar höflichen Worten an die junge Dame, gleichzeitig zog er eine römische Sternkamille aus der vor ihm stehenden Vase und steckte sich die »gelbe Gretchenblume« mit bedeutsamem Lächeln und vielsagendem Blick in das 58 Knopfloch. »En souvenir!« flüsterte er dabei mit seiner gedämpften Stimme.

Josephine wußte in dem ersten Augenblick gar nicht, was er damit sagen wollte, dann fiel ihr die Zupfblume und ihr Orakel »er liebt mich!« ein. Sie senkte verwirrt den Blick und errötete in dem Gedanken an Graf Günther.

Ange hatte sich sehr darüber amüsirt, daß Herr von Reuenstein in fast nervösem Eifer dem Beispiel Detlefs gefolgt war und sein Glas bis zur Nagelprobe auf das Wohl des Gänseliesels leerte, dann aber dasselbe wie eine besondere Ovation gegen den Prinzen neigte, damit sich Hochderselbe überzeugen konnte, daß er es ehrlich gemeint hatte.

Sonst ließ die Komtesse nicht viel verlauten, ob sie sich amüsirt habe oder nicht, sie war wenig redselig an diesem Abend und setzte sich unaufgefordert an das Klavier, um zu spielen. Wieder waren es heißblütige Zampamelodien und die ungarischen Tänze d'Ouchys, welche wie sprühende Flammengarben unter den weißen Händen dahinrauschten.

Josephine lauschte regungslos, ihr Blick hing an den sanften Zügen der »kalten Schönheit«, welche, während des Spieles so auffallend verändert, vor Erregung zu beben schienen; sie sah nur das Profil, aber die Lippen desselben zuckten, und die Spitzen über der Brust wogten unter den schnellen Atemzügen.

An dem Portal drunten hatte es geschellt, da 59 man aber keinen Wagen rollen hörte, beachtete es Josephine nicht.

Dennoch klangen Schritte im Korridor, und der Diener erschien in der Thür, reichte Fräulein von Wetter eine Karte und fragte, ob er den jungen Herrn hier herauf führen solle?

Josephine hatte kaum einen erstaunten Blick auf den schön geschriebenen Namen des Kartenblattes geworfen, als sie hell aufjubelte.

»Der Friedel! . . Pastors Friedel! . . . . Schnell führen Sie ihn herauf, Heinrich!« Und dann erhob sie sich hastig und faßte Anges Hand.

»Du mußt hier bleiben, liebstes Herz, und ihn sehen! Bedenke doch! der Dichterling, der noch nachträglich Graf Günthers Skizzenbuch schmücken kann, wenn er die sämmtlichen Pastorschen als Staffage des ›Gänseliesel‹ haben will, Pastors Friedel wird in Fleisch und Blut vor Dir stehen! O Gott, wie wird mir der Anblick jetzt selber so komisch sein, und doch dürfen wir nicht lachen, Ange, er ist ein so guter, braver Mensch!«

Die Komtesse nickte lächelnd und trat von dem Klavier etwas tiefer in den Schatten des laubigen Blumentisches zurück.

Schon teilten sich die Portièren, zuerst erschien die blonde Mähne Friedels, dann, etwas linkisch über die Schwelle stolpernd, seine hohe, magere Gestalt im schwarzen Sonntagsrock.

»Friedel! . . Grüß Gott und herzlich willkommen!« jubelte ihm eine wohlbekannte Stimme entgegen, zwei 60 schlanke Hände boten sich ihm dar und faßten die seinen. Blaue Seidenwogen, Spitzen, Blumen und Silberglanz schwirrten vor seinen Blicken, dann starrte er wie ein Kind mit großen, angstvollen Augen in das lächelnde Gesichtchen, welches aus dem blendenden Chaos auftauchte, und murmelte: »Bist Du es denn auch wirklich, Phine?« Und als sie es ihm fast übermütig heiter versicherte und ihn näher zum Licht zog und lachte: »Gewiß bin ich es! Die alte treue Phine aus Groß-Stauffen, die nur in eine neue und schönere Haut geschlüpft ist, wie sie die Residenz hier feil bietet!« Da schien er sich allmählich zu überzeugen, schüttelte aber sehr erstaunt den Kopf und sagte: »Du hast Dich aber so gewaltig verändert, daß ich Dich wirklich kaum erkannt hätte! Na, da werden die Kleinen die Augen aufreißen, wenn sie Dich so städtisch zugerichtet sehen!« Dann reckte er in plötzlicher Erinnerung an seine Würde und sein späteres lorbeerbekränztes Standbild auf dem Marktplatz die hagere Figur zu voller Höhe empor, schob die Hand à la Humboldt über der Brust in den Rock und verfiel in das gewohnte Pathos.

»So sage, Josephine, wie Dir's hier ergeht, und künde mir in traulichem Gespräch all' das Erlebte aus der Zeit der Trennung!« Bei der rhythmisch nickenden Bewegung seines Kopfes bekam die blonde Mähne jedesmal das Uebergewicht und sträubte wie eine Borste vornüber; aus der Ecke des Blumentisches klang es ganz leise wie mühsam unterdrücktes 61 Lachen. Friedel bemerkte es nicht und holte tief Atem, um weiter zu dociren, als Josephine mit schnellem Schritt zu Ange trat und sie in das Bereich das Lampenlichtes zog.

»Vor allen Dingen möchte ich Dich erst meiner Freundin, der Gräfin Lattdorf, vorstellen, lieber Friedel,« sagte sie, und fügte mit einer Geste nach dem Dichterling hinzu: »Dies ist der Friedel Fichtner, liebe Ange!«

Der zukünftige Classiker hatte das Haupt zurückgeworfen und die Wimpern interessant über die Augen sinken lassen. »Herr Friedrich Fichtner!« verbesserte er nachdrücklich und beschrieb dann in tiefer Verneigung einen rechten Winkel. Erst bei seinem Emportauchen würdigte er sein vis-à-vis eines Blickes, und dieser Blick hatte eine wunderbare Wirkung! wie versteinert stand der Studiosus und starrte die junge Gräfin an. Die schlanke Gestalt vor ihm in dem maisgelben, weich glänzenden Atlasgewand, mit den leuchtend roten Blüten an der Brust und den sanft lächelnden Rehaugen, welche ihm die aristokratische Hand entgegenstreckte und ihn freundlich willkommen hieß, schien ihn völlig durch ihren Anblick zu bezaubern.

Das arrogante Selbstbewußtsein des Dichterlings wurde in den Grundfesten erschüttert, dunkle Glut stieg in sein bleiches Antlitz, und die Hand, welche den schwarzen Konfirmationshut hielt, zitterte wie Espenlaub.

Dabei aber schien es ihm, als wehe ihm von 62 der idealen Frauengestalt ein süßer Frühlingshauch entgegen, als ginge ein Sonnenstrahl aus ihren Augen, der warm und maienhell seine tiefste Seele plötzlich durchdrungen. Schüchtern ließ er sich, so knapp wie möglich, auf der Ecke eines Polsterstuhles nieder, drehte den Hut zwischen den Fingern und stotterte auf Josephinens stürmische Fragen lauter konfuse Antworten.

Er erzählte die wenigen Ereignisse von Haus und Hof, brachte Briefe und Grüße von Tante und Onkel, und zwischendurch kehrten seine Blicke immer wieder zu Gräfin Ange zurück, verklärt und andachtsvoll, wie man ein Heiligenbild ansieht.

Allmählich aber gewann er seine Fassung wieder und mit derselben die pathetische Würde, welche seinem Wesen eine so unfreiwillige Komik verlieh.

Gräfin Ange hustete oftmals in ihr Taschentuch. Als Josephine nach der Familie Fichtner und ihrem Ergehen fragte, huschte ein überlegenes Lächeln um Friedels Lippen.

»Eine Ueberraschung harret Deiner, Josephine, die Meinen sind sämmtlich hier und werden bei des nächsten Morgens Lichte bei Dir vorsprechen. Heute Abend war's zu spät geworden, Kälte und Wind schreckte die Mutter, welche die wegemüden Kleinen frühzeitig betten wollte!«

Josephine schlug in grenzenlosem Staunen die Hände zusammen und ließ sich den Grund dieser unglaublichen Neuigkeit erzählen. Der bestand nun ganz einfach in der Einladung des älteren Bruders 63 der Pastorin, welcher vor ganz kurzer Zeit und sehr überraschend als Stiftspfarrer in die Residenz berufen war und morgen seinen Geburtstag feiern sollte. Auf die Versicherung der Tante Renate, daß es mit der Bahn nur noch ein Katzensprung bis zur Stadt sei, hatten sich Fichtners trotz der schlechten Jahreszeit entschlossen, in corpore den Studiosus Friedel auf drei Tage nach der Residenz zu begleiten. Der Jubel der Kinder sei unbeschreiblich, und es würde Mühe kosten, sie in Rand und Band zu halten. Glücklicherweise sei die Freifrau so gütig gewesen, das Allerkleinste in Stauffen zu behalten, sonst wäre ja die Reise unmöglich gewesen.

Und morgen wollten sie kommen! . . . Sie schwatzten ununterbrochen von Josephine und der Ueberraschung und Freude, die sie haben würde!

Und Fräulein von Wetter freute sich auch wirklich auf diesen Besuch, wie ein Kind auf eine neue Weihnachtspuppe.

Endlich brach Friedel auf, als der Diener den jungen Damen meldete, daß der Thee servirt sei. Das Weggehen war freilich seine schwache Seite, er kam so viel leichter zur Thür herein als hinaus, er klebte wie Pech.

Josephine erhob sich erschrocken. »Mein Gott, wir sind noch nicht umgekleidet!« rief sie mit einem schnellen Blick nach der Uhr.

»Friedel hat uns so interessant unterhalten, daß wir Essen und Trinken vergessen haben!« Der Studiosus koncentrirte sich eiligst und unter angemessen 64 tiefen Verneigungen rückwärts, Ange reichte ihm abermals die Hand und sagte freundlich: »Ich denke, Sie werden nun Josephine öfters bei uns aufsuchen und auch einmal zu Mamas Empfangsstunde kommen, damit ich Sie den Eltern vorstellen kann. Auf Wiedersehen denn!«

Herr Friedrich Fichtner wurde blutrot, aber er bewahrte diesmal die Haltung, machte eine salbungsvolle Bewegung mit der Hand und entgegnete: »Ich werde sehen, was sich thun läßt!«

»Bring' dann Deine Gedichte mit!« rief Josephine.

»Wenn ich mich zum Vortrag inspirirt fühle, sonst vermag ich's nicht!« Abermals eine Reverenz, welche in einem Stolper über die Thürschwelle gipfelte, und der Dichterling war hinter den Portièren verschwunden.

»Ein sehr spaßhaftes Original!« lachte Auge gutmütig, »ich bin wirklich begierig, etwas von seinen sogenannten Dichtungen kennen zu lernen!«


Am nächsten Morgen, kaum, daß die Herrschaften sich vom Frühstückstisch erhoben hatten und die Hofmarschallin sich zurückgezogen, um Toilette zu machen, wurde die Klingel der Villa Carolina in stürmische Bewegung gesetzt.

Heinrich, der elegant Galonnirte, tänzelte auf weichem Teppich zur Hausthür und öffnete. Aber er prallte fast erschrocken zurück, als sich eine Wolke fröhlich jauchzender Kindlein, ähnlich wie 65 weiland der Heuschreckenschwarm in Egypterland, in heftigem Ansturm gegen ihn ergoß. Eine junge Dame mit sehr roten Wangen und ungewohnter Toilettenfaçon versuchte die naseweisesten Kleinen an den Zöpfen oder Aermchen, was sich am passendsten dazu darbot, zurückzuhalten.

»Wi wöllen tom Phining!« schrie die »Landplage« dem verblüfften Heinrich wie Trompetengeschmetter entgegen, und Gretchen setzte verlegen hinzu: »Ist Fräulein von Wetter zu sprechen?«

Heinrich kannte sonst seine Pappenheimer ziemlich genau, aber diesmal musterte er den seltsamen Besuch doch recht konsternirt.

»Wen habe ich die Ehre zu melden?« fragte er reservirt und starrte erstaunt auf die Pastorschen hernieder, welche sich zwischendurch und neben seinen sperrenden Beinen in das Vestibül ergossen.

»Hee weeß nich', wer wi sin'?« johlte es voll Hohngelächter um ihn her, »wat'n öll' Döskopp!« und die Kleinen begannen eine gründliche Besichtigung des eleganten Hausflurs.

Heinrich fing an, sich zu ärgern. Sein verwöhnter und gediegener Geschmack als gräflicher Silberdiener rümpfte die Nase über das ungemein gewöhnliche Aussehen dieses zahlreichen Besuches, über die Röckchen, Höschen und Mäntelchen, deren Schnitt den praktischen Sinn der selbstschneidernden »Fru Pastern« absolut nicht verleugnen konnte, über die abstehenden, festgeknüllten Zöpfchen, an deren gekrümmter Spitze ein elegantes 66 Cigarrenbändchen kolossalen Effekt machte, über die blaugefrorenen Händchen, welche selbst im Traum noch keinen Handschuh gesehen hatten; aber das wenig imponirende Resumé seiner Betrachtungen wurde erschüttert durch das unglaublich sichere Auftreten der kleinen Herrschaften, welche sich so ungenirt und herausfordernd benahmen, wie es Heinrich bis jetzt nur bei der arrogantesten und blasirtesten Aristokratie angetroffen hatte. Er wagte demnach nicht, seine Miene »zweiter Klasse« aufzusetzen; nur das konnte er sich nicht versagen, einen kleinen Flachskopf, welcher Kletterversuche an dem bronzirten Treppengeländer anstellte, herzhaft beim Wickel zu nehmen und zur Erde zurückzubefördern mit dem entschiedenen Verbot: »Geklettert wird hier nicht, Musjöchen!«

Das nahmen die Kleinen nun für einen süperben Witz und bestürmten den neuen Freund mit energischer Zärtlichkeit.

Renatchen hing sich wie ein Perpendikel an die langen Rockschöße des schier verzweifelnden Bedienten, Lieschen und Gottholdchen besichtigten etwas zudringlich die Sammethosen, rote Weste und Wappenknöpfe. »He is akerad so andrekt wie de lütt' Ap of't Kamel! Hest nich ok'n Federhut?« erinnerte sich ein Vierter in schmeichelhaftester Weise an den Jahrmarkt, und wieder ein Anderes puffte ihn ungeduldig in die Seite und fragte mit durchdringendem Organ: »Du segg' mal, bist wohl ok'n Graf?« Und es hielt ihm als Ursache dieser Frage 67 das rothseidene Taschentuch hin, welches Renatchen soeben in einer der Rocktaschen entdeckt hatte. Da riß aber Heinrichs Geduld, selbst die Devotion eines Bedienten krümmt sich, wenn man sie tritt. Er schüttelte die Quälgeister von sich ab, wie weiland Richard Löwenherz die Pfeile der Ungläubigen von seinem Schild, gleichzeitig aber schaute er betroffen zu der Treppe empor, woselbst mit schallendem Gelächter Gräfin Ange und Josephine, von dem Lärm herbeigelockt, erschienen waren.

»Phining! . . . . Hurrah Phining!« schmetterte es im Chor. Wie das wilde Heer purzelte es die Treppe hinauf und hing sich an Fräulein von Wetter; was da nicht Platz mehr fand, embrassirte in selbstverständlicher Innigkeit ohne jegliche Scheu und Prüderie die junge Komtesse.

Gretchen aber wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn und atmete bei dem Anblick der Freundin wie von Centnerlast befreit auf. –

Nun waren Pastors da! . . . Und das merkte man!

Da gab es ein Bewundern, Besichtigen, Erzählen und Jubeln, daß den Damen der Kopf wehe that. Heinrich aber stand in schlechtester Laune drunten im Vestibül und bürstete sich ab. »Gottvergessener Racker!« grollte er, »wie ein Affe säh' ich aus, sagt das kleine Donnerwetter?« und er tänzelte entrüstet vor den Spiegel.

Währenddessen hatten die Kleinen auch eine große Schachtel aus Gretchens Händen gewunden.

»Phine, kiek mal, een Kauken!« schrie Renatchen 68 brennend vor Neugierde, ob der große Napfkuchen der Tante Renate sofort angeschnitten würde. »Meenst, daß ok Räsinen innbacken sin'? Probir em better gliek!« und es fuhr einstweilen rekognoscirend mit dem angeleckten Finger über den Zucker. Wie nett von der Phine! Sie teilte den Kuchen wirklich sofort aus.

Ein Flachskopf schien bereits stark von Onkels Festkuchen gefrühstückt zu haben. »Nee, ick mag keen Kauken mehr, äwerst polks mi de Räsinen rut!« entschied er sich, und Gottholdchen dachte sogar an den »Herrn Lehrbach« und »den Dicken mit's rote Gesicht«, die doch auch etwas bekommen sollten.

Um ein Uhr mußten Pastors wieder daheim sein, Ange aber lud die ganze Gesellschaft zum Nachmittagskaffee ein, damit Hattenheim doch auch die Freude des Wiedersehens genießen könne.

Sie schrieb gleich ein Billet an den Vetter, denn sie hatte sich vorzüglich mit den ländlichen Gästen amüsirt.

Hattenheim kam auch sehr präcise, aber nicht allein. Graf Lehrbach, welcher zufällig beim Empfang der Einladung zugegen gewesen war, begleitete ihn, »allerdings mit dem Risiko, als ungebetener Gast unter den Tisch zu kommen!«

Villa Carolina war wie verwandelt, bis auf die Straße hinaus hörte man den Jubel der kleinen Gäste.

Günther war die Liebenswürdigkeit selbst, er 69 schien entzückt von dem Besuch der »Landplage« und bot Alles auf, seine Freundschaft für die Groß-Stauffener in ostensibelster Weise zu dokumentiren.

Da köstlich hoher Schnee lag, lud er alle Anwesenden ein, morgen Mittag eine Schlittenfahrt durch die Stadt zu machen, um den Kindern alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Abends wolle er eine Loge im Theater nehmen, um sich an dem Entzücken der Flachsköpfe zu erfreuen.

Er schien gar nicht daran zu denken, daß man in der Gesellschaft die Achseln über ihn zucken könne, daß es doch etwas riskirt sei, sich in dieser schlichten Begleitung so öffentlich zu präsentiren; er war es gewohnt, daß man seine Capricen stets comme il faut fand und ihnen applaudirte. Aber auch, wenn dem nicht so gewesen, wäre er diesmal seinem eigenen Willen gefolgt. Denn höchst seltsam! Für Graf Günther schien das Urteil der Menge plötzlich ganz einerlei geworden zu sein. Es war, als habe er nur nach einer Gelegenheit gesucht, ein Unrecht an Groß-Stauffen gut zu machen, und da er sie gefunden, zahlte er dem »Gänseliesel« den Tribut seiner Schuld in eclatantester Weise.

Josephine war frappirt über sein Benehmen. Sie dankte ihm für seine Güte im Namen ihrer Schützlinge, »er erwerbe sich ein hohes Verdienst um die Kleinen!« Da sah er sie mit seinem dunkelleuchtenden Blick seltsam an und schüttelte den Kopf. »Wenn ich Ihre Zufriedenheit erwerbe, ist es mir lieber!« sagte er.

70 Hattenheim hatte es gehört, obwohl er sehr eifrig mit der Kartenlotterie beschäftigt war, welche man soeben mit hohen und sehr süßen Einsätzen der kleinen Gesellschaft zu Ehren arrangirte. Er lächelte still vor sich hin, nahm ein großes Marzipanherz und legte es auf die Karte des Hauptgewinns.

Mit rührender Geduld wußte er die kleinen Schreihälse im Zaum zu halten, wenn sich die diversen Hände aller Spielregel zum Trotz sofort nach den Süßigkeiten ausstreckten und das »Ueberhelfen« für wichtiger und bedeutend amüsanter hielten, als das ihnen absolut neue Spiel mit dem vielen Stillsitzen.

Heinrich trat ein und brachte eine große Baisertorte, welche mit stürmischer Freude begrüßt wurde und dem Herrn Silberdiener in Folge dessen ein hochnäsiges Lächeln ablockte. Nun wußte er doch ganz genau, daß die flachsköpfigen Unholde absolut nicht von »Race« waren, sonst wären sie wohl an dergleichen Tractamente besser gewöhnt. Sein Blick streifte verächtlich den mobilen kleinen Attentäter, welcher ihn so perfide mit einem Affen verglichen hatte, das vergaß er ihm sein Lebtag nicht!

Ahnungslos jedoch ob der bösen Konduite, welche ihm der Galonnirte in Gedanken ausstellte, schlug das Herz des braven Gottholdchen dem Spender der köstlichen Torte mit warmer Zuneigung entgegen, und als sie nun alle vor ihren Tellern saßen und 71 Heinrich sich devot wieder rückwärts koncentrirte, da hielt er es für seine Pflicht, dem Worte des britischen Dichters Ehre zu machen, das da lautet: »Auf Höflichkeiten antwortet man mit Höflichkeit!«

Den silbernen Löffel in der Hand schwingend, mit erhobenem Organ und einem Ton herzgewinnendster Zärtlichkeit rief er dem Herrn Bedienten nach: »Aewerst Heinrich! worüm blievst nich' all dar? Komm hier! fost ok'n beten Kauken eten!« – Und das dralle Händchen deutete einladend nach dem freien Platz an Günthers Seite.

Gräfin Lattdorf, welche gerade zu einer kurzen Umschau eingetreten war, Lehrbach, Hattenheim und die beiden jungen Damen konnten nicht umhin, hell aufzulachen. Heinrich aber zog sich mit einem schwer indignirten Gesicht schleunigst zurück.

»Entweder hat das Balg mich wieder höhnen wollen, oder es hat gar keine Lebensart,« grollte er mit giftigem Blick und ließ, mit leise pfeifendem Zischlaut durch die Zähne, seine Hand scharf die Luft durchschneiden. »O hätt' ich Dich, wie wollt' ich Dich!« dachte er dabei.


Am folgenden Nachmittag war Graf Günther wirklich mit zwei prächtigen Schlitten vorgefahren und hatte seine Protégés als zappelnden, laut jubelnden und sehr dankbaren Ballast »an Bord« genommen. Im ersten Schlitten fuhr er, Josephine und vier eng zusammengequetschte Flachsköpfe, in dem nachfolgenden Ange, Gretchen, Hattenheim, der 72 Dichterling und noch ein Kleines, mit welchem die Lücke zwischen Friedel und seiner Schwester ausgestopft war.

Günther amüsirte sich göttlich. Je auffälliger sich die »Landplage« in ihrer urwüchsigen Fröhlichkeit benahm, je mehr die erstaunten Leute sie anstarrten und die Hälse reckten, desto mehr animirte er durch irgend einen charmanten Witz oder durch plötzlich hingestreute Bonbons die Stimmung seiner so leicht entzückten Gäste.

Vor dem linken Schloßflügel fuhr er sehr ostensibel zweimal vorüber und grüßte lachend zu Prinzessin Sylvie empor, welche er um diese Zeit öfters schon am Fenster angetroffen hatte.

Hoheit schlug die Hände zusammen, und Fräulein von Dienheims blasses Gesicht fuhr wie ein Stoßvogel über die Schulter ihrer Herrin, um ja nichts zu versäumen.

Der Ordonnanzoffizier, Herr von Reuenstein, promenirte gerade durch die Hauptstraße und sah und hörte den Schlitten kommen, er wandte sich interessirt zu einem Schaufenster und begnügte sich an dem Spiegelbilde. Vorsicht ist immer besser, er wollte erst sehen, wie die neue Caprice des jungen »Löwen des Tages« Allerhöchsten Orts begutachtet wird. Wie leicht konnte er durch ein freundliches Lächeln, einen einverstandenen Gruß sich einen Klex machen, wenn man im Palais vielleicht die Nase darüber rümpfte!

»Nur Echo sein!« Das war die Devise, unter 73 welcher er sein Knopfloch für den Hausorden am doppelfarbigen Bande präparirte.

Zum Diner war Günther wieder an den Hof befohlen. Man bestürmte ihn um Aufschluß über seine so originelle Schlittenfahrt; Prinzessin Sylvie lachte Thränen bei der Nachricht, daß »die Landplage« die Residenz heimgesucht habe, und rief lebhaft: »Weiß das Donnerwetter, Fortunatus, was Sie uns diesen Winter für amüsante Momente bescheren. Der reine esprit-de-vin in das Zuckerwasser unserer Langeweile! Weiß Gott, wie ich Sie mit der Aeppelfuhre ankommen sah, dachte ich sofort an Pastors, die Bälge haben ja ein unglaublich komisches Extérieur!«

Selbst Herzogin-Mutter beschloß, diesen Abend in das Theater zu fahren, um sich die Modelle der gräflichen Skizzen in natura zu betrachten, und Sylvie fügte hinzu: »Da kann man sich also auch noch einmal im ›Joseph in Egypten‹ amüsiren! Eigentlich eine unglaublich unpassende Kindervorstellung, aber ein Glück für unseren Komiker, der sich der Konkurrenz der Flachsköpfe gegenüber doch entschieden nicht behaupten könnte!«


Nie war die Aufmerksamkeit im Opernhaus eine so getheilte gewesen, wie an diesem Abend. Aller Augen richteten sich auf die Loge des Grafen Lehrbach, welcher in strahlender Heiterkeit, umringt von seinen quitschfidelen kleinen Gästen bereits fünf Minuten vor Beginn der Vorstellung erschienen war. 74 Gretchen hatte sich verlegen zu Lattdorfs und Josephine zurückgezogen, welche ihre Plätze vorsichtshalber nebenan gewählt hatten. Die Kleinen waren unverdrossen vergnügt und von einer wahrhaft herzerfrischenden Lebendigkeit, dazu sauber gewaschen und glatt gekämmt – so lange es dauerte! Dennoch schien die nie geschaute Pracht eines Opernhauses, Menschen und Lichter und schließlich die Musik einen etwas lähmenden Eindruck auf die jungen Seelchen zu machen. Günther war beinahe enttäuscht über den feierlichen Ernst, mit welchem seine Trabanten anfänglich dasaßen und die Hände falteten, erst als er seine Pralinétüte in dem Hintergrund des Sessels ahnen ließ, kam etwas von der alten Elektricität in die diversen Aermchen und Beine!

Renatchen, das frechste von Allen, gewöhnte sich am schnellsten in die neue Situation und kam sich weder déplacirt noch unberechtigt auf seinem Sammetstuhl vor.

Zu Günthers Gaudium capricirte es sich darauf, die Residenzler zu kritisiren, deutete mit vieler Nonchalance mit dem fetten, kleinen Zeigefinger direkt auf die mißliebige oder angenehme Persönlichkeit hin und machte laute Bemerkungen dazu, auch fühlte es sich öfters in Versuchung geführt, den Leuten im Parquet unten zuzunicken, ihnen zutrauliche Avancen zu machen, oder ihnen voll souveräner Arroganz die schönsten Groß-Stauffener Fratzen zu schneiden, selbstverständlich zu allgemeiner Heiterkeit.

75 Auch Prinzessin Sylvie mußte die Erfahrung machen, daß Renatchen selbst einer erlauchten Persönlichkeit nichts schuldig blieb.

Als Hoheit nämlich unausgesetzt das große Opernglas auf die Lehrbachsche Loge richtete und Renatchen durch Günthers Gruß und lachende Gesten darauf aufmerksam wurde, legte die unglaubliche kleine Person schnell die Händchen hohl um die Augen, machte eine glotzende Grimasse und belorgnettirte Ihre Hoheit auf diese Weise ebenfalls.

Diesmal gab es aber von Graf Lehrbach einen streng verweisenden Klapps auf die Händchen, wenngleich Prinzeß Sylvie vor Lachen fast ersticken wollte.

Während der Ouvertüre verhielt man sich ruhig, nur einmal schrak der Kapellmeister entsetzt über ein grelles, dann aber schnell gedämpftes Geschrei zurück, das war in dem Augenblick, wo Lieschen von der etwas älteren Schwester in tyrannischer Weise die Nase geschnaubt bekam. Sonst aber verlief der ganze Abend über Erwarten gut, bis auf den einen Moment, wo die Orientalen auf der Bühne in den unvermeidlichen weißen Gewändern erschienen und Renatchen zu dem triumphirend herausfordernden Rufe: »Hemdenmatz! . . Hemdenmatz!« Anlaß gaben. Das ganze Haus schütterte vor Lachen und sah mehr zu der Loge als zu der Bühne hin. Prinzessin Sylvie sandte in der großen Zwischenpause eine Zuckertüte an die »famose kleine Range zur Linken des Grafen«, worauf hin Renatchen 76 lebhafte Kußhände zu der herzoglichen Loge hinübersandte und sehr vernehmlich »Dank' ok!« dazu schrie.

Man hatte sich noch niemals so gut bei »Joseph in Egypten« amüsirt, wie an diesem Abend, wenngleich etliche von Renatchen übel behandelte Personen entrüstet die Achseln zuckten und fanden, daß Graf Lehrbach vor Uebermut gar nicht mehr wisse, was er Alles anfangen solle. Je nun, der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und die Sonne herzoglicher Huld scheint nicht ewig. »Fürstengunst und Vogelsang, klingt recht schön, doch währt nicht lang« sagt ein altes Sprüchwort, voyons donc, wie lange Graf Lehrbach noch sein impertinent despotisches Scepter schwingen wird! 77


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