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Auf der Straße

Ein Student ging an einem Abend eine Straße in Berlin entlang. Es war um die Zeit, da die Geschäfte geschlossen werden; Mädchen und Männer der verschiedensten Art drängten sich und hasteten; dem hochgewachsenen und vornehmen jungen Mann sah man es an, daß er aus einer ganz andern Welt stammte, wie dieses wimmelnde Volk; mancher bewundernde und lockende Blick aus weiblichen Augen, mancher gehässige aus männlichen fiel auf ihn, ohne daß er es bemerkte.

Es macht sich von selber, daß auf der einen Hälfte des Fußsteigs die Menschen hintereinander gehen und auf der andern kommen; man stumpft sich das Auge in dem Ziehen der gleichgültigen Menschen ja bald ab; auf dem Fahrweg gleiten die Straßenbahnen her und hin, fahren die Lastwagen, die Selbstfahrer, die Droschken; von der andern Seite des Trottweges fällt aus den Läden mit allerhand Waren helles Licht; man schiebt sich gedankenlos weiter in dem allgemeinen Drängen der Menschen, unter dem Rasseln und Kreischen der Wagen, in dem unruhigen Licht der Läden und der Straßenlampen, und die freundlichen oder feindlichen Blicke, den Blickenden selber wohl zum großen Teil unbewußt, werden nur unbewußt aufgenommen.

In der Reihe der Menschen, welche auf der andern Hälfte des Steiges der Reihe entgegenkam, in welcher er selber sich vorwärtsschob, erschien plötzlich ein junges Mädchen von so ganz andrer Art wie die ganze Umgebung, so ganz seiner eignen Gattung angehörig, daß sie dem jungen Mann inmitten der tausend unbemerkten Gesichter zum Bewußtsein kam; es war ihm, als ob es ihn plötzlich durchzucke; und auch das junge Mädchen, das ähnlich verloren in der Menge getrieben war, mußte von ihm angezogen sein, denn für einen ganz kurzen Augenblick ruhten die Augen der beiden ineinander, das junge Mädchen riß ihren Blick zuerst los, senkte den Blick und errötete leicht, und es war, als ob sie ihren Schritt in der drängenden Menge zu beschleunigen suchte.

Der Student trat aus seiner Reihe, wendete sich um, schob sich in die Reihe, in welcher das junge Mädchen ging und folgte ihr. Er war durch drei Personen von ihr getrennt. Ungeduldig suchte er ihr näher zu kommen; als er einen Menschen zur Seite schob, erfolgte ein häßliches Schimpfen; er hörte nicht und drängte auch den zweiten Menschen fort; dann dauerte es eine Weile, ehe er an die Stelle des dritten kommen konnte, nun ging er dicht hinter dem Mädchen; er wußte: sie fühlte, daß er dicht hinter ihr war, denn er spürte, daß sie heimlich lachte; sie bog den Rücken etwas ein. Jetzt gelang es ihm, neben ihr zu gehen. Er zog den Hut und brachte eine höfliche Redensart vor; sie biß sich auf die Lippen, um nicht laut zu lachen, und sah ihn schräg an.

So gingen die beiden nebeneinander; er plauderte und sie lachte, antwortete zuerst einsilbig, sprach dann mehr und schneller, und endlich gingen die beiden selbstvergessen, Arm in Arm, in der flutenden Menge.

Als sie auf seinem Zimmer waren, wollte er sie das erstemal küssen. Sie wendete das Gesicht ab und Tränen füllten ihre Augen; sie sagte: »Sie müssen nicht schlecht denken von mir, es ist die bitterste Not, die mich treibt.« Dann aber wendete sie ihm Gesicht und Mund zu; er war befangen geworden über ihre Worte und hatte sie lassen wollen; nun küßte er sie und sie erwiderte seine Küsse.

Sie saß, gedankenverloren und in sich gekehrt, indessen er im Zimmer auf und ab schritt; dann ging es wie eine Bewegung durch ihren ganzen Körper, von Kopf bis zu Fuß, als ob sie etwas abschütteln wolle, sie sagte leise vor sich hin: »Ich will,« und erhob sich, indem sie liebevoll und freundlich zu ihm hinsah.

Nachdem nun alles gewesen war, nahm er ihr die Geldtasche aus dem Kleid; er wollte ein Goldstück hineinlegen. Aber als er die Geldtasche öffnete, da fand er darin drei Hundertmarkscheine, sauber zusammengefaltet, jeden einzeln, wie sorgfältige Frauen tun, welche für das Papiergeld ja keine besondere Tasche haben. Er kehrte sich erstaunt zu ihr, in der linken Hand die Geldtasche, in der rechten die Scheine; sie versteckte ihr Gesicht lachend im Kissen und sagte: »Die Scheine sollst du behalten, ich bekomme jeden Monat tausend Mark für meine Kleider; was soll ich damit? Ich habe Freundinnen, die nur hundert Mark von ihren Eltern bekommen; du sollst dir eine schönere Wohnung nehmen.« Er wurde ärgerlich und steckte die Scheine unordentlich in die Geldtasche zurück. Sie stand auf, legte schmeichelnd die Arme um seinen Hals und bat ihn; sie sagte, daß sie ihre Worte doch nicht böse gemeint habe, und sie habe ihn lieb, und sie wisse wohl, daß er sie nicht lieb habe, das sei ihr aber gleichgültig; sie trocknete sich eine Träne ab und lachte, dann sagte sie, sie gehöre ihm doch nun, und alles, was sie habe, gehöre ihm auch; aber sie wolle nie wieder von derartigem sprechen, wenn er das nicht möge; und so nahm sie ihre Geldtasche und steckte sie wieder fort, und dann machte sie alles zurecht, sich selber und die Stube, wie eine fleißige Hausfrau. Der Student hatte Brot und alles, was zum Abendessen nötig ist; sie deckte den Tisch, stellte den Teekessel auf die Weingeistlampe, setzte die Teller zurecht, Messer und Gabeln, der Teekessel summte, der junge Mann ging im Zimmer auf und ab, leise zwischen den Zähnen ein Studentenlied singend; sie setzte sich vor den Tisch, legte die Arme auf und drückte das Gesicht weinend in die Arme. Er trat zu ihr, beugte sich über sie; sie schlang ihren Arm um ihn und verbarg ihr nasses Gesicht an seiner Brust.

Von nun an besuchte das Mädchen den Studenten jede Woche, immer an dem Tage des ersten Zusammenseins.

Er fragte sie nach ihrem Namen, nach ihren Eltern, sie schüttelte lachend den Kopf und legte den Finger auf die Lippen. Er fragte sie weiter und sagte, daß er sie lieb habe und von ihrem Vater verlangen wolle, daß er sie ihm zur Ehe gebe; da schüttelte sie den Kopf und ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie sagte: »Ach, wenn du alles wüßtest, so würdest du erschrecken«; und so umarmte und küßte sie ihn und sagte: »Einen Tag in der Woche darf ich dich sehen ein paar Stunden lang; heute sehe ich dich, und vielleicht sehe ich dich die nächste Woche wieder, und vielleicht auch noch die übernächste Woche; und einmal wird die Zeit kommen, wo ich dich nicht mehr sehen darf.«

Nun geschah es an einem Tag, als sie bei ihm war und in den Spiegel sah, um ihr Haar aufzustecken, daß ihm eine Veränderung auffiel bei ihr. Er legte den Arm um sie und zog ihren Kopf an die Brust und flüsterte ihr ins Ohr, was er dachte; da nickte sie still und ihre Augen wurden feucht, sie preßte sich an ihn und sagte: »Wir haben uns doch lieb gehabt, nicht wahr?« »Weshalb sagst du haben?« fragte er erstaunt. Sie erwiderte nicht und blickte still zu Boden; dann lächelte sie und sagte: »Wir wollen recht glücklich sein und uns freuen.« So waren sie beisammen; und ehe sie schied, da sagte er: »Du nimmst das von mir mit, was in mir das Wesentliche ist, denn ich bin tot, wenn du fortgegangen bist; anders kann ich mich nicht ausdrücken.« Da lächelte sie noch einmal, küßte ihn noch einmal auf die Stirn und wendete sich zum Gehen.

Als der Tag wiederkehrte, an dem sie kommen mußte, da harrte er vergebens. Er hatte seine Tür zu einer schmalen Spalte geöffnet und stand da, in der Hand die Klinke, um nach der Treppe zu lauschen; es gingen Schritte von Männern und von Frauen, auch von Kindern; man konnte unterscheiden, ob die Schritte von alten Leuten kamen oder von jungen, von Leuten mit schwerem Schuhwerk oder mit feinem; es rauschte auch wohl einmal ein Kleid und huschte ein ganz leichter Frauenschritt; aber seine Geliebte kam nicht.

Sie kam nie wieder und niemals sah er sie wieder.


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