Paul Ernst
Geschichten von deutscher Art
Paul Ernst

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Die Heiratsvermittlerin

In der Hauptstadt eines kleinen mitteldeutschen Fürstentums lebte ein Graf A. mit seiner Gattin in einem großen Haus, das in einem weitläufigen, von hoher Mauer umgebenen Garten lag. Die heutige Zeit verlangt von einem Mann, daß er irgend Etwas für das, was sie die Allgemeinheit nennt, leisten oder verrichten soll; er soll, wie sie sagt, ein nützliches Glied der Gesellschaft sein, und einen Handel treiben oder ein Amt ausüben, das man für nötig hält oder eine Arbeit verrichten an Dingen, von denen die Menschen, welche sie kaufen, annehmen, daß sie ihren nötigen Bedürfnissen entsprechen. Graf A. tat Nichts von alledem. Er hatte noch nicht einmal eine Stellung am Hofe, ja, er nahm sogar an den Hoffestlichkeiten nicht teil. Er lebte abgeschlossen in seinem Haus mit seiner Frau und einem einzigen Kind, einer Tochter Namens Maria, und vier alten und treuen Dienstboten, die gleichfalls mit der Außenwelt wenig Verkehr pflogen, und trieb, wie man heute sagen würde, in dilettantischer Weise, allerhand Künste und Wissenschaften: er erfreute sich an Musik und sammelte Radierungen und Handzeichnungen alter Meister, schöne Münzen und geschnittene Steine, las seiner Gattin und Tochter, gelegentlich auch den Leuten, aus den Dichtungen der großen Meister der Vergangenheit vor, und trieb allerhand Studien für sich in Geschichte und Philosophie.

Als die Gräfin Maria in ihrem neunzehnten Jahre stand, machten die Eltern mit ihr eine Reise nach Italien. Auf der Heimfahrt geschah dem Zuge, in welchem sie fuhren, ein Unglück. Er fuhr beim Verlassen eines Bahnhofs auf einen andern Zug auf, einige Wagen schoben sich in einander und eine Anzahl Personen verlor das Leben. Die gräfliche Familie saß in einem der betroffenen Abteile. Das junge Mädchen war gerade einige Wagen zurückgegangen, um sich beim Kellner nach dem Mittagessen zu erkundigen, so wurde sie gerettet; als sie zu der Stelle eilte, wo aus den hochgebäumten und umgestürzten Wagen die Toten und jammernden Verwundeten herausgeholt wurden, da fand sie die Mutter tot und den Vater im Sterben. Er konnte ihr nur noch sagen »Bleibe gut«.

Neben ihr stand der alte Diener, der in einem Abteil der dritten Klasse gefahren war. Er kniete nieder und drückte den toten Herrschaften die Augen zu. Maria kniete neben ihm, und die Beiden beteten. Der Diener hatte sich mit einem Mann in seinem Wagen bekannt gemacht, den bat er, bei den Toten zu bleiben, damit er das junge Mädchen erst in einen Gasthof bringen konnte.

Wir wollen die weiteren Geschehnisse nicht im Einzelnen berichten. Die Überführung der Leichen, die Beerdigung wurde von dem Diener geordnet, dem die junge Gräfin nach ihren Fähigkeiten hülfreich zur Hand ging. Es waren weder von der väterlichen, noch von der mütterlichen Seite Verwandte vorhanden, welche sich der Angelegenheiten der Waise annehmen konnten oder mochten, außer einem sehr entfernten Freiherrn von W., einem unverheirateten älteren Herrn, der sofort, nachdem er durch die Zeitungen von dem Unglück erfahren, in die Stadt eilte, die Gräfin Maria aufsuchte und tröstete mit den Worten, welche in solchen Fällen gesagt werden, und dann zum Gericht ging, um sich als Vormund und Vermögensverwalter anzubieten.

Er wohnte in dem Besuchszimmer, nahm die Mahlzeiten mit dem verwaisten jungen Mädchen ein, und erzählte ihr Allerhand, aus seinem Leben, aus der weiteren Familie, allerhand sonstige Ereignisse und Geschichten, von denen er annahm, daß sie der jungen Gräfin merkwürdig sein konnten, und suchte sie so, wie er sich ausdrückte, auf andere Gedanken zu bringen und aufzuheitern. Er war in seiner Jugend Offizier bei den Dragonern gewesen, hatte es aber nur bis zum Rittmeister gebracht, dann hatte er den Abschied genommen. An einem Abend, nachdem er reichlicher als sonst dem Wein zugesprochen, erzählte der dickliche, glatzköpfige und untersetzte Mann dem zerstreut zuhörenden Mädchen, wie das gekommen war. Er hatte Schulden gemacht und gemeint, der Alte werde bezahlen, aber der Alte war ein Knauser gewesen; nun hatte er sich nach einem reichen Mädchen umgesehen und hatte auch eine gefunden, Farben und Chemikalien, und wie es eben so weit ist, da platzt die Bombe, und der Schwiegervater schnappt ab. So blieb denn Nichts weiter übrig, als sich einen Zylinder zu kaufen. Wenn er beim Kommiß geblieben wäre, so könnte er heute General sein. Ein Ausdruck des Widerwillens glitt über Marias schönes Gesicht; der Erzähler verspürte, daß seine Reden übel gewirkt hatten und beschloß, sich zusammen zu nehmen; aber der Wein hatte doch schon zu viel Macht über ihn; und so kam denn Nichts weiter heraus, als daß er ihr unvermittelt sagte, um solche Dinge solle keine Feindschaft zwischen ihnen sein, aufstand, ihr die Hand schüttelte, und mit schweren Schritten abging.

Maria klagte dem alten Diener, sie habe Furcht vor dem Oheim, er sei so sonderbar. Der weißhaarige Mann tröstete sie und sprach, er habe wohl auch schon gedacht, der gnädige Herr sei nicht der richtige Vormund für die gnädige Gräfin, und er wolle gleich morgen zum Gericht gehen und den Herrn das sagen.

So ging er denn und wurde in das Zimmer des Amtsrichters gelassen. Der Amtsrichter saß vor seinem Tisch und blätterte mürrisch in den Akten, indessen der Diener bescheiden vor ihm stand und seine Ansicht und die Furcht seiner jungen Herrin vortrug. »Wie kommen Sie denn dazu, sich an mich zu wenden?« fragte der Richter. »Hat Sie jemand geschickt?« Der Greis wurde rot und erwiderte: »Ich tue meine Pflicht, Herr Richter.« Verdrießlich antwortete der Richter: »Der Freiherr von W. ist mit der jungen Dame verwandt, es liegt Nichts gegen ihn vor, was haben Sie eigentlich gegen ihn anzuführen? Aber Etwas Greifbares muß ich haben.« Der Diener sagte zögernd: »Der Herr Freiherr sind nicht der Mann dazu, eine junge Dame zu leiten.« Der Richter zuckte die Achseln. Dann sagte er: »Machen Sie mir einen andern Vorschlag, dann werde ich mir die Sache überlegen. So kann ich Nichts entscheiden.« – »Ich werde Erkundigungen einziehen und mir erlauben, wieder zu kommen,« erwiderte der Diener, der Richter entließ ihn mit einer stummen Handbewegung.

Der Diener war mit einem Gerichtsdiener befreundet, den er denn nun um Rat fragte. Der Mann erwiderte, die Herrn müsse man nur richtig zu nehmen verstehen; da seien so viel Sachen zu erledigen, daß sie sich um das Einzelne nicht immer so kümmern könnten, und deshalb dächten sie immer gleich, sie sollten wieder mehr Arbeit bekommen. Er rate ihm, einen Rechtsanwalt als Vormund vorzuschlagen; denn da denke der Richter, daß der schon alles machen werde und er selber keine Sorge mehr habe. Er wisse aber einen Rechtsanwalt, welcher dergleichen übernehme. Der gebe dann dem Vorsteher seiner Schreibstube Anweisung, ein Buch über Einnahmen und Ausgaben einzurichten, lasse sich die Abrechnungen von der Bank schicken und weise die Summe für die monatlichen Ausgaben des Haushalts an, und sonst werde er sich um die gnädige Gräfin nicht bekümmern, außer, daß er ihr etwa zu Beginn seiner Vormundschaft einen Besuch abstatte. Dem Diener leuchtete der Rat seines Freundes ein. Er ließ sich die Anschrift des Rechtsanwalts sagen und suchte den Mann auf, wurde mit ihm eins, ging dann wieder zu dem Richter und trug seine Sache vor; der Richter sagte: »Gut, das ist ein Vorschlag, der sich hören läßt«, und nach einigen Tagen wurde der Rechtsanwalt als Vormund bestellt, und der Oheim reiste betrübt wieder ab. Er nahm mit nassen Augen Abschied von dem jungen Mädchen und sagte, nun habe er gedacht, daß er auf seine alten Tage noch zu einem ruhigen und behaglichen Dasein komme, das sei jetzt auch wieder Nichts.

Die Gräfin Maria lebte nun für sich allein weiter in der Art, wie die Eltern gelebt hatten.

Alle Dienstboten des Hauses waren schon seit langen Jahren da, und sie alle fühlten sich mit der Herrin verbunden. Auch die Jungfer, welche mit Diensten beständig in ihrer Nähe war, stand schon in der Mitte der Vierzig. Sie erzählte, daß sie viele Heiratsanträge gehabt habe, aber sie habe sich immer gesagt, so gut wie bei der Herrschaft könne es ihr nirgends wieder werden, und wenn man so mit einem fremden Mann fortgehe, dann wisse man nie, was komme, und es habe schon manches Mädchen ihr Unglück geheiratet. Sie war auch nicht abgeneigt, diese Gesinnung auf ihre Herrin zu übertragen, denn da diese mit keinem Menschen sonst zusammenkam als mit ihren Dienstleuten, und sie sich nicht vorstellen konnte, daß man auch aus Büchern sich eine Welt aufbauen könne, in der man lebt, so nahm sie an, daß sie auf ihre Herrin einen großen Einfluß ausübte. Der Diener stand ihr aber entgegen, wenn diese Dinge besprochen wurden, was ja denn oft geschah. Er sagte, das große Vermögen müsse einen Mann haben, und die Ehe sei von Gott eingesetzt, und wenn die Herrin einen Gatten finde, der ihrer würdig sei, so werde sie eine gute Frau werden, und da sie gesund und kräftig sei, so könne sie auch gute und ordentliche Kinder bekommen. Nur war ihm bewußt, daß es nicht so leicht war, einen solchen Mann zu finden, denn er mußte doch aus dem Stande sein, und durfte nicht so ein Windhund sein und so ungebildet, wie die Herrschaften in diesen Kreisen oft sind, worüber die Dienerschaft ja Manches erzählen konnte. Und so gingen ihm denn allerhand Pläne durch den Kopf von einer großen Reise, welche er seiner Herrin vorschlagen wollte. Dabei dachte er sich denn, daß er die Augen offen halten wollte, denn als Diener erfährt man manches, davon die Herrschaft nichts ahnt.

Indessen nun dieser Zustand in dem gräflichen Hause war, wurde in der Stadt und am Hof viel über die junge Gräfin und ihre Verhältnisse gesprochen, und am meisten von den jungen Leuten, welche allgemein darauf aus waren, ihre Verhältnisse durch eine reiche Heirat zu verbessern. Man erzählte sich, daß das junge Mädchen schnurrig sei, viel lese in mehreren Sprachen, sogar Kant habe sie gelesen, und viel Musik treibe, und zwar keine Musik, wie sie einem jungen Mädchen angemessen sei, sondern ganz schwere Musik, nämlich Bach und noch ältere Musiker, deren Namen nur den Eingeweihten bekannt sind. Es war Allen klar, daß das junge Mädchen an ihren künftigen Gatten hohe Ansprüche stellen werde, was ja denn nicht angenehm ist; aber man sagte sich doch auch, daß sie ja das Leben noch garnicht kenne, denn auch ihre Eltern seien schon so schnurrig gewesen, und im Leben ändere sich dann Manches.

Es war damals ein Minister gewesen, ein Herr v. G., der eine gesellschaftlich sehr ehrgeizige Frau hatte, eine frühere Erzieherin. Das Ministergehalt war so gering, daß es nur eben für die nötigen Ausgaben des Haushalts und des Zuschusses für den einzigen Sohn ausreichte, wenn Frau und Tochter sparsam Alles zusammenhielten und mit Stopfen, Flicken und Wenden der Kleidungsstücke es verstanden, die Vorstellung der hohen Beamtenwürde ohne allzu hohe Kosten aufrecht zu erhalten. Da es nun im Lauf der Zeit nötig wurde, mehr Gesellschaften zu geben, als in dem regelmäßigen Haushaltsplan vorgesehen waren, und auch sonst einen höheren Aufwand zu treiben, so hatte der Minister sich nach einer Nebeneinnahme umsehen müssen. Es wurde damals eine Bank begründet, welche die Ersparnisse der kleineren Leute sammeln und für größere Unternehmungen bereitstellen wollte. Um den kleinen Leuten, welche gegen dergleichen neue Gründungen immer mißtrauisch sind, Vertrauen einzuflößen, wurde dem Minister ein Aufsichtsratsposten angetragen, und nach Rücksprache mit dem Fürsten übernahm Herr v. G. das Amt, das ihn keine Arbeit kostete außer der Teilnahme an zwei oder drei Sitzungen im Jahr, und ihm eine beträchtliche Summe einbrachte. Das war nun so einige Jahre gegangen; dank dem umsichtigen und rasch zugreifenden Leiter war die Bank schnell zu großer Bedeutung für das Land gediehen, und der Minister wurde vom Fürsten sowohl wie vom Lande sehr gelobt, daß er es verstanden habe, ein so nützliches Unternehmen den Untertanen zu gute kommen zu lassen. Nun kam aber nach einer Zeit sehr guter geschäftlicher Entwicklung ein Rückschlag. Die Bank, welche bei allen aussichtsreichen Neugründungen an erster Stelle stand, hatte sich im Verhältnis zu ihren Mitteln zu weit vorgewagt; es kam eine Unruhe und Besorgnis in die Kreise der Sparer und Geldgeber, und während die Gelder in den verschiedenen Unternehmungen beinahe oder völlig festlagen, wurden starke Rückzahlungen verlangt; so kamen zuerst Zahlungsschwierigkeiten, und dann, als die Angst weiter wirkte, brach die Bank zusammen mit schweren Verlusten für die Gläubiger. Die sozialdemokratische Zeitung brachte einen Aufsatz über die Verderbnis in den höheren Schichten, indem sie schilderte, wie hier das Großkapital wieder einen Raubzug gegen das Eigentum des Mittelstandes getan habe, der denn immer mehr verschwinden müsse, und wie der Adel und die hohen Beamten sich nicht scheuten, sich an solchen Plünderungen des gutgläubigen Volkes zu beteiligen. Der Minister erhielt von Ungenannten mehrere Zusendungen der Nummer des Blattes, in welcher der Aufsatz rot oder blau angestrichen war. Der Fürst, welcher gleichfalls den Aufsatz zu Gesicht bekommen, ließ Herrn v. G. rufen, machte ihm heftige Vorwürfe, daß er ihn in eine peinliche Lage gebracht habe, und gab ihm den Rat, seinen Abschied zu nehmen. Der unglückliche Mann stand mit bebenden Lippen vor ihm, er wagte nicht zu erwidern, daß sein Gehalt zu niedrig gewesen sei, daß er doch den Fürsten um Erlaubnis gefragt habe, ja, für seine Teilnahme an der Bank von ihm belobigt sei. Er ging nach Hause, schloß sich in sein Arbeitszimmer ein, brachte seine Papiere in Ordnung und erschoß sich dann.

Das war damals, als unsere Geschichte spielte, schon vor einigen Jahren geschehen. In dem sozialdemokratischen Blatt war noch ein weiterer Aufsatz gefolgt, in welchem von der gerechten Rache des Schicksals gesprochen war und von dem kostspieligen Leben der Großen, das denn zu erschütternden Tragödien führen müsse. Die Witwe hatte das Gefühl, daß sie nicht mehr in der Stadt wohnen könne, wo sie täglich Leuten aus dem Volk begegnete, welche durch den Zusammenbruch der Bank schwer geschädigt waren und ihr Unglück dem toten Manne zuschoben, und so war sie denn in einen größeren Ort gezogen, der einige Stunden entfernt lag. Das war ein Fabrikort, in welchem außer einem halben hundert Fabrikanten nur Arbeiter wohnten. Sie hatte hier keinerlei gesellschaftliche Beziehungen, das Unglück mit der Bank hatte hier nur geringen Eindruck gemacht, der Selbstmord ihres Gatten hatte wohl in den Zeitungen gestanden, war aber in den Gedanken der Leute bald in den Hintergrund getreten, und so konnte sie denn mit der nun ältlich werdenden Tochter in einer kleinen Wohnung zurückgezogen und unbeachtet von ihrem geringen Witwengehalt leben. Sie hatte drei Zimmer im Haus eines reichen Fabrikanten inne, welcher überall erzählte, daß er ja sonst nicht vermiete, weil er nicht darauf angewiesen sei, aber der Exzellenz habe er es nicht abschlagen wollen, denn man müsse sich doch gegenseitig Hilfe leisten, wo man es könne.

Nun stellte es sich aber heraus, daß der Sohn, welcher als Offizier in Berlin stand, beständige Geldansprüche an die Mutter stellte. Zunächst wurden noch Schmuckstücke und dergleichen verkauft, aber die Tochter wies mit Schärfe darauf hin, daß auch sie ein Recht auf Leben habe und daß nach dem Tode der Mutter und dem Erlöschen des Witwengehalts der Bruder gewiß nicht für sie sorgen werde; und so stellte sich denn als notwendig heraus, daß die alternde Frau nach einer Einnahme suchte, um diesen beständigen Anforderungen zu genügen. Diese bot sich ohne Mühe durch einen Zufall, an den sie mit Klugheit sich anzuhängen wußte.

Ihre Wirtsleute hatten nur eine einzige Tochter, welche später nun einmal ein Vermögen von mehreren Millionen erben sollte. Sie hatte das Mädchen, ein rundbackiges, gesundes und nicht sehr gedankenbeschwertes Ding, oftmals gesprochen, wenn sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufging, denn die lauerte ihr auf und wußte es so einzurichten, daß sie gerade über den Flur ging, wenn die alte Dame die Haustür öffnete. So war denn in einigen Monaten eine Art Vertraulichkeit zustande gekommen, welche es ermöglichte, daß das junge Mädchen ihr Herz eröffnete. Es stellte sich heraus, daß sie fleißig Bücher aus der Leihbibliothek las und auch ein Jahr in Genf erzogen war, um Französisch zu lernen, und daß ihr die jungen Herrn aus ihren Kreisen nicht gefielen, weil sie alle so etwas Gewöhnliches hatten. Kurz und gut, die alte Exzellenz hatte noch ihre Bekanntschaften unter den adeligen oder auch bürgerlichen Assessoren und Offizieren, es kam zu einer Verlobung des Wirtstöchterchens mit einem Leutnant, und der Vater der Braut hielt es nach einer Rücksprache mit seiner Frau für richtig, der alten Dame seine Erkenntlichkeit durch eine größere Geldsumme zu erweisen, die sie mit einiger Beschämung unter vielen Danksagungen annahm. An diese erste Ehevermittlung schlossen sich, wie von selber, andere, und in ein paar Jahren betrachtete sie sich schon halb und halb als eine Frau, welche dergleichen geschäftlich betreibt, und begann schon nicht mehr zu warten, daß die Gelegenheiten sie aufsuchten, sondern sah sich selber um, wo etwa ein reiches junges Mädchen im heiratbaren Alter war, dem ein passender Gatte verschafft werden konnte.

Die alte Dame hatte die Eltern der jungen Gräfin gesellschaftlich gekannt, sie wußte, wie die Verhältnisse waren; und es erscheint nicht wunderbar, daß sie sich dachte, sie könne auch hier eine Tätigkeit ausüben.

Nun war zu dieser Zeit in die Hauptstadt ein junger, vornehmer Herr zugezogen, ein Spanier, ein Conde Espinas-Belgioso. Es hieß von ihm, daß er für Kunst und Dichtung begeistert sei und sich hier aufhalte, um seinen geistigen Neigungen zu folgen, mit Künstlern zusammen zu kommen, Bilder zu kaufen, das Theater zu besuchen, von dem die Leute am Hof und in der Stadt annahmen, daß es sehr bedeutend sei, und anderes dergleichen mehr, das einem schönen, jungen, gebildeten und reichen Mann aus großer Familie anstehen mag. Er hatte sich gleich nach seiner Ankunft in den Künstlerverein aufnehmen lassen, in welchem sich in ungezwungener Weise die Herrn der Hofgesellschaft mit den Künstlern, den jüngern Herrn aus der Beamtenwelt, den Offizieren und Rechtsanwälten trafen, und nachdem der Hofmarschall sich über ihn erkundigt hatte, wurde er auch bei Hofe vorgestellt, und es hieß, daß er durch seine geistreiche Unterhaltung großen Einfluß bei der Fürstin Mutter habe, die für eine sehr gebildete Dame mit vielen geistigen Beziehungen galt.

Die Tochter der Frau v. G., die sich nunmehr bereits den dreißigen näherte, und oft bitter darüber sprach, daß in den guten Familien die Töchter den Söhnen aufgeopfert würden, ließ ihre Zähne von einem Zahnarzt in der Hauptstadt behandeln, der einen weiten Ruf genoß. Der Mann war Mitglied der Künstlergesellschaft, und als Fräulein v. G. wieder einmal bei ihm war und im Stuhl zurückgelegt ihm den geöffneten Mund für sein Arbeiten darbot, erzählte er ihr unter andern Neuigkeiten aus der Gesellschaft auch von dem Conde, den er im Künstlerhaus kennen und als einen weitgereisten, vornehmen und gebildeten Herrn schätzen gelernt hatte, dessen Unterhaltung ihm immer einen hohen Genuß gewährte. Da er bei der Gelegenheit einfließen lassen konnte, daß er in der Künstlergesellschaft mit den Herrn vom Hof auf gleichem Fuß verkehrte, und da der Conde der merkwürdigste Mann aus diesem Kreise war, so erzählte er sehr viel von ihm, und es mag wohl geschehen sein, daß er ihn in einem ganz besonders strahlenden Licht darstellte; das geschah nun zwar von seinem Standpunkt als Zahnarzt aus, aber da dieser im Grunde auch der Standpunkt der jungen Dame war, so wirkten diese Erzählungen bezaubernd. Als der Zahnarzt mit seiner Verrichtung fertig war und ihr mit einer hofmännischen Verbeugung das mitgeteilt hatte, ging sie aus dem Zimmer. Im Warteraum saß ein junger Herr, den sie sogleich nach der Beschreibung als den Conde erkannte.

Etwa eine halbe Woche nach dieser Begegnung machte der Conde der alten Frau v. G. einen Besuch. Er brachte Empfehlungen eines jungen Ehepaares mit, welches durch Frau v. G. sein Glück gefunden hatte, und die alte Dame merkte sogleich, daß der Conde der Absicht war, ihre Mühewaltung in Anspruch zu nehmen. Sie hatte ihre Tochter nicht in ihre Geschäfte eingeweiht, denn sie wollte nicht die unbefangene Jugend des Kindes mit den Sorgen und Gedanken ihres Daseins belasten. So fand sie einen Vorwand, die Tochter zu entfernen, welche denn mit heftigem Groll im Herzen ging, die aufgetragene Besorgung zu machen, denn sie fand, daß sie durch ihre Mutter von jeder Möglichkeit einer angemessenen Heirat fern gehalten wurde.

Die alte Exzellenz wie der junge Conde hatten beide eine große gesellschaftliche Gewandtheit und so kamen sie bald auf den Punkt, der ihnen beiden wichtig war. Der Conde hatte sich immer eine solche mütterliche Freundin gewünscht in dem Lande, welches ihm fremd war, das er aber doch so liebte, in solchem Maße, daß er sich seine Frau nirgends anderswo suchen wollte, die alte Excellenz fühlte sich verjüngt, wenn sie den edlen Schwärmereien zuhörte, sie dachte an so viele Schicksale, die ihr schon vor den Augen vorbeigezogen waren, an so manche Jugend, deren Liebe sie entstehen und durch einen glücklichen Ehebund hatte krönen sehen. Der Conde verlangte eine Gattin von Herz und Gemüt, eine Gattin von Geist, von einem Geist, der den Flug des seinen mitmachen konnte. Die alte Excellenz lebte ganz zurückgezogen, sie lebte nur noch ihrem Kinde, aber die alten Freunde ließen sich nicht abweisen, neue waren gekommen, sie wußte nicht, wie, und so konnte sie denn mit ihrem geistigen Auge einen großen Menschenkreis überschauen.

Kurz und gut: in der Fabrikstadt wußte sie zur Zeit kein junges Mädchen, das sie dem Conde hätte vorschlagen mögen. Aber da war die junge Gräfin.

So brachte sie denn das Gespräch auf die Gräfin. Sie erzählte, daß ihr verstorbener Gatte der beste Freund des Grafen gewesen sei, der mit seiner Gattin in so schrecklicher Weise ums Leben gekommen war, daß sie das Kind hatte aufwachsen sehen, sorglich behütet von den zärtlichen Eltern, nun in klösterlicher Strenge von der Welt abgeschlossen, nur der Erinnerung an die teuren Toten lebend und der Vorbereitung auf den Gatten, den sie einmal mit ihrer Hand beglücken werde. Sie machte sich Vorwürfe. Sie hatte sich so lange nicht nach dem Kind umgesehen, das eigene Leid macht uns ja blind gegen die Schicksale unsrer Mitmenschen; aber gleich im Anfang der nächsten Woche wollte sie nach der Hauptstadt fahren und ihr einen Besuch machen. Dabei drohte sie dem Conde mit dem Finger. Der Conde war unwiderstehlich, man konnte ihm nichts abschlagen. Der Conde ergriff ihre Hand und küßte sie, sie gab ihm einen leichten Schlag.

Der Conde war durch seinen Zug an eine bestimmte Zeit gebunden und mußte sich empfehlen. Als er dem Bahnhof zuging, selbstzufrieden den leichten Rauch einer Zigarette vor sich hinblasend und mit einem Stöckchen fechtend, begegnete er in einer menschenleeren Baumreihe Fräulein v. G. Er grüßte sie tief, und Etwas in den Augen des Mädchens bewirkte, daß er stehen blieb und einige gleichgültig höfliche Worte an sie richtete. Sie erwiderte ihm mit bebender Stimme, und er sagte sich im Innern: »Die sitzt an der Angel.« Er zog die Uhr, schließlich konnte er auch mit einem andern Zug fahren. Fräulein v. G. errötete tief, als er sie mit einer gewissen nachlässigen Frechheit fragte, ob er sie eine Strecke begleiten dürfe. Sie wollte stolz ablehnen, aber es war wie gegen ihren Willen, daß sie sich auf die Lippen biß und ihn mit einem heißen Blick von unten ansah. So gingen die Beiden langsam schlendernd neben einander. Der Conde erzählte aus Spanien, er ließ sein Stöckchen übermütig sausen, warf den Zigarettenstummel im Bogen von sich, holte ein goldnes Gehäuse mit großem Wappen vor und zündete sich eine neue Zigarette an, indem er das Zündhölzchen mit abgespreiztem kleinem Finger hielt; und Fräulein v. G. verglich bei sich sein Wesen in tiefem Behagen mit dem spießbürgerlich ängstlichen Benehmen der Regierungsassessoren.

Die Beiden waren gedankenlos dem Bahnhof zugegangen. »Wie oft war ich hier, löste mir eine Bahnsteigkarte und sah weit hinaus auf die Geleise,« sagte Fräulein v. G. »Ich stellte mir vor, daß diese Geleise aus unserer stickigen kleinen Wohnung in die Welt hineinführen.« – »Weshalb haben Sie sich nicht eine richtige Fahrkarte gelöst und sind gefahren?« fragte der Conde. »Gefahren?« rief sie erschreckt aus. »Irgendwohin in die Welt«, sagte er und sah sie mit heißem Blick an. Sie errötete und schlug die Augen nieder. »Und wenn wir zusammen führen?« fragte er lippenleckend, indem er hartnäckig seinen Blick auf ihrem blutroten Gesicht ruhen ließ. Ihre Haut hatte schon Rauheiten, das Gesicht zeigte schon Schärfen. Plötzlich machte sie eine eckige Bewegung. »Ich muß nach Hause«, sagte sie. »Meine Mutter erwartet mich.« Er begleitete sie zurück, als sei das selbstverständlich. Einige Straßen vor ihrem Haus blieb sie stehen. »Wir müssen uns hier trennen«, sagte sie und reichte ihm die Hand. Er zog die Finger in die Nähe seiner Lippen und verbeugte sich tief.

Frau v. G. fuhr nun in die Hauptstadt und ließ sich bei der jungen Gräfin anmelden. Die Gräfin wußte noch verloren, daß der Gatte der Frau Minister gewesen war; von den üblen Geschichten damals hatte sie nichts gehört, sie ahnte auch nicht, was man von der alten Dame munkelte. So wunderte sie sich wohl über den unerwarteten Besuch, aber als Frau v. G. nun eintrat und ihr mit offenen Armen entgegen kam unter den fließendsten Beteuerungen der Freundschaft und des Glücksgefühls, da ließ sie mit einiger Verlegenheit alles über sich ergehen und bot dem Gast einen Stuhl an.

Nun erzählte Frau v. G., wie nahe befreundet ihr teurer, ihr nur zu früh entrissener Gatte mit dem Vater der Gräfin gewesen sei, wie sie selber die Gräfin als kleines Kind oft auf dem Arm gehabt, wie sie der Gräfin Mutter Ratschläge gegeben habe für Pflege und Erziehung, und nun sehe sie ein so schönes, großes Mädchen vor sich, die sei ihr nun wie eine Tochter, und so merke sie, daß sie selber alt werde, aber in seinen Kindern lebe man ja weiter, und ihre Kinder machten ihr ja gottlob nur Freude. Hier vergoß sie einige Tränen. Die junge Gräfin konnte sich zwar an nichts erinnern, davon die redselige alte Dame erzählte, aber sie dachte, sie habe als Kind doch Vieles nicht gesehen, auch wohl Manches vergessen, und es schien ihr, als ob sie Tee bringen lassen müsse. Der Tee kam, Frau v. G. legte ihren Hut ab, und das Gespräch ging weiter. Sie erzählte, daß sie in die Fabrikstadt gezogen sei, sie war dem Zug der Zeit gefolgt, die Nähe des arbeitenden Volkes zog sie an, sie fand das so rührend. Aber ihre Freunde wußten sie auch in der fremden Stadt zu finden, fast täglich bekam sie Besuche, erst kürzlich war der Conde Espinas-Belgioso bei ihr gewesen. Und nun war sie da angelangt, wohin sie gewollt hatte. Sie nahm sich ein Stück Gebäck und pries den Grafen, seine Vornehmheit, seinen Reichtum, seine edle Gesinnung, sie erzählte nur noch von ihm, so daß die gute Gräfin in ihrer Harmlosigkeit dachte, er müsse denn wohl auch ein vortrefflicher junger Mann sein, und wahrscheinlich habe er die Tochter der Frau v. G. lieb und habe deshalb der alten Frau den Besuch gemacht, und die Mutter, welche sich nun über das Glück der Tochter freue, spreche deshalb so viel und so liebevoll über ihn.

Die Zeit, welche man auf einen solchen Besuch verwenden kann, verging dergestalt schnell, Frau v. G. sprang plötzlich entsetzt auf und rief, daß sie sich verschwatzt habe, daß sie noch viele Besorgungen machen müsse, daß ihre Zeit dränge; sie lud die junge Gräfin ein, sie solle sie doch einmal besuchen, ihre Tochter lebe auch immer so allein für sich, es wäre doch schön, wenn die Kinder die Freundschaft der Eltern erneuten, und der Conde werde sie auch einmal wieder besuchen, da könne sie ihn ja sehen, ganz unauffällig an einem dritten Ort. Dann verabschiedete sie sich, küßte die Gräfin auf beide Wangen und war schnell aus der Tür verschwunden.

Der alte Diener hatte Frau v. G. mit Mißtrauen betrachtet. Wenn es gegen den Abend ging, dann kam er immer in das Zimmer der Gräfin und ließ die Rolladen nieder. Dabei brachte er denn gern vor, was er mit ihr besprechen wollte. So begann er denn heute über Frau v. G. zu sprechen.

Er fing mit einer allgemeinen Betrachtung an. »Ja, ja, wie man sich bettet, so schläft man. Das glaube ich gern, daß es Exzellenz jetzt knapp haben. Ich habe noch die Zeit gekannt, wo sie sich den Wagen verschafften.« Die Gräfin wußte, daß der gute alte Mann nicht klatschsüchtig war, sondern irgend eine Absicht zu ihrem Besten hatte. Sie fragte ihn deshalb, was er meine, der Minister sei doch ein Freund ihres verstorbenen Vaters gewesen. Der Diener erstaunte. Der Herr Graf hatten ganz für sich und die Frau Gräfin gelebt, solange er, der Diener, im Hause war; der Minister war nie in das Haus gekommen. Dann räusperte er sich; und es kam heraus, daß er annahm, Frau v. G. habe einen verschämten Bettelbesuch gemacht. Er wußte Nichts davon, daß sie dafür galt, unter der Hand Heiraten zu vermitteln, auch gelegentlich einem verschuldeten, jungen Herrn ein Darlehen zu verschaffen, denn das wurde nur in den engsten Kreisen besprochen und kam nicht zur Kenntnis der Dienerschaft; aber er kannte die Verhältnisse ganz genau, wußte den Betrag des Witwengehalts, er hatte gehört, daß der Sohn in Berlin bei der Garde stand, und so hatte er sich denn Manches zurechtgelegt.

Als die junge Gräfin allein war, überlegte sie sich alles. Es erschien ihr nun, als ob die Erzählung von der Freundschaft mit ihrem Vater ein Vorwand sei, wie ihn die unglückliche Frau wohl erfinden konnte, sie machte sich Vorwürfe über ihre Kälte und Gefühllosigkeit, daß sie nicht gleich den Zweck des Besuches geahnt hatte, und rechnete aus, was sie der Armen wohl als Unterstützung zukommen lassen könne. Der Vormund erklärte, es sei seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß das Vermögen sich während der Minderjährigkeit vergrößere, und hatte ihr deshalb nur ein bestimmtes Taschengeld ausgesetzt, das für ihre Kleidung verwendet werden sollte. Immerhin war das recht beträchtlich, und die junge Gräfin verwendete sehr wenig auf ihr Äußeres; und so hatte sie einen Betrag von fast zweitausend Mark an der Hand, über den sie frei verfügen konnte.

Am anderen Morgen schrieb sie an Frau v. G. einen Brief, dankte für den freundlichen Besuch, und bat um Entschuldigung, daß sie es wage, den Betrag ihr zu schicken, den sie dann beilegte, aber es sei ihr eine solche Freude gewesen, von der Freundin der Eltern so Vieles zu hören, und sie bitte den Betrag zu verwenden, um ihrer Tochter ein Geschenk zu machen, denn sie selber sei so ungeschickt und unerfahren im Kaufen, wisse auch nicht, was die Tochter sich wünsche; und dieses Geschenk solle denn ein Andenken an ihre verstorbenen Eltern sein.

Frau v. G. las den Brief lächelnd und schloß das Geld fort. Sie nahm an, daß die Gräfin ihr das Geschenk mache, um durch sie mit dem Conde vereinigt zu werden. Sie fuhr mit ihrer Tochter in die Hauptstadt und suchte die Gräfin auf. Der Tochter hatte sie etwas über das Geld mitgeteilt, das dieser harmlos klingen konnte und sie doch nötigte, ihren Dank abzustatten. So kam denn wieder ein Gespräch zu stande, wie das erste Mal; auch von dem Conde wurde wieder gesprochen, und da die Gräfin annahm, daß eine Beziehung zwischen diesem und der Tochter stattfinde, so machte sie darüber einige freundliche allgemeine Worte, welche dem alternden Mädchen das Blut in die Schläfen trieben. Beim Abschied bat die Mutter dringend, die Gräfin möge sich einmal anmelden und sie besuchen, und das junge Mädchen konnte nicht umhin, das zu versprechen, trotzdem ihr die Beiden gleichgültig und nicht besonders angenehm waren. Auf dem Heimweg sagte die Tochter zu der Mutter: »Diese hochnäsige Person ist mir zuwider. Sie macht sich offenbar Hoffnung auf den Conde, weil sie Geld hat. Aber es geht eben nicht bloß nach dem Geld.«

Sie war heimlich im Verständnis mit dem Conde. Schon zweimal hatte sie sich ohne Wissen der Mutter mit ihm getroffen. Der Conde drang in sie, daß sie mit ihm eine Vergnügungsreise unternehmen solle. Sie war verletzt durch den Vorschlag und andere Gedanken und Pläne, welche er im Zusammenhang äußerte und sagte ihm, wenn er sie zur Gattin begehrte, so solle er sie von ihrer Mutter verlangen. Der Conde lachte und sprach von den Schwierigkeiten der Heiratserlaubnis bei seinem Hof, von dem er in diesen Dingen durch alte Verpflichtungen der Familie abhänge. Sie fühlte wohl, daß er leichtfertige Ausreden gebrauchte, die er sich auch nicht einmal mühte, wahrscheinlich zu machen, und eine verzehrende Wut erfüllte ihr Herz; dennoch wagte sie nicht, ihm den Rücken zu kehren. Sie fühlte ja im Innersten ganz deutlich, daß er sie nur als ein Spielzeug betrachtete; aber sie wollte das nicht wissen, sie zwang sich zu dem Gedanken, daß er sie zu seiner Gattin machen werde.

An einem Tage fand die Mutter einen Zettel des Conde in einem Buch, das die Tochter las, und das Einverständnis wurde ihr klar. Sie weinte, beschwor die Tochter, erzählte ihr, daß der Conde sich um die Gräfin bewerbe, daß er sie, die Tochter, nur unglücklich machen werde. Das Mädchen wurde totenblaß. Sie richtete sich hoch und hager auf, ein Blutstropfen war auf ihrer Lippe. »So, jetzt will sie mir den Conde fortnehmen!« rief sie. »Du hilfst ihr, gegen die Tochter!« Händeringend stand die alte Frau vor ihr, sie sagte ihr, daß sie arm sei, daß vom Vater her der Fleck auf der Familie laste, daß die vornehme Gesellschaft sie, die Mutter, nie als voll habe gelten lassen, daß man sich klein machen müsse, wenn man leben wolle, aber daß man dabei doch immer seinen Stolz habe; weinend fuhr sie fort, daß sie Nichts auf der Welt habe als ihre beiden Kinder, an die denke sie allein, für die sorge und arbeite sie, und sie wisse ja ganz genau, daß ihre Kinder sie nicht liebten, trotzdem sie die Nächte durch ihr Gehirn zermartere, um sie in ihrem Stande zu erhalten. Die Tochter hatte ungerührt Schubkästen aufgezogen, den Schrank aufgeschlossen und sich für einen Straßengang umgekleidet. Sie ging zur Tür. Als sie die Klinke in der Hand hatte, sagte sie trocken: »Ich habe eine notwendige Besorgung. Warte nicht mit dem Essen.« Damit ging sie. Die Mutter siel erschöpft auf einen Stuhl und schlug die Hände vor das weinende Gesicht; sie war zu verwirrt und erschüttert, um zu bedenken, was der Ausgang bedeuten mochte.

Die Tochter hatte aber eine Verabredung mit dem Conde. Sie traf den jungen Mann an der bestimmten Straßenecke, wie er pfeifend, die eine Hand in der Tasche, mit dem Stöckchen auf das Pflaster hauend, sie erwartete. Sie war von hinten gekommen, und er hatte sie nicht gesehen. Plötzlich schob sie ihm den Arm unter und sagte mit erstickter Stimme: »Tu mit mir, was du willst, ich folge dir.« Er sah überrascht auf sie nieder, dann flog ein triumphierendes Lächeln über sein Gesicht und er sagte. »Das hatte ich doch erwartet« und drückte ihren Arm. Sie biß sich die Lippen aufeinander. – – –

Die Beiden erwachten am nächsten Morgen in dem üppig ausgestatteten Zimmer eines großen Berliner Gasthofs. Das Mädchen lag mit großen und dunklen Augen da, auf ihrem Gesicht waren gelbe Flecke. Er lachte, erhob sich, klingelte und bestellte das Frühstück.

Sie saßen am Tisch vor den bereiteten Tassen und Tellern. »Nun müssen wir den Tagesplan machen, wie wir uns vergnügen«, sagte er. Sie erwiderte Nichts und sah starr in ihre Tasse. Einen Gassenhauer zwischen den Lippen summend durchblätterte er ein Heftchen, das die Aufschrift »Vergnügungsanzeiger« trug. »Vormittags ist nur das Panoptikum«, sagte er.

Plötzlich richtete sie sich auf und sprach in einem Ton, der ihn beunruhigt aufblicken ließ: »Was soll nun werden? Hast du dir das schon gedacht?« Er sah sie verständnislos an. Ihr wollten die Sinne schwinden, aber sie hielt sich mit Zähigkeit. »Du mußt dem König nun alles schreiben, nun kann er die Einwilligung zur Heirat nicht mehr versagen.«

Er lachte. »Das hast du für bare Münze genommen? So etwas ist doch nur Unsinn, das sagt man doch nur so.« – »Das ist nicht wahr?« fragte sie entsetzt. Er spürte, daß nun die Entscheidung kam. So sagte er in noch forscherem Ton: »Mach doch nicht solche Albernheiten. Ein Mädchen, das auf Heiraten rechnet, reist doch nicht mit nach Berlin und bleibt mit Einem über Nacht in einem Gasthof, wo man ohne Koffer aufgenommen wird.« Er sah sie auf ihrem Stuhl schwanken. »Jetzt wird sie auch noch ohnmächtig«, rief er, »ich klingle dem Zimmermädchen.« Aber als er aufsprang und zur Klingel gehen wollte, da warf sie sich ihm mit erhobnen Armen entgegen und hielt ihn auf. »Na, was gibt es denn sonst?« fragte er grob. Ihre Lippen zitterten. »Du liebst die Gräfin?« fragte sie ihn. »Weshalb soll ich denn sonst zu deiner Mutter gekommen sein?« erwiderte er. »Ich brauche eine reiche Frau.«

Sie ließ von ihm ab, ging zur Tür, schob den Riegel vor und setzte sich dann auf einen Stuhl. »Du hast mir also das auch vorgelogen«, sagte sie. »Nun, ich kann mein Leben auch anders einrichten. Das habe ich gelernt, den Leuten Sand in die Augen streuen. Du scheinst es ja auch zu können.« – »Bist du denn ganz verrückt?« rief er. »Weshalb soll ich mich denn mit dir behängen?« – »Weshalb?« erwiderte sie ruhig; »weil du mußt.« Dann schob sie den Riegel wieder zurück und ging zum Spiegel, sich das Haar zurechtzustreichen. Er ergriff seinen Hut und eilte aus dem Zimmer.

Am Nachmittag fuhren die Beiden von Berlin zurück. Als der Zug auf dem Bahnhof der Fabrikstadt hielt, stieg das Mädchen aus und der Conde warf sich erleichtert in das rote Kissen seines Abteils zurück.

Die alte Exzellenz empfing ihre Tochter mit Tränen, hülflos auf dem Stuhl sitzend. Sie hatte das Verschwinden der Tochter der Polizei nicht gemeldet, denn als Stunde auf Stunde verrann, indem sie wartend saß, war ihr klar geworden, daß sie mit dem Conde zusammen war. Nun hob sie hülflos die Hände, wie zu einer Begrüßung, und ließ sie wieder matt sinken.

Gegen Abend fühlte sich das Mädchen plötzlich krank. Ein kalter Schweiß brach ihr aus, es wurde ihr dunkel vor den Augen, und sie spürte ein eigentümliches Würgen im Hals. »Er hat mich vergiftet«, sagte sie zu ihrer Mutter.

Die alte Frau jammerte laut auf, aber das Mädchen bewegte keine Miene des Gesichts. »Ich muß ins Bett gehen«, sagte sie, »laß den Arzt holen.« Der Arzt kam und traf sie im Bett, die Mutter auf dem Stuhl sitzend und die kalte Hand der Tochter haltend. Sie berichtete ihm die Erscheinungen, der Arzt wollte sie zum Erbrechen bringen, aber sie schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät«, sagte sie, »ich habe das Gift unter Mittag bekommen«. Dann berichtete sie den Beiden, wie das gemeinsame Essen auf das Zimmer gebracht sei, während sie nicht anwesend war, und wie ihr aufgefallen war, daß der Conde ihr schon auf den Teller gelegt hatte, als sie zurückkehrte, aber sie hatte sich keine weiteren Gedanken gemacht. Und nun, während sie erzählte, erinnerte sie sich plötzlich an Worte und Wendungen. »Er ist ein Hochstapler«, sagte sie; »ich sehe es jetzt ein.«

Noch in der Nacht starb sie, die Polizei war sofort benachrichtigt, und der Conde wurde in seiner Wohnung verhaftet.

Die Umstände der Verhaftung wurden rasch allgemein bekannt; schon am Abend enthielten die Zeitungen genaue Berichte über die Reise des Paares, die Erklärung der Sterbenden, und die ersten Andeutungen darüber, daß der Conde sich Rang und Namen vielleicht fälschlich zugelegt habe. Nach einigen Tagen wußte man, daß er ein Oberkellner von rumänischer Abstammung war, den man wegen verschiedener Verbrechen schon lange suchte.

Der alte Diener brachte seiner Herrin immer des Morgens mit der Post auch die Zeitung. Als die Berichte über den Mord kamen mit den abscheulichen Nebenumständen, da wollte der treue Mann nicht, daß das junge Mädchen diese Dinge lese, denn die Mutter der Ermordeten war doch zweimal bei ihr gewesen, sie selber hatte sich auf einen Gegenbesuch vorbereitet. Er gebrauchte Ausreden: Die Zeitung sei nicht gekommen, oder sie sei verloren gegangen; und die Gräfin merkte in ihrer Arglosigkeit nicht, daß der Mann ihr die Nummern verheimlichen wollte.

Sie war aber nun inzwischen dem einundzwanzigsten Jahre nahe gekommen. An einem Morgen wachte sie auf. Es war Frühling. Durch das offne Fenster sah sie in die weißen Blüten eines großen Apfelbaumes, eine Drossel schlug in die morgendliche Stille mit Schluchzen und Flöten. Sie dachte an ihren ernsten Vater, zu dessen gütigem Gesichte sie immer kommen durfte, eine süße Wehmut dehnte ihre Brust. Vor ihr lag es wie eine weite Ebene, aber sie konnte nichts Deutliches erkennen. »Ach, ein Weib ist schwach«, sprach es in ihr, und sie drückte die Augen in die Kissen. Halb ein Traumbild, halb ein Gedanke war in ihr, daß ein Mann ihre Hand nehmen und sie über die Ebene führen mußte, daß sie dann Alles sehen würde.

In ihren Ohren waren die Klänge des Klopstockschen Gedichtes an die künftige Geliebte:

»Dir nur, liebendes Herz, Euch, meine vertraulichsten Tränen,
    Sing' ich traurig allein dies wehmütige Lied.
Nur mein Auge soll's mit schmachtendem Feuer durchirren,
    Und, an Klagen verwöhnt, hör' es mein leiseres Ohr!
Ach, warum, o Natur, warum, unzärtliche Mutter,
    Gabst du zu dem Gefühl mir ein zu biegsames Herz?
Und ins biegsame Herz die unbezwingliche Liebe,
    Dauernd Verlangen, und ach! Keine Geliebte dazu?«

Ein Strom glücklicher Tränen brach aus ihren Augen. Nun dachte sie nicht mehr, ihr war wie einer Pflanze im Maienregen, welche sich reckt und die Blütenknospe formt. Sie trocknete sich das Gesicht und lachte silbern auf. Plötzlich erschrak sie und fragte sich innerlich: »Bin ich kindisch?« Da hörte sie unten im Hause Türen gehen und Klappern der Leute, richtete sich im Bett auf, faßte sich an das schwer lastende Haar, schlug die Decke zurück und schlüpfte in die zierlichen Morgenschuhe. Als sie sich vor dem Spiegel sitzend die Haare kämmte, fiel ihr plötzlich die alte Exzellenz ein und ihr Geschwätz über den Conde. Sie mußte lachen über die gute alte Frau.

Sie ging die Treppe hinunter ins Eßzimmer. Der alte Diener brachte das Frühstück, väterlich schmunzelnd und ehrerbietig.

Da klingelte es heftig an der Tür. Man hörte, daß geöffnet wurde, das Mädchen sprach mit einem fremden Mann. Der Diener hatte die Kannen zurechtgesetzt und verließ das Zimmer. Nach ein paar Augenblicken erschien er wieder, ein Schutzmann wollte die gnädige Gräfin sprechen.

Der Schutzmann trat ein. Er zog aus dem Ärmelaufschlag eine dienstliche Zuschrift, gab sie dem jungen Mädchen, unterschrieb am Tisch die Zustellungsurkunde und ging wieder.

Die Gräfin las verwundert die Zuschrift. Bei einer angegebenen Strafe wurde sie aufgefordert, zu einer bestimmten Stunde in einem Zimmer des Polizeigebäudes zu erscheinen, dessen Nummer angegeben war, zur Vernehmung in der Strafsache gegen den Kellner Carol Berendu. Sie klingelte. Der alte Diener kam. Sie reichte ihm das Schriftstück und er las.

Er wußte aus der Zeitung, daß es sich um den angeblichen Conde handelte und dachte, daß wohl ein Zusammenhang mit den Besuchen der alten Exzellenz sei. Er wußte aber nicht recht, wie er der Ahnungslosen den Mord erzählen sollte und die abscheulichen Umstände, welche ihn begleiteten, denn sie sah mit reiner Stirn und blanken, vertrauenden Augen zu ihm auf, indessen er vornübergebeugt lesend das Papier mit zitternden Händen hielt. So gab er denn das Blatt zurück und sagte mit stockender Stimme, er wisse nicht, was die Vorladung bedeuten könne.

Zu der festgesetzten Stunde ging die junge Gräfin Maria zum Polizeiamt und trat in das bezeichnete Zimmer. Ein Beamter erhob sich von seinem Schreibtisch und bot ihr höflich einen Stuhl an, dann nahm er ein Aktenstück, setzte sich und schlug es auf. Er begann, daß sie ja von dem Mord wissen werde und redete dann weiter, die alte Dame habe ausgesagt, daß sie, die Gräfin, ihre Vermittlung zu einer Heirat mit dem angeblichen Conde Espinas-Belgioso nachgesucht habe, daß die ersten Schritte in der Angelegenheit auch getan seien, und daß sie bereits eine Abschlagszahlung auf ihre zu erwartende Geldforderung erhalten habe. Frau v. G. sei zweimal in der Sache im Hause der Gräfin gewesen. Er sah von seinem Aktenstück auf, strich mit der Linken den Falz hinunter und fragte: »Stimmt das?«

Maria hatte erschreckt aufgesehen, als von einem Mord die Rede war, als dann Fräulein v. G. genannt wurde; und als der Beamte von der Heiratsvermittlung sprach, da wurde sie wie mit Blut übergossen. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, hülflos sah sie um sich und sagte: »Ich weiß davon ja nichts, was ist denn das?«

Der erfahrene Beamte merkte wohl, daß Erstaunen und Scham echt waren, aber er hatte nicht die Fähigkeit, aus seinen gewohnten Formen des Denkens und Sprechens herauszugehen. Er erzählte, als er ihre völlige Unkenntnis sah, das Liebesverhältnis, die Reise, die Vergiftung, das Geständnis des Mörders, daß er seine Geliebte habe aus der Welt schaffen wollen, um die Gräfin Maria zu heiraten, indessen Maria zwischen Röte und tiefer Blässe abwechselte; dann fragte er, ob sie nicht gewußt habe, daß Frau v. G. sich gewerbsmäßig mit Ehevermittlung befasse, ob sie den Mörder überhaupt schon gesehen habe.

Tief rot, mit Tränen in den Augen, geneigtem Kopf und stockend erzählte Maria nun, was sie wußte, den Besuch der alten Dame, ihre Vorstellung, daß die Besucherin in Not sei, die Geldsendung und den zweiten Besuch. Der alte Beamte hörte teilnehmend zu und stellte zuweilen Zwischenfragen. Er stellte sie, weil er sie stellen mußte, denn die Gräfin erzählte unklar, aber der Gräfin schien es plötzlich, als glaube er ihr nicht. Am Schluß schrieb er ihre Erklärung auf und las sie ihr vor; da klang sie ihr selber, als wenn sie gelogen sei. Sie sagte bebend: »Aber es ist so, Sie können es mir glauben.« Der Beamte bat sie nur höflich um ihre Unterschrift.

»Muß ich denn öffentlich vor Gericht erscheinen?« fragte sie.

»Ich weiß nicht, was die Herren beschließen«, erwiderte der Beamte. »Ich nehme aber an, daß Sie geladen werden. Sie können versichert sein, daß mit aller Schonung verfahren wird.«

Sie ging verstört nach Haufe. Der alte Diener öffnete ihr und sah ihr Gesicht, sie sah seinen Ausdruck und dachte bei sich: »Er weiß schon, er hat es in der Zeitung gelesen.« Sie ging die Treppe hinauf und dachte: »Nun sprechen sie im Dienerzimmer davon, sie haben ja die alte Frau selber gesehen, ich weiß ja, wie sie sich über den Besuch gewundert haben.« Sie dachte, daß alle Leute in der Stadt die Zeitung lesen, die Geschäftsleute und Handwerker, daß sie sicher dann öffentlich vor Gericht erscheinen mußte.

Es war ein Vorhang mit einer dicken seidnen Schnur hochgebunden. Sie riß hastig die Schnur ab, machte eine Schlinge, band die Schnur am Haken fest, zog die Schlinge über den Kopf um den Hals und ließ sich in die Kniee fallen.


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