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In einer kleinen Stadt mit einem Gymnasium lebte ein Polizeiwachtmeister mit seiner Frau und einem Sohn. Der Sohn besuchte das Gymnasium und war nun schon in einer der oberen Klassen.
Der Vater war ein begabter Mann, der als Tagelöhner Soldat geworden war, durch Anstelligkeit sich ausgezeichnet hatte, zum Unteroffizier befördert wurde und nach seinen Dienstjahren seine jetzige Stelle als Versorgung erhielt. Aber, wie das mit solchen Männern oft geschieht, seine seelischen Eigenschaften hatten sich nicht gleichmäßig mit seinen übrigen Fähigkeiten entwickelt. Er hatte im Heer manche Unzulänglichkeit bei den Vorgesetzten bemerkt und mit Bitterkeit sich gesagt, daß er wohl auch leisten könne, was der Vorgesetzte leiste, aber wegen seiner Geburt und Erziehung sei ihm jedes Höherkommen unmöglich. Er hatte diesen oder jenen Mann gekannt, der gleich ihm den einfachsten Verhältnissen entstammte, und in jenen Jahren des wirtschaftlichen Aufstiegs im Geschäftsleben zu Wohlhabenheit und Ansehen gelangte, indessen er selber bei geringem Einkommen und kleinlicher Sparsamkeit immer in seiner bedrückten Lage bleiben mußte, obwohl er fähiger und tüchtiger war. So hatte sich bei ihm die Vorstellung gebildet, daß im Weltlauf keine Gerechtigkeit herrsche, wie doch eigentlich müßte, und daß es darauf ankomme, rechtzeitig sich einen guten Platz zu sichern, von dem aus man dann ohne große Anstrengung von selber weiter gelangen werde. Seinem Sohn sagte er häufig: »Du schlägst nach mir, da kannst sie alle in die Tasche stecken, aber wer bloß an seine Pflicht denkt, über den gehen die Räder fort. Du besuchst nun das Gymnasium, dann machst du das Examen, und dann lasse ich dich studieren; da brauchst du vor Keinem zu buckeln, da gehörst du mit zu den Obern, und das kommt bloß auf dich an, du kannst Reichskanzler werden.«
Dem jungen Menschen wurden alle Schularbeiten leicht. Er hatte nicht nötig, zu Hause noch zu lernen; das Wissen flog ihm in den Unterrichtsstunden zu; höchstens, daß er in den Pausen einmal ein Buch aufschlug und überlas, was gebraucht wurde. Die schriftlichen Arbeiten brachte er in größter Schnelligkeit fast fehlerlos auf das Papier. Es hätte ihn keine Anstrengung gekostet, immer der Erste zu sein, aber er war gewöhnlich nur der Zweite oder Dritte; über ihm saß immer ein Anderer, der weit weniger begabt, aber fleißiger war.
Schon in den untern Klassen hatte es sich gemacht, daß Mitschüler zu ihm kamen, sich von ihm Auskünfte und Hülfe zu erbitten. Der Knabe, Karl war sein Name, machte seine Arbeiten in der guten Stube, hier empfing er auch die Mitschüler. Es geschah zuweilen, daß das Söhne von den höheren Beamten waren, von Männern, welche der Alte militärisch in strammer Haltung grüßte. Dann sagte der Alte wohl: »Jaja, so ist es. Stand und Verstand.« Dem Knaben war das peinlich, er bat endlich den Vater, dergleichen nicht zu sagen, denn in der Schule war ja allgemeine Gleichheit; der Alte verstand das nicht, denn er lebte nur in den Vorstellungen von einer durch eine unübersteigliche Kluft in zwei Teile geschiedenen Gesellschaft; aber er machte denn doch nachher nicht mehr solche Bemerkungen.
Es geschah von selber, daß die andern Knaben sich dankbar erwiesen durch Geschenke von allerhand Gegenständen, wie sie für Jungen wertvoll sind, Briefmarken und Schmetterlinge und Derartiges, daß der Eine oder Andere durch solche Gaben einen Vorzug zu erringen suchte. In den höheren Klassen, wo Jeder ein kleines Taschengeld hatte, traten an die Stelle solcher Dinge geringe Geldbeträge.
Es ist wohl überall, daß die ältern Schüler die Studenten nachäffen, und vornehmlich geht die Nachahmung naturgemäß auf Rauchen und Trinken. Der Alte, der von der strengen Zucht einer höheren Schule nichts wußte und der Vorstellung lebte, wenn ein junger Handwerker, der seine Lehrzeit hinter sich hatte, in das Wirtshaus gehen dürfe um seinen Schoppen zu trinken, so müsse das ein Schüler erst recht dürfen, denn dadurch werde er ein Mann, gab seinem Sohn ein Taschengeld, das bedeutend höher war wie das der meisten andern Jungen. Dazu kamen denn noch die übrigen kleinen Einnahmen, und so sah sich Karl in der Lage, über Geldmittel zu verfügen, deren Betrag das sonst Übliche nicht unbeträchtlich überstieg. Irgendwie wirkte das wohl auf sein Selbstgefühl, daß seine Familie geringer war, als die Familien aller Übrigen, und das Bewußtsein seiner Begabung allein bildete kein genügendes Gegengewicht. So suchte er sich denn durch größere Geldausgaben und durch besonderes prahlerisches Wesen bei gemeinsamen Ausflügen und Kneipen so hervorzutun, daß er bald als der Anführer des einen Teils der Klasse gelten konnte, und zwar des weniger wertvollen. Es kam denn auch dazu, daß er sich nicht mehr auf den höhern Plätzen halten konnte und allmählich tiefer kam; die Lehrer sagten oft zu ihm: »Sie könnten schon, aber Sie wollen nicht«, welche Ermahnungen er denn mit heimlichem Lachen anhörte.
Es lebte in einer Hintergasse eine übel berüchtigte Person, die sich mit allerhand zweifelhaften Gewerben durchbrachte: sie stellte ein Schönheitswasser her, flocht Rohrstühle, verkaufte Senf, wand Totenkränze, und Ähnliches. Sie hatte eine Tochter, ein hübsches, freches Mädchen von nur sechzehn Jahren, das schon auf der Schule Liebschaften gehabt hatte. Mit dieser kam Karl in Beziehung, das Mädchen war stolz, daß sich ein Gymnasiast mit ihr abgab, entließ ihre geringeren Liebhaber, und schloß sich eng an Karl an. Nach einiger Zeit stellten sich Folgen heraus.
Als Karl wieder einmal in das Häuschen kam, du begann die Mutter ein ernsthaftes Gespräch mit ihm. Sie sagte, sie sei eine arme Frau, aber ihr Stolz sei, daß sie immer ehrlich gewesen sei, denn ihre Mutter habe ihr schon immer gesagt: »Armut schändet nicht, aber Unehrlichkeit bringt Schande.« Ihre Tochter habe zwar keinen Vater, aber das habe der liebe Gott nicht gewollt, denn ihr Mann sei gerade in dem Augenblick gestorben, als sie hätten heiraten wollen. Dabei vergoß sie Tränen und wischte sich mit der Schürze die Augen. Ihre Tochter sei ihr Augapfel, wer der ein Leid zufüge, der habe es mit ihr zu tun. Und er solle ja doch nun so ein kluger junger Mensch sein, da möge er sich denn Mühe geben, daß er bald eine Stelle bekomme, damit er das Mädchen zu einer ehrlichen Frau machen könne, und der liebe Gott werde seinen Segen schon dazugeben, daß sie beide weiter kommen könnten, er habe sie selber ja doch auch sichtbarlich erhalten.
Karl bekam einen heftigen Schrecken und versuchte dem Weib klar zu machen, daß eine Heirat ganz unmöglich sei, da er auf lauge Jahre hinaus nichts verdienen werde, und daß das Mädchen auch nicht in seinem Stande leben könne, weil sie nicht die Bildung und Sitten danach habe. Hier stemmte das Weib die Arme in die Hüften und sagte ihm, was sein Vater sei, das sei sie auch, und sein Vater sei oft als Kind zu ihren Eltern gekommen und habe um ein Stück Brot gebettelt, und wenn er selber denn nun nicht studieren könne, so möge er sein Brot in anderer Weise verdienen, um Weib und Kind zu ernähren, und sie wolle zu seinem Vater und zu dem Schuldirektor gehen und mit denen sprechen, die würden ihr schon ihr Recht verschaffen.
Nachher winkte ihm das Mädchen zu, sich mit ihr auf dem Heuboden über dem Ziegenstall zu treffen, wo sie gewöhnlich ihre Zusammenkünfte hatten. Da sagte sie ihm lachend, er brauche gar keine Angst zu haben, ihre Mutter sei nicht so dumm und wisse ganz genau, daß er nicht heiraten könne; sie sei hauptsächlich ärgerlich, weil er ihr noch Nichts geschenkt habe; wenn er der Alten so ein zwanzig Mark in die Hand drücke, dann sei sie schon zufrieden; er solle sie nur lieb haben, ihr sei alles andere gleichgültig, und was die dummen Menschen von ihr dächten, das sei ihr ganz einerlei, die beneideten sie doch nur.
So kam es denn, daß Karl der Alten Geld gab; und da sie mit Betteln, Schmeicheln und Drohen immer mehr von ihm erpreßte, so geriet er bald in Verlegenheit, borgte bei seinen Freunden, verkaufte Bücher, kaufte schließlich Bücher bei einem Buchhändler auf Borg und verkaufte sie bei den andern und brachte auf diese Weise bald eine Schuldenlast zusammen, die für seine Verhältnisse beträchtlich war.
Schräg gegenüber dem Polizeiwachtmeister wohnte die Familie eines Arztes. Es waren sechs Kinder da, und das Einkommen war klein; die Frau wirtschaftete mit einer Zugeherin und richtete alles auf das Sparsamste ein; sie sah versorgt aus und über ihre Jahre alt durch die übermäßige Anstrengung.
An einem Abend in der Dämmerung klopfte Karl an dem Wohnzimmer der Familie. Die Frau deckte den Tisch, der älteste Sohn, ein Knabe von neun Jahren, half ihr. Der Mann machte Eintragungen in sein Tagebuch und benutzte dazu das schwindende Licht des Tages am Fenster. Mit stockender Stimme sagte Karl, er bitte den Herrn allein sprechen zu können. Der Arzt führte ihn in sein Sprechzimmer, setzte sich vor seinen Schreibtisch und ließ den Jüngling neben sich Platz nehmen.
Dieser berichtete, er komme mit einem großen Anliegen. Das Schlechte seines Lebenswandels sei ihm klar geworden. Er wolle sich bessern, aber dann müsse er in ganz neue Verhältnisse gelangen. Er habe in einem Laden einen Gelddiebstahl verübt. Er wolle nach Amerika gehen, er mache die Überfahrt als Kohlenzieher, aber er brauche die Summe von einhundertundacht Mark, um die Eisenbahn zu bezahlen und das gestohlene Geld zu ersetzen; der Diebstahl sei noch nicht entdeckt, und wenn er entdeckt werde, so müsse der Verdacht auf ihn fallen. Sein Vater werde durch die Flucht schon unglücklich genug sein, er wolle nicht, daß er auch noch wisse, er habe einen Spitzbuben zum Sohn. Er bitte, daß ihm der Arzt das Geld borge.
Den guten Mann überlief es kalt, als er die verzweifelten Worte hörte. Schon wollte er zusagen; da vernahm er gedämpft durch die verschlossene Tür aus dem Nebenzimmer die Stimme seiner Frau; er dachte an ihre abgehärmte Gestalt, ihre abgehetzten Mienen; er sagte: »Ich habe Familie, ich kann nicht.« Es würgte in ihm. Er fuhr fort: »Das Geld liegt ja da, ich müßte Ihnen helfen, aber ich kann nicht. Wenn ich könnte, dann müßte ich erst für meine Frau sorgen.«
Karl erhob sich, er entschuldigte sich schwer und verließ die Stube. Der Arzt ging in das Nebenzimmer zurück, die Frau sah ihn fragend an, er winkte sie zu sich, trat mit ihr auf den Flur und berichtete ihr flüsternd.
»Er ist noch nicht aus dem Haus!« rief sie, indem eilte sie die Treppe hinunter. Sie traf Karl, wie er zögernd an der Haustür stand, ergriff seine Hand und führte ihn nach oben, die drei traten in das Sprechzimmer zurück. Sie sprach zu ihrem Mann: »Du hast an mich gedacht. Es geht, es muß gehen. Du mußt ihm das Geld geben. Es ist für unser Kind.«
Der Mann wollte Einwendungen machen, sie sagte. »Bitte, mir zu liebe, gib ihm das Geld. Vielleicht kommt es einmal unsern Kindern zu gute.«
Der Mann schloß seine Schreibtischschublade auf, nahm das Geld, zählte es ab, und gab es dem jungen Mann. Der ergriff seine Hand, die sich sträubte, und küßte sie, dann sagte er zu der Frau hastig. »Das vergesse ich nicht« und lief fort.
Nach einem halben Jahr kam das Geld aus Amerika mit einem kurzen Dankbrief zurück.
Die Jahre vergingen. Die Kinder des Arztes wurden größer, die Söhne kamen aus dem Haus. Der älteste besuchte die technische Hochschule. Er lernte gründlich, aber es fanden sich in Deutschland keine Aussichten für ihn; so entschloß er sich, nach Amerika auszuwandern.
Damals war der Bürgerkrieg dort. Handel und Wandel lagen darnieder, er konnte keine Stellung finden, und so beschloß er, ins Heer einzutreten. In einer Schlacht wurde er schwer verwundet und in ein Hospital gebracht. Dort lag er bewußtlos.
Der Arzt erneuerte den Verband, dann sagte er zu einem Krankenwärter, dem er Anweisungen gab: »Der Mann ist nicht zu retten. Sehen Sie seine Sachen durch, um seinen Namen festzustellen, damit wir die Angehörigen benachrichtigen können.«
Der Mann durchblätterte die Brieftasche, da fand er den Namen, dann fand er einen zärtlich besorgten Brief der Mutter. Als der Arzt zurückkam, sprach er zu ihm: »Die Mutter dieses Mannes hat mich in Deutschland gerettet. Entlassen Sie mich aus dem Dienst und erlauben Sie mir, daß ich hier bleibe und mich allein ihm widme. Ich will suchen, ob ich ihn nicht doch durchdringe.« Der Arzt zuckte die Achseln, dann sagte er: »Machen Sie den Versuch. Ich will Ihre Stelle durch einen Andern besetzen.«
Karl war Tag und Nacht um den Kranken besorgt. Er erreichte, daß das Fieber nachließ; es gelang ihm eine Familie zu finden, welche ihn mit dem Kranken in ihr Haus aufnahm, um ihn aus dem überfüllten Lazarett zu befreien und vor den Ansteckungen zu behüten; und so glückte es ihm denn, den Verwundeten am Leben zu erhalten und zur völligen Heilung zu führen.