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Ein unverheirateter Mann von etwa siebzig Jahren bewohnte mit einer alten Haushälterin allein ein ererbtes Haus in einer kleinen deutschen Stadt. Man trat durch die Haustür mit der lange nachklingenden Schelle auf die große und kühle Diele, aus welcher die gegenüberliegende Tür in den stillen grünen Hof führte. An den Wänden standen alte dunkelbraune geschnitzte Schränke. Eine gewundene flache Treppe mit eisengeschmiedetem Geländer, das schwarzes Rankenwerk mit goldenen Blumen darstellte, führte nach oben. In den Zimmern des alten Mannes reihten sich hohe Gerüste mit Büchern, hingen alte Bilder von Vorfahren, von Ansichten vertrauter Gegenden; geschweifte Stühle standen vor Tischen, welche auf gewundenen Säulen ruhten, auf denen Kupferwerke, Mappen, Bücher lagen. Mehrere Menschenalter hindurch hatten die Vorfahren des alten Mannes in diesem Hause gelebt; jedes Alter hatte Bücher und Bilder, Möbel und anderes zugekauft und neben den älteren Sachen aufbewahrt; nun erinnerte die Einrichtung an Leute, die längst verwest waren in der Kirchhoferde, von denen niemand mehr etwas wußte, wie der einsame alte Enkel, an Vater und Mutter, Großeltern und Urgroßeltern und Ahnen.
Der alte Mann hatte einen Freund gefunden, einen Jüngling, welcher mit vollen Wangen und blitzenden Augen in die Welt sah. Er wollte erzählen, und nun lauschte ihm jemand.
So saßen die beiden in einer Dämmerstunde um den großen runden Tisch. Sie hatten ein altes Buch besehen, das in gefalteten Kupfern einen großen Aufzug im siebzehnten Jahrhundert darstellte mit Wagen, die wie bauchige Drachen mit geringelten Schwänzen geschnitzt waren oder wie fremdartige Vögel; eine bestaubte Flasche Wein mit halbgefüllten Gläsern stand vor ihnen.
Wie nun die Dunkelheit sich allmählich immer mehr sammelte, wie die Stille bemerkbarer wurde und dem einen die Züge des andern undeutlicher erschienen, da lehnte sich der alte Mann in den Lehnstuhl zurück und begann zu erzählen.
»Ich war als junger Mensch in die Großstadt gekommen, wo ich an der Universität Vorlesungen hören sollte. Meine Familie hatte keinerlei Beziehungen zu dem neuen Ort meines Aufenthaltes – merkwürdig! Ich spreche sofort in abgezogenem Ausdruck – und so ging ich denn durch die breiten Straßen zwischen den hohen Häusern, verloren in der fremden hastenden Menge, und las die Ankündigungen von Zimmern an den Hauseingängen, stieg Treppen hoch und sprach mit Vermieterinnen, sah mir Stuben an, und ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit zwischen gemeinen Menschen kam über mich mit lastender Schwere.
Endlich fand ich eine Wohnung, die ganz anders war wie die übrigen. Eine stille vornehme Dame in Trauer von etwa vierzig Jahren öffnete mir, erwiderte gemessen meinen Gruß, der unwillkürlich achtungsvoll geworden war, und führte mich in das Zimmer, das sie vermieten wollte. Es war mit alten Möbeln aus dem Anfang des Jahrhunderts ausgestattet, die immer gut gehalten gewesen waren; die Fenster gingen auf einen sehr großen Hof, in welchem sich zwei Linden breiteten; Spatzen lärmten in ihnen und die Sonne blitzte in Tropfen, welche auf den hellgrünen Blättern lagen. Ich erklärte, daß ich das Zimmer mieten wolle. Die Dame zögerte eine Weile, sah mich an, und sagte endlich: ›Wir leben sehr zurückgezogen, es ist das erstemal, daß wir das Zimmer vermieten, es ist immer sehr still bei uns gewesen.‹ Ich fühlte, was sie sagen wollte, denn manche Reden der übrigen Zimmervermieterinnen hatten mir gezeigt, welche Sitten herrschen mochten; aber ich war so verlegen wie die Dame und konnte nicht recht antworten; ich sagte nur, wahrscheinlich sehr schüchtern: ›Sie werden mit mir zufrieden sein.‹ Eine Art von Freude flog über ihr Gesicht, sie reichte mir ihre Hand. Ich besuchte meine Vorlesungen, ging zum Essen, holte mir Bücher von der Bibliothek, las auf meinem Zimmer. Nach Möglichkeit vermied ich Geräusche und Störungen meiner Mitbewohner. Es stellte sich heraus, daß die Dame noch eine erwachsene Tochter bei sich hatte; ein Dienstmädchen war nicht in der Wirtschaft; jeden Morgen kam eine Aufwärterin, welche auch mein Zimmer besorgte. Von dem Leben der Damen erfuhr ich nichts; ja, sogar jenes wenige wurde mir erst nach einigen Wochen klar.
Es fand ein großer festlicher Umzug statt, der durch unsere Straße kam. Ich saß in meinem Zimmer und war unentschlossen, ob ich mich von meinem Buch losreißen und auf die Straße hinuntergehen sollte; da klopfte es, und die Tochter trat in die Tür. Sie lud mich ein, in das Wohnzimmer der Familie zu kommen, um den Zug aus dem Fenster zu betrachten.
Wie soll ich das Mädchen beschreiben? Sie war ein schlankes, biegsames Kind von vielleicht siebzehn Jahren, mit lichtem, leicht rosa angehauchtem Gesicht, das schnell blutrot werden konnte bei einer Verlegenheit, mit strahlenden, mutwilligen und zugleich scheuen Augen, und mit einem Mund, der ein so reizendes Lächeln hatte, ein so reizendes Lächeln, wie ich es nie sonst bei einem Menschen gesehen habe.
Ich trat in das Zimmer, begrüßte die Mutter; aber von dem ersten Augenblick an, da Lilla, so hieß das Mädchen, auf meiner Schwelle gestanden, war ein Band zwischen uns gewesen, das ich stark spürte, ein elektrischer Strom, welcher beständig gespannt war, fühlte ich mich innig vertraut mit ihr, wie wenn wir seit langem verbunden wären. Wenn ich zu ihr sprach, so umging ich die Anrede, denn mir war, daß ich sie mit du ansprechen müßte, und das durfte ich doch nicht.
Die beiden Frauen lagen in dem einen Fenster, ich lag im andern. Wir sprachen miteinander; Lilla richtete sich auf und machte mir über die Mutter weg Zeichen. Die Mutter erzählte, daß sie am Nachmittag mit Lilla ausgehen wolle, um einen versprochenen Besuch bei ihrer Freundin zu machen. Lilla deutete mit dem Finger auf sich und schüttelte den Kopf. Die Mutter fragte, ob ich zu Hause bleiben werde; Lilla schüttelte den Kopf, ich schüttelte gleichfalls, es war mir, als werde ich durch ihre Bewegung gezwungen, denn mir war gar nicht klar, was das alles bedeutete. Lilla drückte ihre Freude aus, dann sah sie mich fest an, als wollte sie mir einen Gedanken mitteilen. Ich sprach ohne Zögern aus, daß ich gegen zwei Uhr gehen wolle, um das Fest weiter zu betrachten. Sie lachte, dann zeigte sie auf sich und hob vier Finger hoch; ich wußte, daß ich vier Uhr in die Wohnstube kommen sollte. Aber das wußte ich wie im Traum.
Ich verließ das Haus Punkt zwei Uhr und kehrte kurz vor vier Uhr in meine Stube zurück. Als es vier vom nahen Turm schlug, klopfte ich leise an die Tür der Wohnstube. Niemand antwortete, aber ich hörte ein leichtes Rascheln. Vorsichtig öffnete ich die Tür; da saß Lilla in den Winkel des tiefen, alten Sofas gedrängt, die Füße hochgezogen, sah nach mir hin. Eine heftige und fast schmerzliche Sehnsucht ergriff mich; ich eilte auf sie zu, kniete auf den Teppich vor ihr, nahm ihre Hände, küßte sie, hielt sie vor mein Gesicht, und verbarg mein Gesicht in ihrem Kleid.
Sie lachte wie ein silbernes Glöckchen, und vielleicht lachte sie aus Befangenheit, denn eine süße Angst teilte sich mir mit; sie schloß die Augen, und ich barg wieder mein Gesicht in ihrem Kleid. Nachher küßte ich sie.
Wir haben ja nichts gesprochen. Was sollten wir denn sprechen? Wir wußten uns nichts zu sagen. Aber wir hielten unsere Hände verschlungen, Finger zwischen Finger.«
Dem alten Mann rollten runde Tränen aus den Augen. Er schwieg eine lange Weile, dann entschuldigte er sich; es war eine merkwürdige Entschuldigung, die er vorbrachte; denn er sagte: »So lange ist das nun her, daß man zu Tränen gerührt wird,« dann fuhr er fort.
»Wir haben also eine Stunde zusammengesessen, haben nichts gesprochen, und sind selig gewesen, als die Turmglocke fünf Uhr schlug, ich hörte deutlich die fünf Schläge, da sagte sie: ›Du mußt nun gehen; ich habe meiner Mutter gesagt, daß ich Kopfschmerzen habe, deshalb hat sie ihren Besuch allein gemacht; sie kommt gleich wieder zurück, und sie darf dich nicht im Hause sehen.‹ Ich zögerte, aber sie bat flehentlich, stand auf und zog mich an der Hand. Da küßte ich sie nochmals auf den Mund und ging; ich ging auf die Straße hinunter, irrte mit heißem Kopf ohne Ziel durch die Straßen und kam spät nach Hause zurück.
Als ich die Gangtür aufgeschlossen hatte, merkte ich eine sonderbare Unruhe im Zimmer meiner Wirtsleute. Ich wollte vorbei in meine Stube gehen, da öffnete sich die Tür, die Dame stand auf der Schwelle, verweint, hatte die Lampe in der Hand. Hinter ihr im Dunkel war jemand, man hörte auch ein Ächzen.
›Mein Kind stirbt‹ sagte sie.
Ich begriff die Worte nicht und fragte gedankenlos: ›Wie?‹ Dann aber wurde mir plötzlich alles klar, ich folgte der Voraufgehenden in das Zimmer. Der Arzt saß am Sofa, auf welchem das Mädchen gebettet war, eine andere Dame stand der Liegenden zu Häupten. Die Sterbende wendete mir ihr Gesichtchen zu und lächelte.«
Mit anderm Ton sagte der Alte »ihr liebes Gesichtchen zu und lächelte«.
Dann fuhr er nach einer Weile fort: »Die Mutter erzählte, daß das Kind herzkrank war. Sie hatte sie nie allein gelassen. Heute hatte sie eine Verabredung gehabt, das Kind hatte plötzlich Kopfschmerzen bekommen, sie war allein gegangen, das erstemal in ihrem Leben; als sie nach Hause kommt, es ist kurz nach fünf Uhr, da hockt das Kind im Sofawinkel, die Füße unter das Kleid gezogen, sieht sie mit großen Augen an und sagt: ›Ich bin sehr krank, Mutter.‹
Ich weiß ja nichts von dem Kind,« schloß der Greis; »es starb in meinen Armen, meine Tränen flossen ihm über das Gesichtchen. Ich weiß auch nichts von der Mutter, denn ich sagte ihr nichts und fragte sie nach nichts, und ich war so erschüttert, daß ich die Stadt verließ. Nie habe ich wieder etwas von ihr erfahren.
Ja, ich weine, ich alter Mann,« sagte er zuletzt. »Weshalb soll ich nicht weinen? Sie können nicht wissen, weshalb ich weine; ich wollte es Ihnen ja gern sagen, aber ich finde die Worte nicht, denn einen Grund, den ich mitteilen könnte, habe ich ja nicht.«