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Ein Lumpenhändler in einer großen deutschen Stadt hatte sein Geschäft in einem weiten Raum, der auf den Hof eines von Arbeitern dicht bewohnten Hauses ging. Hier lagen auf der einen Seite die Ballen auf einander geschichtet, wie sie von den Sammlern abgeliefert wurden, in denen alle Arten von Lumpen zusammengeschnürt waren, auf der andern Seite lagen andere Ballen von den verschiedenen einzelnen Arten von Lumpen, denn jede Art hat eine andere Verwendung. Die wollenen werden gereinigt, durch eigene Maschinen behandelt, daß sie sich auflösen, die aufgelöste Wolle wird wieder gesponnen, und es werden billige Stoffe aus ihr hergestellt, die wohl keine Haltbarkeit haben, aber den Arbeitern prunkvoll erscheinen und für eine kurze Prahlerei auf dem Tanzboden und in der Bierwirtschaft gekauft werden. Aus manchen Lumpen wird Papier gemacht, und zwar richtet sich die Güte des Papiers nach der Art der Lumpen; das beste Büttenpapier gewinnt man aus alter Leinwand, aus der allein man früher das Papier herstellte; ein noch sehr gutes Papier ergeben bei den geringern Zuständen von heute die baumwollenen Lumpen; die Seide wird zu besonderen Schmuckpapieren verwendet. Es gibt in den ungeordneten Ballen auch ganze Kleidungsstücke; man sucht sie zunächst aus, denn gelegentlich ist das eine oder andere doch noch für den Althändler aufzubügeln; die meisten werden später zertrennt, damit man die einzelnen Teile von Futter und Oberstoff zu verschiedenen Haufen werfen kann; dabei kommen noch allerhand andere brauchbare Dinge zusammen: Knöpfe, Fischbein, Bleistücke und dergleichen Gegenstände; auch finden sich nicht selten in den Taschen noch vergessene Schlüssel, Bleistifte, Messer, Geldtaschen, Handspiegel oder sonstiges, das Menschen bei sich zu tragen pflegen.
In der Mitte des Raumes saßen im Kreis etwa zwanzig Frauen und Mädchen, jede mit einem großen Ballen vor sich und suchten die Lumpen auf verschiedenen Häufchen zusammen, die sie um sich liegen hatten. Bei der Arbeit entwickelt sich viel Staub und Dunst; deshalb waren die Arbeiterinnen gewohnt, wenn das Wetter es irgend erlaubte, daß sie ihre Stühlchen auf den Hof stellten und dort ihre Arbeit versahen. Da strebten denn an allen vier Seiten die geschwärzten, feuchtklebrigen Mauern in die graue Luft, unterbrochen von den Fenstern, von denen allerhand Kleidungsstücke hingen, die oft zerbrochene und papierverklebte Scheiben hatten, wo auf umgitterten Blumenbrettchen ein kümmerlich verschmutztes Alpenveilchen stand oder eine fast blattlose Myrthe, Geschenke von allerhand Feiertagen, oder Milch in zugedecktem Topf und Speisen, die kühl stehen sollten. Gelegentlich kam einmal eine Schimpferei, ein Weib öffnete das Fenster und beklagte sich über den Schmutz, der von den geschüttelten Lumpen aufstieg, andere Fenster wurden geöffnet und Weiber aus den engen und stickigen Wohnungen hörten zu oder stimmten bei. Die Arbeiterinnen aber erwiderten Nichts und suchten emsig in ihren widerwärtigen Packen; die Arbeit ging in Akkord, und jede verlorene Sekunde war verlorener Verdienst.
Man kann sich vorstellen, daß zu der ekelhaften Arbeit sich nur ein Abhub von Weibern fand. Die meisten waren ältere Personen, die unförmig breitbeinig dasaßen mit fetten Schenkeln, einer Höhlung im Schooß, und hängendem Busen; manche von ihnen mochte in vorigen Jahren als Dirne gegangen sein oder als Kellnerin; einige jüngere Figuren und Gesichter waren zu sehen, grau, schlaff, unfroh und gehässig. Die Bewegungen der Finger und Arme gingen fast maschinenmäßig, die Augen waren auf die Arbeit gerichtet, die in den Schooß gerafft war. Ein großer Teil der Lumpen kommt aus den Schneiderwerkstätten; das sind allerhand kleine Flicken und Schnippsel, wie sie beim Zuschneiden übrig bleiben, nachdem die großen Stücke ausgesucht sind, die zum Ausbessern verwendet werden können oder für allerhand kleine Ware; wenn die Weiber bei solchen Lumpen auf ihr Taglohn kommen wollten, so mußten sie die Finger schon fleißig rühren und durften nicht von der Arbeit aufsehen.
Es war in der Zeit der Revolution und Hungersnot. Die Weiber saßen im Hof, emsig über ihrer Arbeit, an einem Fenster im Vorratsraum stand das Schreibpult des Geschäftsherrn; man sah ihn, wie er schrieb und zuweilen auf den Hof blickte, um die Arbeiterinnen zu beaufsichtigen, denn man kann sich denken, daß sie Dinge etwa, die sie in den Taschen fanden, nicht freiwillig ablieferten.
Das eine der Mädchen hatte wohl die Nacht durch getanzt oder sonst den Schlaf versäumt; ihr Gesicht war noch grauer wie der übrigen, tiefe blaue Ringe waren unter den Augen, und ihre Bewegungen waren sehr matt. Sie saß müde vornübergebeugt, plötzlich sackte sie zusammen und fiel vorwärts vom Stuhl auf den Boden, sie war ohnmächtig. Ihre Nachbarinnen blickten flüchtig nach ihr hin, dann wendeten sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Lumpen im Schooß und das eilfertige Spiel ihrer Hände mit den Flicken und Lappen. Die Ohnmächtige lag, es wurde auch nichts gesprochen, und nur das leise Geräusch des Zupfens und Suchens war. Eine schimpfende Stimme kam von oben aus einem Küchenfenster, die Frauen im Haus hielten sich für Besseres, wie die Arbeiterinnen, die Stimme schmähte, daß sich Niemand um die Ohnmächtige kümmere, die doch auch ein Mensch sei, wenn auch nur eine Lumpenausleserin; die Arbeiterinnen hörten das Keifen wohl, aber sie waren so eifrig in ihrem Suchen und Sammeln, daß sie nicht antworteten.
Durch den Torgang kamen zwei junge Menschen, wohl ein Geschwisterpaar, eine junge Dame von etwa achtzehn und ein Jüngling von vielleicht neunzehn Jahren. Die Beiden waren sehr sauber und anständig gekleidet, man sah auch, daß die Kleidungsstücke einmal von einfacher und vornehmer Kostbarkeit gewesen waren, aber nun war alles verschabt und sorgfältig zurechtgemacht, so, daß man trotz der freien Haltung und der ursprünglich guten Kleider den Beiden doch die bitterste Armut ansah. Der Jüngling trug eine Ziehharmonika, das junge Mädchen eine Geige.
Eines der fetten alten Weiber wendete das gemeine Gesicht den Beiden zu und sagte grob, sie seien selber arm, bei ihnen könne man nicht auf den Bettel gehen. In dem edlen, durch den Hunger schmal gewordenen Gesicht des Mädchens stieg eine leise Röte auf, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie zupfte ihren Begleiter, um ihn zum Fortgehen zu mahnen. Der aber biß sich auf die Lippen, ergriff die Ziehharmonika und begann zu spielen. Das Mädchen bezwang sich sichtlich, nahm die Geige zum Kinn und fiel ein.
Die Beiden spielten das berühmte Largo von Händel.
Bei den ersten Tönen lasen die Weiber weiter aus. Einige Fenster öffneten sich, dann mehr. Als aber die wunderschönen Stellen der Geige kamen, die das junge Mädchen klar und rein vortrug, in welchen eine göttliche Heiterkeit und Sehnsucht sich verbunden haben, daß wir denken mögen, die Tränen des Glücks müssen uns in die Augen steigen, da ließen die Weiber im Hof die Hände sinken und lauschten still, mit gebücktem Kopf, als schämten sie sich ihrer gemeinen Gesichter; die Weiber an den Fenstern lauschten still, und es schien, als ob auch sie sich versteckten; lautlos war es im Hof, und die wundervollen Klänge perlten von der Geige, über welche sich das blasse Gesichtchen beugte.
Das Largo ist eines jener Werke, die so geschlossen sind, daß wir nachher nicht wissen, ob sie lange gedauert haben oder nur kurze Zeit. Ton für Ton lauschten die Weiber, selbst der Mann hinter dem Glasfenster war vom Schreibpult fortgegangen und hatte sich, die Hände hinten unter den Rockschößen zusammengeschlagen, breitbeinig in die Thür seines Lagerraumes gestellt und lauschte. Wie verzaubert war die Stille, und sie währte bis zum Schluß, da senkte das junge Mädchen den Bogen und verneigte sich leicht.
Alle hielten noch still; es war, als ob selbst der Atem zurückgehalten werde. Der Mann in der Thür des Vorratsraumes suchte in seiner Geldtasche und winkte, der Jüngling kam, und er gab ihm ein Geldstück. Einige der Weiber suchten in ihrer Tasche, der Jüngling ging mit dem Hut in der Hand im Kreise und nahm die hineingeworfenen Pfennige mit Dank auf; aus den Fenstern wurde Geld, in Papier gewickelt, geworfen; er sammelte es, und in seiner Verlegenheit eilte er so, daß er Einiges liegen ließ. Dann trat er wieder zur Schwester, die Beiden verbeugten sich und gingen.
Noch immer lag die Kranke auf dem feuchten Boden. Da erhob sich eine Alte und trat zu ihr, zwei andre Alte kamen noch, und so brachten die Drei die Kranke in den Vorratsraum und legten sie auf ein eilig zurechtgemachtes Lager. Der Besitzer trat besorgt neben sie und fragte, ob man einen Arzt holen solle; die Kranke schüttelte den Kopf; die eine Alte beugte sich zu ihr, strich ihr über die Wangen und sprach ihr ein Trostwort zu; dann wurde sie verlegen und ging mit den beiden Andern wieder in den Hof an ihre Arbeit, der Besitzer trat an sein Schreibpult und schrieb; die Kranke lag eine lange Zeit schweratmend da, dann richtete sie sich auf, und dann rief der Besitzer zwei der Weiber, gab ihnen Geld, und trug ihnen auf, die Kranke nach Hause zu bringen.