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Ein älterer Gelehrter lebte allein mit einer Haushälterin. Vor langen Jahren, als er geheiratet, hatte seine junge Frau diese Dienerin als ganz junges Mädchen angenommen, das noch nicht viel verstand; sie hatte sie selber in den Hausarbeiten unterrichtet, und hatte darauf geachtet, daß sie ordentlich und sparsam mit ihrem Geld umging, indem sie ihr einkaufte, was sie etwa an Wäsche, Kleiderstoffen und Schuhen brauchte und das andere Geld auf die Sparkasse trug, das nicht für notwendige Bedürfnisse gebraucht wurde. In der Ehe waren die Kinder gekommen, und die Dienstmagd hatte ihre Herrin gepflegt, geholfen die Kinder zu baden und zu Bett zu bringen; die Kinder waren größer geworden und sie war des Morgens als erste aufgestanden, hatte die Kinder geweckt, hatte Feuer angemacht und das Frühstück zurechtgestellt, daß Herrschaft und Kinder alles zubereitet fanden, wenn sie aus den Schlafzimmern herunterkamen. Dann waren die Kinder aus dem Haus gegangen, die beiden Söhne als Studenten und die Tochter als Gattin eines jüngeren Gelehrten, und die Eltern waren mit der Dienerin allein geblieben in dem Haus, das ihnen nun leer und still vorkam. Die Hausfrau war kränklich geworden, hatte ein Jahr lang im Bett gelegen, die Dienerin hatte die Wirtschaft geführt, gekocht und abgestäubt, für den Herrn gesorgt und der Frau das Essen ans Bett gebracht. Als die Frau im Sterben lag, hatte sie zu der Dienerin gesagt: »Verlaß den Herrn nicht,« und die Dienerin hatte es ihr versprochen; und nun lebte der ältere Mann schon seit Jahren mit ihr allein. Er wohnte in seinem Arbeitszimmer, das rings an den Wänden mit Bücherbrettern bestanden war mit wissenschaftlichen Werken in abgegriffenen, graumarmorierten Pappbanden mit rotem Rückenschild, wo Gardinen, Polster, Papiere den beizenden Geruch des Tabakrauches angenommen hatten; er ging im Schlafrock, die lange Pfeife in der Hand, in seinem Zimmer auf und ab und dachte nach, oder saß an seinem Schreibtisch zwischen Büchern und Kästen mit Anmerkungen an seiner Arbeit. Die Zimmer im Hause, welche nicht gebraucht wurden, hatten weiße Vorhänge vor den Fenstern, und die Möbel in ihnen waren mit Tüchern zugedeckt gegen den Staub.
Marie, so hieß die Wirtschafterin, hatte vor langen Jahren ihr einziges Liebeserlebnis gehabt. Es wurde gegenüber gebaut, und ein junger Maurer hatte sie angesprochen, als sie des Morgens die Semmeln beim Bäcker geholt hatte, indem er einen Witz über ihre prallen bloßen Arme machte. Sie hatte ihm nicht geantwortet, war errötet, und hatte ihren Gang beschleunigt, indessen die anderen Männer am Bau laut lachten über den Witz und hinter ihr herriefen. Der nächste Tag war ein Sonntag gewesen. Sie war mit ihren Verwandten am Nachmittag zu einem Ausflugsort gegangen, wo der Oheim ein Glas Bier trank, indessen die Frauen und Kinder zu einer Portion Kaffee mitgebrachten Kuchen aßen. Da war der Maurer an ihren Tisch getreten, hatte höflich gegrüßt und gebeten, ob er sich zu ihnen setzen dürfe. Marie war ganz heiß geworden und wünschte im stillen, daß der Oheim die Bitte abschlagen möge, aber der hatte gesagt, daß der Garten ja öffentlich sei, und daß der junge Mann ruhig an dem Tisch einen Platz einnehmen könne. So war denn ein Gespräch zustande gekommen, der Maurer hatte erzählt, was er verdiene, der Oheim hatte gefragt, ob er auch spare; der Maurer hatte gelacht und gesagt, man sei nur einmal jung, und das Sparen sei nur von den Obern erfunden, die den Armen ihr bißchen Vergnügen nicht gönnen wollten; der Oheim hatte den Kopf geschüttelt, aber der Maurer hatte von der neuen Zeit gesprochen, wo alles anders sei als früher, und so war denn das Gespräch auf die Politik gekommen. Als die Familie aufbrach, hatte sich der Maurer angeschlossen.
Der Oheim hatte Marien gewarnt und gesagt, der Maurer sei ja wohl ein fixer Kerl, aber er habe kein gutes Gemüt, und Marie hatte ihm auch versprochen, sich nicht mit ihm einzulassen. Aber nun stand er abends immer an der Tür, wenn sie Wasser holen ging, half ihr die Eimer vom Brunnenpfosten abnehmen, erzählte, scherzte und lachte, und wiewohl es Marien immer unheimlich war, wenn sie ihn sah, wußte sie doch nicht, wie sie sich ihn fernhalten sollte. Sie erzählte endlich alles ihrer Herrin und die sprach mit ihrem Gatten. Der zog sich am Abend die Stiefel an und setzte den Hut auf, ging auf die Straße hinunter, traf den Maurer und sagte ihm, er wünsche nicht, daß er auf Marien warte; aber der Maurer entgegnete ihm, daß die Straße frei sei, daß er seine Steuern bezahle, und daß niemand ihm verbieten könne, da zu gehen und zu stehen, wo er wolle. Als dann Marie kam, machte er ihr Vorwürfe und sagte ihr, die Herrschaft wolle nur nicht, daß sie mit einem gehe, weil sie eine gute Arbeiterin sei und niedrigen Lohn bekomme, und weil sie ein solches Mädchen nicht wieder bekommen würden, wenn sie heiratete.
So zog sich das Verhältnis der beiden durch Wochen hin, und Marie bat ihn zuletzt nur, daß er wenigstens an der Ecke auf sie warte, damit die Herrschaften nichts sähen. Endlich aber geschah das, was nun zu geschehen pflegt.
Marie erzählte es weinend ihrer Herrin. Sie sagte, sie habe den Maurer gar nicht lieb, und sie wolle ihn nicht heiraten, denn er sei ein schlechter Mensch; und das habe er wohl gewußt, deshalb habe er gedacht, er wolle es so machen, daß sie ihn heiraten müsse, denn sie habe doch neunhundert Mark auf der Sparkasse, Bettwäsche und Tischwäsche, und er habe sich nichts gespart. Die Herrin erschrak, und als sie das gute Mädchen so verzweifelt sah, weinte sie mit. Sie fragte bekümmert weiter, aber sie erfuhr nur, daß sie es geahnt habe, was kommen werde, und daß sie deshalb immer gesucht habe, nicht mit ihm allein zu sein, und nun habe er es doch so eingerichtet gehabt, daß niemand dagewesen sei, und da habe er sie so gebeten, und habe geweint und sei grob geworden, und da habe sie nicht nein sagen können.
Die Herrin versprach, daß sie für sie sorgen wolle und sie nicht verlassen. Marie wollte für die Zeit in eine andere Stadt gehen, denn an ihrem Heimatsort schämte sie sich zu sehr, und später wollte sie dann wieder zu ihrer Herrschaft zurückkommen. Der Maurer kam, verlangte den Herrn zu sprechen und trug dem alles vor, indem er wünschte, daß er Marien berede zum Heiraten; als der Herr ablehnte, wurde er dringender, und zuletzt war er so unverschämt, daß der Herr ihm das Haus verwies. Darauf drohte er, schimpfte laut und verlangte Marien selber zu sprechen, welche angstvoll hinter der Küchentür lauschte, denn sie solle gleich mit ihm aus diesem Hause gehen. Der Herr wurde von einer plötzlichen Wut ergriffen, und obwohl er viel schwacher war wie der Mensch, ergriff er den Verdutzten am Kragen und stieß ihn die Treppe hinunter. Er machte dann gleich eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs; es stellte sich heraus, daß der Mensch schon vorbestraft war, und so erhielt er denn einige Wochen Gefängnis zuerteilt. Im Gefängnis machte er Bekanntschaften, durch welche er auf die Möglichkeit eines vorteilhafteren Lebens kam. Es war damals in Berlin eine starke Bautätigkeit; als er das Gefängnis verlassen hatte, ging er nach Berlin, wurde im Dienst einer Gesellschaft von Gaunern vorgeschoben als Bauunternehmer; er machte dann den verabredeten Bankerott und kam wieder in das Gefängnis, fand darauf aber einen Weg, die Gauner, welche ihn verwendeten, selber zu betrügen, und führte nun ein weiteres Leben von der Art, wie man sie sich denken kann, das zwischen Zuchthaus und wüstem Prassen, zwischen Reichtum und Elend abwechselte.
Marie hatte damals einen Sohn gehabt, den sie dann zu braven Leuten auf dem Lande in Erziehung gegeben, indem sie ihn jeden Sonntag besuchte, wo sie denn das Erziehungsgeld mitbrachte. Als der Junge die Schule beendet hatte, wurde er Maurerlehrling, trotzdem die Mutter ihn flehentlich bat, einen andern Beruf zu wählen, weil sie von seinem Vater her für ihn fürchtete. Auch der Herr, welcher Vormund geworden war, stellte dem Jungen auf Mariens Bitten vor, daß er ja doch genug andere Beschäftigungen ergreifen könne als gerade diese, wo er zwischen rohen Menschen sein müsse; der Junge erwiderte frech, er sei ein Jungfernkind, und wenn sich seine Eltern bisher nicht um ihn gekümmert, so könnten sie ihn nun auch in Frieden lassen; er dachte damals nämlich, daß der Herr Mariens sein Vater sei, weil der sich so viel um ihn bemüht hatte. Der Herr hätte ja nun wohl als Vormund seinen Willen durchsetzen können, aber er bedachte, welche Schwierigkeiten dann der Junge machen würde, und so riet er denn auch Marien zu, daß sie ihn ließ.
Das war nun alles schon lange her. Jetzt war der Sohn Mariens ein junger Mensch von einigen zwanzig Jahren. Er arbeitete in der Stadt und hatte einen guten Verdienst, aber es ging alles bei seinen sinnlosen und prahlerischen Ausgaben auf. Zuweilen besuchte er seine Mutter, und dann verstand er es immer, ihr für irgendeinen Zweck, den er ihr als besonders wichtig schilderte, Geld abzunehmen. Er ging in der Tracht, welche die Burschen seines Standes damals gewohnt waren: in Hosen aus gestreiftem Baumwollsamt, welche nach unten ganz weit wurden und so geschweift geschnitten waren, daß beim Gehen das Unterteil der Hosenbeine nach außen schlamperte, die Jacke stammte von einem billigen und prächtig aussehenden Sonntagsanzug, der einige Male getragen sein mochte und dann für den Werkeltag benutzt wurde; in der Tasche steckte eine Uhr mit dicker vergoldeter Kette; der kleine steife Hut war hinten in den Nacken gesetzt, und unter ihm kam eine Stirnlocke vor, welche frech in das rohe Gesicht mit den unruhigen Augen schnitt.
Marie schämte sich vor ihrem Herrn ihres Sohnes, und da der Herr nie in die Küche kam und nur selten sein Arbeitszimmer verließ, so erreichte sie es, daß er ihn nicht sah bei seinen Besuchen, sie erzählte, daß er in einer andern Stadt arbeite und daß es ihm gut gehe. Ihr Sparkassenbuch hatte von früher her immer die Herrschaft in Gewahrsam gehabt; nun hatte sie es sich ausbitten müssen, da sie ja für die Bedürfnisse ihres Sohnes häufig Summen abheben mußte; der Herr hatte es ihr gegeben und hatte freundlich gesagt, sie sei ja nun auch alt genug, um ihr Geld selber zu verwalten.
Wir wollen nicht im einzelnen erzählen, auf welche Weise der Bursche immer das Geld von ihr verlangte; es genüge, daß endlich alles verbraucht war, was sie sich im Lauf der Jahre gespart hatte. Sie weinte wohl oft, aber dann dachte sie immer, daß sie Gott ja nicht im Stich lassen werde, da sie das Geld doch ihrem Kind gebe, und außerdem verließ sie sich darauf, daß die Herrschaft und deren Kinder ja später für sie sorgen würden, wenn sie einmal alt sei.
An einem Mittag kam der Sohn und erzählte, er brauche notwendig zwanzig Mark, und wenn er die nicht bekomme, so müsse er ins Gefängnis gehen. Marie mußte sich schnell auf den Küchenstuhl setzen, als sie das hörte, der Schreck war ihr so in die Beine gefahren, daß sie fast umgefallen wäre.
Der junge Mensch ging, die Hände in den Hosentaschen, unmutig und verängstigt in der Küche auf und ab. Er erzählte, daß ein Mann auf den Bau gekommen sei, der den Maurern oft etwas verkaufe, weil er immer billige Sachen habe, die – er machte eine Handbewegung, welche das Stehlen ausdrücken sollte – im Laden gekauft seien, wenn keiner drin war. Der habe ihm nun einen Brillantring angeboten – der junge Mensch holte einen vergoldeten Ring mit einem falschen Stein aus der Westentasche und hielt ihn der ablehnenden Mutter vor das Gesicht, steckte ihn dann achselzuckend wieder ein – für den Spottpreis von zwanzig Mark; er habe aber kein Geld gehabt. Nun sei gerade Frühstückspause gewesen; die Maurer lassen sich durch einen Jungen das Frühstück holen, jeder eine Flasche Bier und ein Viertelpfund gehacktes Fleisch, und ein Kamerad habe ihm dabei, als er die Geldtasche zog und dem Jungen das Geld gab, ein Zwanzigmarkstück von Kaiser Friedrich gezeigt, das er bei sich gehabt. Das sei ihm nun eingefallen, und da der Kamerad neben ihm gesessen, so habe er die Schere gemacht, und habe ihm vorsichtig die Geldtasche herausgezogen, das Goldstück genommen, und die Tasche wieder zurückgesteckt und habe dann dem Mann, der noch dagewesen, den Ring abgekauft. Der Kamerad aber ruft aus, er habe noch Hunger, seine Alte bringe ihm heute mittag Kohlrüben mit Schweinebauch, zu so einem Fraß habe er keine Lust; und so winkt er den Jungen noch einmal herbei, daß er ihm noch ein halbes Viertel Gehacktes und eine Flasche Bier holen solle. Wie er die Geldtasche aufmacht, da merkt er, daß das Goldstück fehlt. Er schreit laut, daß er bestohlen ist, die andern laufen alle zusammen und rufen, er wolle sie wohl zu Spitzbuben machen; er erzählt alles, die andern werden bestürzt, fragen unter sich, schimpfen und rufen; einer macht darauf aufmerksam, daß der Bursche den Ring gekauft hat, obwohl er vorher kein Geld hatte, es wird ihm zugesetzt, und zuletzt wird er vom Bau gejagt und es wird ihm gedroht, wenn er das Geld nicht im Laufe des Tages wiederbringe, so werde er auch noch als Spitzbube angezeigt.
Die Mutter hatte alles still mit angehört, ohne ein Wort zu sprechen. Nun ergriff sie das Geschirrbrett und sagte, sie müsse beim Herrn abräumen. Damit ging sie in die Eßstube.
Der Herr hatte gegessen, und da gerade der Erste des Vierteljahres war, so hatte er sein Gehalt, das er noch bei sich trug, noch einmal neben seinem Teller beim Essen aufgezählt und überrechnet. Es stimmte alles, er strich das Geld zusammen in die Geldtasche, und steckte die wieder zu sich. Aber dabei war ihm ein Zwanzigmarkstück entgangen, das sich unter ein Mundtuch geschoben hatte, welches an der Stelle, wo er saß, einen Rotweinfleck auf dem Tischtuch verbergen sollte. Nach dem Essen war er aufgestanden, hatte sich auf den Langstuhl gelegt und war eingedämmert.
Nun kam Marie herein und räumte ab. Sie setzte das Geschirr auf das Brett, hob das auf einen Stuhl neben sich und nahm Mundtuch und Tischtuch auf. Dadurch kam das Geldstück, das sie nicht gesehen hatte, auf dem Tisch ins Rollen, und fiel dumpf auf die Erde auf den dicken Teppich unter dem Tisch. Marie bückte sich, hob es auf, blickte schnell auf den schlummernden Herrn und behielt es in der Hand unter dem eingeschlagenen kleinen Finger und Ringfinger. Sie faltete die Tücher mit der halbgeballten Hand, nahm dann das Geschirrbrett und ging hinaus.
In der Küche legte sie dem Burschen das Goldstück wortlos auf den Tisch. Der nahm es, murmelte mit heiserer Stimme ein paar Worte und ging gedrückt ab. Er kam noch einmal zurück, öffnete die Tür halb und sagte, die anderen wollten ihn nicht mehr auf dem Bau haben; aber denen wolle er es schon zeigen, er sei kein Dummer; er habe an seinen Vater geschrieben, und der habe ihm geantwortet, er könne ihn brauchen in seinem Geschäft. Der fahre immer Droschke erster Klasse und Auto. Als die Mutter eine Bewegung machte, fuhr er fort: »Was hast du denn gehabt von deinem Leben? Die Herrschaften trinken den Champagner, der kommt nicht an unsereinen, und Austern schmecken auch gut.« Damit leckte er sich die Lippen. Dann zog er die Tür zu und ging trällernd ab.
Der Herr hatte aber nur leicht geschlummert. Er war halb aufgewacht, als die Dienerin in das Zimmer trat, und hatte dann regungslos zwischen den Wimpern ihre Bewegungen verfolgt, wie das wohl geschehen kann in dem eignen Behagen nach dem Essen im Zimmer, wenn man ganz gesund ist und vielleicht am Vormittag eine große Arbeit beendet hat, die einem lange auf der Seele lag, so daß man nun für den Tag sich ganz frei und ohne Sorgen fühlt. Er hörte das Auffallen des Goldstückes auf den Tisch und das Rollen, und es fiel ihm ein, daß das eines der Goldstücke sein mußte, die er vorhin gezählt hatte; es war wohl im Augenblick ein Antrieb in ihm, daß er Marien das sagen wollte und ihr auftragen, daß sie es beiseitelege; aber in dem Behagen des Viertelschlummers schwieg er. Da merkte er ihren Blick und erschrak, das Goldstück fiel auf den Teppich, sie nahm es in die Hand; er sah, wie sie mit der halbgeschlossenen Hand die Tücher zusammenlegte und dann das Geschirrbrett nahm.
Er wollte ängstlich und verwundert rufen: »Aber Marie, was machen Sie denn da?«, aber eine andere Angst und eine eigene Scham schlossen ihm den Mund; er drückte die Augen fester zu, und Marie ging hinaus.
Als er allein war, richtete er sich auf. Er wollte ihr nun nachgehen; aber wieder hielt ihn das Schamgefühl zurück; und zwar war es ihm so, als ob er selber sich schämen mußte. »Was ist denn das für eine Feigheit?« sprach er leise vor sich hin, wie alte Leute wohl tun.
Dann plötzlich kam ein unsäglich trauriges Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins über ihn. Er dachte daran, daß seine Tochter nun mit einem fremden Mann zusammen lebte, den er kaum kannte, und ihre Kinder besorgte, von denen er kaum ein Bild hatte, daß die beiden Söhne in anderen Städten lebten, jeder in seinem Beruf, der eine verlobt; daß seine Kinder nur an sich dachten, an ihre Tätigkeit, ihr Haus, ihre Pläne, und vielleicht auch einmal verloren sich den Vater in die Erinnerung zurückriefen. Ein Mitleid mit sich selber bemächtigte sich seiner, und eine große Träne rollte ihm über die Wange in den Bart. »Nun habe ich doch immer meine Pflicht getan,« dachte er, »nun bin ich ganz allein.«
Er erhob sich, schloß die Tür auf und ging in das Nebenzimmer, wo seine verstorbene Frau gelebt hatte. Die Sonne lag auf den weißverhängten Fenstern, ein Lichtbalken, in welchem Sonnenstäubchen tanzten, legte sich schräg durch das Zimmer. Da stand der Nähtisch, abgeräumt und zugeschlossen; der Spiegel, die Hängelampe waren verhängt; das Sofa und die Stühle waren reinlich mit Tüchern verbunden. Alles war ordentlich und sauber. Er schüttelte den Kopf; mechanisch sagte er leise vor sich hin: »Das hatte ich von Marien nicht gedacht«; aber er konnte in seiner Erschütterung keinen klaren Gedanken über sie fassen.
Marie inzwischen wurde von einer heftigen Angst ergriffen, nachdem der Sohn gegangen war. Sie ließ ihren Aufwasch stehen, band die Schürze ab und hängte sie an den Nagel und stieg dann die Treppe hinauf in ihr Stübchen.
Als sie eintrat, fiel ihr Auge gerade auf ihre Truhe. Da mußte sie sich der verstorbenen Frau erinnern. Im ersten Jahr noch hatte ihr die gesagt, daß ein ordentliches Mädchen eine Truhe haben muß, in welcher sie ihre Wäsche und ihre Kleider aufheben kann. Nun war in der Straße, wo die Herrschaft wohnte, eine alte Dame gestorben, deren Nachlaß verkauft wurde. Die Frau ging mit Marien zu den Erben, besah eine Truhe, die sich im Nachlaß befand, prüfte sie genau und erstand sie für Marie. Es war eine schöne, alte geschnitzte Truhe aus Eichenholz, mit einem großen, schweren Schloß, und die Frau hatte ihr gesagt, das Stück sei ein Altertum, und sie müsse es recht schonen, es könne noch an ihre Kindeskinder kommen, so gut sei es gearbeitet. Das fiel ihr nun alles ein, und wie die Frau immer für sie gesorgt hatte, auch damals, als das Unglück mit dem Kind kam, denn sie hatte sie selber in der anderen Stadt untergebracht und hatte auch die guten Leute aufgefunden, welche das Kind erzogen. Dann dachte sie, wie die Frau auf dem Sterbebett gelegen hatte und hatte ihr gesagt: »Verlaß meinen Mann nicht,« und sie dachte an den Herrn, wie zufrieden der immer mit allem war, wenn sie nur seinen Schreibtisch beim Abstauben nicht in Unordnung brachte.
Sie setzte sich auf einen Stuhl und begann zu weinen. Aber als sie sich ausgeweint hatte, da faßte sie sich ein Herz, ging wieder die Treppe hinunter, und klopfte beim Herrn an.
Der saß an seinem Schreibtisch, aber er wußte nicht, was er arbeiten sollte. Als Marie eintrat, wendete er den Blick zur Seite, denn es war ihm wieder, als müsse er sich schämen, wenn er sie anblicke. Sie faßte diese Wendung des Kopfes anders auf und erschrak. Da trat sie denn näher und erzählte mit stockender Stimme alles von ihrem Sohn, und daß ihr erspartes Geld alles ausgegeben sei, und erzählte dann die letzte Geschichte mit dem Ring, und dann holte sie tief Atem und fuhr fort, indem sie ihm ihren Diebstahl mitteilte. Sie fügte aber hinzu, sie wisse jetzt gar nicht mehr, wie sie dazu gekommen sei, das Geld zu nehmen, denn es sei doch heute der Erste, und sie hätte ja nur um ihren Monatslohn bitten müssen. Aber sie sei ganz verwirrt gewesen. Zuletzt wischte sie sich mit dem Rockzipfel die Augen.
Der alte Herr sagte ihr, er habe gesehen gehabt, daß sie das Geld genommen. Dann sagte er nur noch: »Das muß man nicht tun, das muß man nicht tun,« und schüttelte leise den Kopf mit den weißen Haaren. Damit gab er ihr die Hand; aber er gab sie ihr mit abgewendetem Gesicht, denn er konnte sie immer noch nicht wieder ansehen.