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Wie bei der Taufe entwickelte sich ein allgemeines Gespräch. Das knüpfte an die Gedanken an, welche damals geäußert waren, und suchte die neueren Vorgänge mit ihnen zu verbinden.
Herr von Lukács wies auf die russische Revolution hin und auf die großen Gedanken, welche durch sie in Wirklichkeit umgesetzt sind. Die russische Revolution ist ein Ereignis, dessen Bedeutung für unser Europa noch nicht einmal ungefähr geahnt werden kann; sie macht die ersten Schritte, die Menschheit aus der bürgerlichen Gesellschaftsordnung der Mechanisierung und Bureaukratisierung, des Militarismus und Imperialismus hinauszuführen in eine freie Welt, in welcher wieder der Geist herrschen und die Seele wenigstens leben kann.
Herr von Lukács wendete sich lächelnd zu Paul Ernst und fuhr fort, indem er über Paul Ernsts Glauben an den Staat, und noch dazu an den deutschen Staat, leise scherzte; er wies darauf hin, daß schon heute in Preußen eine militärische Jugenderziehung geplant sei, wo denn die Ablichtung von Geist und Körper noch weiter getrieben werde, wie das schon geschehe, und der Jugend die letzten paar freien Stunden genommen werden müssen, die heute noch angewendet werden können auf freie Ausbildung des Geistes und Vertiefung der Seele; er wies hin auf die unerhörte Anstrengung aller Kräfte, die in Deutschland nach dem Kriege notwendig sein werde, um den Platz auf dem Weltmarkt wieder zu erobern und auf die damit weiter zunehmende Verrohung; und er schloß, daß das deutsche Volk nichts von diesem furchtbaren Kriege gelernt habe, als daß es sich auf einen neuen, noch furchtbareren Krieg vorbereiten müsse; das sichere Zeichen dafür, daß die geistige Führung der Welt nicht mehr bei den Deutschen sein könne; denn auf irgendeine Weise müsse doch ein Ausweg aus dieser Weltordnung gefunden werden.
Paul Ernst hatte Herrn von Lukács still zugehört. Er erwiderte: »Es ist mir sehr schwer, das zu sagen, was ich jetzt sagen werde. Sie sind Ungar, Sie stehen als Zuschauer in diesem Kampf zur Seite, wenn auch freilich als sehr beteiligter Zuschauer, aber wir Deutschen sind doch heute die ersten Kämpfer, wir dürfen sagen, daß wir gegen die ganze Welt kämpfen, und mit Ehren kämpfen. Es ist nicht leicht für den Stolz eines solchen Volkes, das zuzugeben, was Sie sagen. Aber wir müssen es zugeben.
Wenn ich betrachte, was heute die Russen verlangen, dann muß ich an unsern Bauernkrieg denken. Fast wörtlich dasselbe wie Lenin und Trotzki wollte unser Geismayer: die Zerstörung der Städte, die Verstaatlichung von Industrie und Handel und die Freiheit der Bauern, eine Mischung also, wenn man allgemeine Worte gebrauchen will, von Anarchismus und Staatssozialismus. Ein freier Bauernstand, der etwa so lebt, wie unser Justus Möser ihn beschreibt, würde in sogenannter demokratischer Verfassung die Herrschaft im Lande haben, Industrie und Handel, durch Beamte getrieben, wären von ihm abhängig; für Unterdrückung einer Bevölkerungsklasse durch eine andere, für Entstehen einer törichten Herrenkaste – noch dazu einer so törichten, wie wir sie in Deutschland erzeugt haben –, für Unterjochung anderer Völker, für die sinnlose Volksvermehrung wäre bei einer solchen Ordnung der Gesellschaft keine Möglichkeit.
Unser Bauernkrieg ist gescheitert; warum, das hat noch kein Geschichtsschreiber gezeigt, vielleicht ist den Gelehrten die Aufgabe zu bedenklich gewesen, denn vieles von dem, was man seitdem als Ruhm des deutschen Volkes ausgibt, würde ganz anders aussehen, wenn man den Bauernkrieg besser verstände. Luther hatte zuerst auf der Seite der Bauern gestanden, erst als ihre Sache für den Klarsehenden verloren war, wendete er sich von ihnen ab, als vernünftiger Mann, der noch andere Aufgaben zu erfüllen hatte. Er hat die Roheit, Albernheit und Dummheit der deutschen Fürsten wohl gekannt, er wird schon mit ihnen gegangen sein, weil er mußte.
Politisch unter Roheit, Albernheit und Dummheit der Fürsten und Raffgier und Engherzigkeit der herrschenden Familien in den Städten, dem freiwillige Knechtseligkeit des ganzen Volkes entsprach, gesellschaftlich und wirtschaftlich unter Entwicklung des Kapitalismus und Wuchers in jeder Gestalt hat sich dann Deutschland gebildet bis 1620. Wir erfahren geschichtlich von diesen Jahrzehnten nur wenig, es waren Jahrzehnte, ähnlich denen von 1870 bis 1914.
Glauben Sie, lieber Freund, ich meinte diese Gesinnung, als ich davon sprach, daß im Staatsgefühl des deutschen Volkes der Keim einer neuen Religion liegt? Sie können die Feigheit unseres Beamtentums, seine Streberei und Gedankenlosigkeit nicht tiefer verachten, wie ich selber sie verachte. Ich weiß wie Sie, daß der Krieg, den wir mit der höchsten Aufopferung führen, uns nichts nutzt durch die Dummheit, Albernheit und Roheit der Männer, welche wir herrschen lassen. Aber Sie wissen auch wie ich, daß nur wenige Völker, seit es Menschen gibt, einen ähnlichen Krieg so geführt haben wie wir, und daß man diese Völker als die ersten Völker der Menschheit rechnet. Ich bin überzeugt, daß nach dem Kriege unser Volk auch politisch erwachen wird. Vielleicht wird es das Glück haben, daß es wieder, wie nach der französischen Revolution durch die Steinsche Gesetzgebung, den Segen der russischen Revolution genießen wird, ohne daß es deren Verbrechen auf sich laden muß, und dieses Mal wird ja wohl dafür gesorgt sein, daß nicht durch einen einfältigen König das Reformwerk wieder gestört wird.«
Herr von Brake räusperte sich und wendete sich zur andern Seite, wo er sich eifrig in ein Gespräch mischte. Sein Schwiegersohn lächelte unmerklich und erwiderte Paul Ernst: »Sie haben vielleicht recht, lieber Freund. Wir sind beide ja konservative Männer, wenn man die konservative Gesinnung nicht im Jasagen zu zufällig bestehenden Einrichtungen oder gar Liebedienerei vor dem Fürsten oder im Hochhalten der Grundrente suchen will, sondern in einem Geiste, der für ein Volk die ihm angemessenste Art eines ruhigen und naturgemäßen Lebens wünscht, in dessen Verlauf es das ihm von Gott gesetzte Ziel für die ganze Menschheit erreichen kann. Wir haben uns vielleicht auch immer zu sehr vor der Unordnung in den westlichen Demokratien gefürchtet und deshalb zu der sehr tief empfundenen Unzulänglichkeit der eignen Ordnung zu lange geschwiegen.«
Hier nahm Georg von Lukács wieder das Wort. »Es wäre denn im Grunde kein allzu großer Unterschied zwischen uns vorhanden. Nehme ich zusammen, was Paul Ernst eben sagte und was er sonst über die deutsche klassische Zeit gesagt hat, so würde er zugeben: Wie nach der Reformation in Deutschland die Zeit bis 1620 kam, in welcher die Ideen der Reformation ja wohl noch im untern Volk lebendig waren, wo sie eben keine Macht hatten, in den herrschenden Kreisen aber völlige Geistes- und Seelenlosigkeit herrschte, vielleicht weil die Ideen der Reformation nicht weit genug trugen; so ist auch der deutsche Aufschwung der klassischen Zeit seit etwa 1830 in sich zusammengebrochen und hat völliger Geist- und Seelenlosigkeit Platz gemacht. Eine Erneuerung der Menschheit kann deshalb heute von den Deutschen nicht kommen; denn wenn ein paar Menschen in Deutschland – es sind noch nicht ein Dutzend – diesen Zustand wirklich einsehen und für sich die Kraft der Seele haben, sich ein Bild einer bessern künftigen Zeit vorzustellen, so können sie doch nie den nötigen Einfluß auf ihr Volk gewinnen und müssen deshalb vernünftigerweise jeder Wirkung entsagen und als Einsiedler für sich leben; wir wollen ihnen wünschen, daß sie die Lebenskraft haben, das mit lachendem Munde zu tun. Eine Erneuerung kann aber vom russischen Volke kommen.«
Paul Ernst schloß das Gespräch mit folgenden Worten: »Vielleicht ist es allzu starker Stolz auf mein Volk, der mich nötigt, noch eine Anmerkung zu dieser Zusammenfassung zu machen. Man mag von den Deutschen sagen, was man will; und ich bin geneigt, das Härteste von ihnen zu sagen; aber sie sind jedenfalls ein männliches Volk. Sie wissen, wie ich den russischen Geist immer verehrt habe; bin ich doch als junger Mensch von Tolstoi und Dostojewski zu meinem eignen Leben erweckt, nicht von Goethe und Schiller. Aber im russischen Volke steckt etwas Sklavisches. Ich sage das nicht herabsetzend, wir sind ja alle Geschöpfe Gottes, und Gott hat gewußt, weshalb er uns unsere Art gegeben hat. Vielleicht hat dieser Krieg ein gegenseitiges Durchdringen der beiden Völker zur Folge, vielleicht nehmen die Deutschen auf, was Sie den russischen Gedanken nennen und führen durch, was die Russen ja nicht durchführen können. Denn nicht an unsrer mangelnden Kraft im Geistigen oder im Seelischen liegt es ja, daß wir heute im Höchsten versagen; ein Volk, das einen solchen Krieg durchführt, hat jede Kraft. Uns fehlt die Idee, welche die Kraft zur Tätigkeit bringt. Sie sprechen von dem Dutzend Menschen bei uns; hätte einer von ihnen den beredten Mund, die Idee verständlich zu formen, das ganze Volk würde ihm zujubeln und würde ihm folgen.«
Aber während dieses Gespräches war alles weitergegangen; an einem andern Teil des Tisches hatte sich eine Erzählergruppe gebildet, und so hörte man nun wieder Geschichten an.