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Zwei Freunde sind im Gespräch beieinander. Der eine besitzt in einer Stadt, welche durch ihre chemische Industrie ausgezeichnet ist, eine kleine chemische Fabrik. Er ist ein tüchtiger Gelehrter und fleißiger Geschäftsmann, aber, wie das heute so ist, er vermag sich nur mit Mühe und unter sehr großen Sorgen und Anstrengungen zu erhalten, da in seiner Industrie der Großbetrieb alle kleinen Unternehmungen erdrückt, sehr zum Nachteil der Arbeit, wie er sagt, da gewisse Erzeugnisse, zu denen auch die seinigen gehören, in kleinen Einzelbetrieben besser hergestellt werden können wie in großen.
Die beiden sprachen von dem Krieg und seinen Folgen für die Menschen. Der Fabrikant erzählte folgendes:
»Ich hatte einen Arbeiter, der ein sehr tüchtiger Mann ist: klug, fleißig, anstellig und, wenigstens bei seiner Arbeit, zuverlässig. Er verdiente sehr viel, ich habe mir ausgerechnet, daß er jährlich an die viertausend Mark bei mir hatte, etwa zwei Drittel der Summe (fügte er lächelnd hinzu), die ich selber verdiene.
Der Mann zeigte den typischen Proletariercharakter. Wenn im Winter Eis geschnitten wurde, dann kam er einfach morgens nicht, er verdiente mehr, wenn er beim Eisschneiden half, es erschien ihm sogar überflüssig, mir auch nur eine Nachricht zu geben, daß er ausblieb. Wenn man mit den Leuten zu tun hat, dann verzichtet man ja bald darauf, daß sie ein Gefühl der Verpflichtung gegen ihren Arbeitsherrn haben, obwohl sie sich doch sagen müßten, daß mindestens bis zu einem gewissen Punkt sein Schaden auch der ihrige ist, sie haben das eben noch nicht gespürt. Schwerer versteht man die Gedankenlosigkeit, daß sie eine sichere und sehr gut bezahlte Arbeit aufs Spiel setzen wegen des Mehrverdienstes einer Zufallsarbeit von einigen Tagen. Unsere Industrie hat sich eben so schnell entwickelt, daß ein solcher Mann immer wieder Arbeit bekommen würde, wenn ich ihn auch wegen einer derartigen Handlungsweise entließe. Sie stehen ja«, er sieht den anderen lächelnd an, einen Gelehrten, der mit dem Leben wenig Berührung hat, »mit Ihren Gefühlen auf der Seite der Arbeiter, und ich will Ihnen keine sozialpolitischen Vorträge halten. Ich meine nur, daß die Sache nicht so einfach ist, wie Sie und andere meinen, die das Beste für unser Volk wollen, aber weder Menschen noch Verhältnisse kennen. Glauben Sie mir, es kann keiner den Kapitalismus mehr hassen wie ich; ich kenne ihn, ich fühle ihn auch; aber seine Fürchterlichkeit liegt ganz wo anders, als Sie denken: sie liegt darin, daß alle Verhältnisse und alle Menschen entseelt werden, die in seinen Wirbel hineingeraten. Ja, ich hasse den Proletarier; aber ich hasse ihn nicht mehr, wie ich den Bourgeois hasse, wie ich mich selber hassen würde, wenn ich nicht meine Seele vor diesem Getriebe gerettet hätte.
Aber lassen wir das. Ich erzählte Ihnen, daß der Mann sehr viel verdiente. Der Verdienst brachte ihm keinen Segen, wie er allen diesen unglücklichen Menschen keinen Segen bringt. Er hatte drei Kinder. Die beiden ältesten, ein Knabe und ein Mädchen, arbeiteten bereits in meiner Fabrik. Ich suchte ihm vergeblich klar zu machen, welches Unrecht er an den Kindern beging, daß er bei seinem Einkommen die Pflicht hatte, den Sohn weiterzubringen, das Mädchen sittlich und zu einer ordentlichen Hausfrau zu erziehen. Er gab mir immer die gewöhnliche Antwort der Leute, daß er ›die paar Groschen gebrauche‹. Die paar Groschen, nun, das waren für die beiden zusammen rund dreißig Mark die Woche, die also noch zu seinem Einkommen hinzukamen.
Ich habe mich vergeblich gefragt, wie die Leute das Geld verbrauchten. Es ließ sich hier ein Mensch nieder, der nachgemachten Brillantenschmuck verkaufte, und ich sah das Mädchen sogleich mit solchem Schmuck zur Arbeit kommen, meine Frau behauptete, daß sie mehrere teure Hüte im Jahr kaufte, daß ihre Kleidung, so schlumpig sie war, mehr kostete wie die ihrige; es schien, daß die Familie unverhältnismäßig viel für das Essen ausgab. Sie werden ja in den Kramläden des Arbeiterviertels hier auffällig viel teure Delikatessen finden. Unser Pastor, Sie kennen ihn, ein seelenguter Mann und ein Idealist wie Sie, meldete sich nach Kriegsausbruch, als eine größere Anzahl Landsturmmänner nach hier kamen, um unsere Werke zu bewachen, daß er zwei Leute in Einquartierung nehmen wolle, er bekommt sie, seine Frau ist glücklich, daß sie auch etwas für das Vaterland tun kann, richtet ihnen das Fremdenzimmer ein, setzt ihnen einen Blumenstrauß auf den Tisch, fragt sie nach ihren Lieblingsspeisen; sie wundert sich etwas, wie die beiden ihr einen Küchenzettel aufstellen, denn da stehen Gerichte, die der gute Pastor kaum einmal an einem hohen Feiertag auf seinen Tisch bekommt; aber sie denkt, die Leute machen einen Spaß und kocht, wie sie gewohnt ist; nach wenigen Tagen erklärt die Einquartierung, solchen Fraß seien sie nicht gewohnt, sie hätten ihren Unteroffizier um eine andere Unterkunft ersucht. Nun, so mag bei meinem Mann das Geld ausgegangen sein; jedenfalls war er immer im Vorschuß bei mir.
Im Laufe des Krieges wurde er eingezogen und kam bald hinaus an die Front. Nach etwa einem halben Jahr kehrte er zurück mit einem steifen Finger. Er arbeitet wieder in meiner Fabrik, er ist im Kriege ein ganz anderer Mensch geworden.
Die Leute sind ja durch ihr Zeitung lesen von dem selbständigen Formen ihrer Gedanken entwöhnt und können sich deshalb schwer ausdrücken, wenn sie etwas Erlebtes darstellen wollen. Aus dem Gemisch von verwirrten Reden und Schlagwörtern, das er vorbrachte, habe ich nun folgendes verstanden.
Neben ihm diente ein Mann aus den gebildeten Ständen; er nannte ihn immer den "Kameraden" und bezeichnete ihn als Professor, wobei es nicht klar wurde, ob er Universitätslehrer oder Gymnasialprofessor war, oder ob er ihn nur so nannte. Er erzählte von ihm, er habe mit ihm zusammen graben müssen, er habe einen Regenwurm vor dem Spaten gehabt und habe den zerteilen wollen, da habe der Kamerad seinen Arm aufgehalten und ihm gesagt, er dürfe das nicht tun. Er habe gelacht und geantwortet, das Tier habe kein Bewußtsein; da habe ihm der Kamerad gesagt: ›Vielleicht ist es so, aber man darf das seiner selbst wegen nicht tun‹; dabei habe er ihn so angesehen, daß er betroffen geworden sei.
Zuerst habe er sich über solche Dinge geärgert; wie er jetzt wisse, weil er beschämt gewesen sei, denn er habe eben eingesehen, daß der andere ein höherer Mensch war und daß er sich ihm ähnlich machen müsste, weil er das konnte. In seinem Ärger verspottete er den Kameraden und erzählte den übrigen solche Geschichten, wie die mit dem Regenwurm; aber es hatte niemand so recht das Herz, auf den Spott einzugehen; die anderen sagten, jeder habe seine Überzeugung, und Überzeugungen müsse man ehren; und ihm selber war auch nicht wohl bei seinem Spott. Der Kamerad habe sich um die Reden gar nicht gekümmert und sei immer gleich freundlich zu ihm gewesen.
Einmal, er habe sich so recht unglücklich gefühlt und nicht gewusst, weshalb, da habe ihm der Kamerad gesagt: »Du tust mir leid«, und da sei ihm gewesen, als müsse er ihm sein Herz ausschütten; aber er habe gar nichts sagen können und sei deshalb still gewesen.
Zuletzt ist er vorn mit dem Kameraden in der Nähe eines feindlichen Maschinengewehrs. Er konnte mir die Lage nicht genauer beschreiben; es muß wohl in einem wilden Kampf gewesen sein, wo die Leute nur sehen, was notwendig ist, und nachher keine richtige Erinnerung mehr haben. Der Kamerad sagt zu ihm: ›Wenn wir das Maschinengewehr nehmen, dann erhalten wir Hunderten das Leben.‹ Mein Mann erzählte mir, daß er gefühlt habe, nun müsse er vorgehen; er habe aber nichts gesagt, er sei liegen geblieben. Da sei der Kamerad aufgesprungen und habe sich an die feindliche Mannschaft gemacht und alle drei niedergeschlagen; er habe wohl gewußt, das hätte eigentlich er selber tun müssen, und er habe gefühlt, daß der Kamerad das auch dachte, denn an ihm war nicht so viel verloren, wie an dem Kameraden; aber da lag der Kamerad schon am Boden, im Sterben. Der Kamerad wußte, daß mein Mann sich Gewissensbisse machte, weil er wie ein Schuft gehandelt hatte und liegen geblieben war, da tröstete er ihn noch im Sterben und sagte: ›Einer für den andern, das nächste Mal läufst du vor,‹ und dabei lächelte er und winkte ihm mit den Augen zu. Dann verdrehte er die Augen und starb.
Und da sei nun der Umschwung bei ihm gekommen. Es sei gewesen wie ein Blitz, er habe gesehen, wie gemein er sein ganzes Leben gelebt habe, er hätte heulen müssen vor Scham über sich, und in seiner Verzweiflung sei er losgegangen, weil er habe sterben wollen aus Scham, er habe aber nur die Verwundung an der Hand bekommen.
Als er wieder hier war, suchte er seine häuslichen Verhältnisse zu ändern. Er meldete die beiden jungen Menschen bei mir ab und sagte, er wolle nicht mehr, daß seine Tochter ein Fabrikmädchen sei, und sein Sohn solle erst etwas lernen. Es scheinen Zwistigkeiten in der Familie gekommen zu sein, denn er trennte sich von seiner Frau und lebt jetzt allein, sehr ordentlich und einfach, die Familie wird von ihm erhalten. Der Sohn scheint an ihm zu hängen und tüchtig zu sein, er soll später ein Technikum besuchen. Die Tochter traf ich kürzlich auf der Straße in bedenklichem Aufzug.
Der Mann ist seelisch nicht wiederzuerkennen.
Ich hielt es für nötig, weil ich glaubte, daß er sich noch immer mit unnützen Gewissensbissen quälte, ihm gut zuzureden. Er hörte mich ruhig an, dann sagte er: ›Was ich getan habe, das habe ich getan, das schafft auch seine Reue aus der Welt; und da kann die ganze Welt mir Trost einsprechen, ich weiß, was ich weiß. Aber wenigstens will ich von jetzt an so leben, wie es gut ist, wenn ich mich irre, so irre ich mich, dann bin ich unschuldig; aber nach meinem Gewissen will ich jetzt leben. Ich weiß auch, daß die Gedanken um das Frühere dumm sind, und einem nur die Kraft nehmen, die man für Vernünftiges braucht, deshalb hänge ich ihnen nicht nach.‹
Was konnte ich ihm antworten? Er hatte ja recht.«
Der Erzähler schloß. Der Freund fragte: »Und hat der Mann nie von religiöser Tröstung gesprochen? Es wäre doch merkwürdig, wenn sich nicht ein Bedürfnis nach Religion in ihm eingestellt hätte, es ist doch nun auch das häusliche Unglück zu allem gekommen.«
Der Erzähler sagte lächelnd: »Sie kommen auf Ihre Gedanken, Sie meinen, daß die Menschen gewisse Ideen nötig haben, die Sie Fiktionen nennen und zu denen Sie den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit rechnen, und Sie glauben, daß der Mann, nachdem er in eine höhere seelische Sphäre eingedrungen ist, sich dieser Fiktionen bedienen muß. – Ich sprach mit ihm von den Tröstungen der Religion – nun so, wie unsereiner von ihnen spricht. Er fühlte heraus, was ich dachte bei meinen Worten, und ich muß zugeben, mich überkam eine gewisse Beschämung bei seiner Antwort. Er sagte nur: ›Sie haben ja doch auch nichts gefunden.‹ Was sollte ich auf eine solche Antwort erwidern?«
Der Freund sagte: »Ja, Sie konnten freilich nichts auf diese Antwort erwidern. Ich hätte es auch nicht können. Aber doch war die Antwort falsch. Sie sprachen von einer höheren seelischen Sphäre, in welche der Mann gelangt ist. Wenn wir beide aus unsrer jetzigen Sphäre in eine höhere kämen, dann könnten wir ihm vielleicht erwidern.«
»Wie meinen Sie das?« fragte beunruhigt der Erzähler.
»Hätte der Kamerad, der sterbend noch einen Trost für den doch tief unter ihm stehenden Menschen wußte, welcher in der Tat seine Pflicht nicht getan hatte – hätte der auch nicht auf jene Antwort erwidern können?« fragte der Freund.
»Ich weiß nicht,« erwiderte unwirsch der Erzähler.
»Sie sind in jener Gemütsverfassung, in welcher der Mann sich befand, als ihm die wunderliche Geschichte mit dem Regenwurm geschehen war. Sie müssen es nicht sein, denn ich stehe Ihnen gegenüber nicht höher,« sagte der Gelehrte, und dann schloß er: »Der Mann ist ja nach seiner äußeren Stellung noch das, was er früher war: aber seelisch ist er nicht mehr Proletarier. Sie sagten, Sie hassen den Bourgeois, wie Sie den Proletarier hassen. Wenn wir eine Antwort fänden, wie sie der Gefallene vielleicht gehabt hat, dann vergäßen vielleicht auch wir den Gegensatz der beiden Klassen?«
»Sie meinen, wir würden dann wieder Menschen?« fragte der Erzähler.