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In einer kleinen Stadt wohnte ein verabschiedeter Offizier, ein Hauptmann, mit seiner Frau und Tochter. Er verdiente zu seinem kleinen Ruhegehalt noch Einiges, indem er einem wohlhabenden Fabrikanten, der ursprünglich Arbeiter gewesen war, bei seinen Büchern und Briefen zur Hand ging, aber auch so lebte die Familie sehr einfach und bescheiden in vier Mansardzimmerchen und nur mit einer Aufwartung. Es wurde erzählt, der Bruder des Mannes habe ein Gut gehabt, und sei zwar ein tüchtiger Landwirt und fleißiger Mann gewesen, aber er habe nicht kaufmännisch rechnen können und habe deshalb kostspielige Verbesserungen gemacht, die sich auf dem schlechten Boden nicht lohnten, so daß er zuletzt aus Kummer mit einer großen Schuldenlast auf sich gestorben sei; diese Schulden habe der Andere übernommen und sei dadurch selber in seine schwierige Lage gelangt, so daß er sogar vorzeitig seine Laufbahn habe aufgeben müssen.
Als der Krieg ausbrach, stellte sich der Hauptmann gleich zur Verfügung; er erhielt erst einen Posten im Lande, später aber wurde er mit zur Front hinausgeschickt. Er fiel gleich in den ersten Tagen, als er einen verwundeten Feind bergen wollte, der im Stacheldraht vor seinem Schützengraben hängen geblieben war.
Die hinterlassenen Frauen standen ohne Berater in der Welt. Die Mutter, welche kränklich auf dem Sofa saß, nahm die Hände der vor ihr knienden Tochter zwischen ihre gefalteten Hände, blickte in die Höhe, und sagte. »Wir haben noch den Vater der Witwen und Waisen.« Dann schränkten sie sich weiter ein, ein Teil der Möbel in den übervollen Stuben wurde verkauft, es fand sich in einem anständigen Haus eine Wohnung von zwei Zimmern; und nachdem die Mutter dergestalt nun in endgültige Verhältnisse gebracht war, suchte die Tochter für sich eine Stelle in einem Hause, wo sie der Hausfrau zur Hilfe gehen konnte.
Sie fand eine solche in einer großen Stadt bei einem wohlhabenden Kaufmann.
Der Mann hatte ein Geschäft mit Delikateßwaren in einer belebten Gegend der Stadt. Er war ein großer, breiter und starker Mensch, der sehr mit sich zufrieden war, und dem jungen Mädchen immer Ratschläge erteilte in seiner Art, etwa: wenn man jung sei, müsse man sein Leben genießen; die Hauptsache im Leben sei die Grundlage, wenn die Grundlage gut sei, dann gehe Alles glatt; die Standesvorurteile seien überwunden, heute beherrsche der Kaufmann die Welt, er beherrsche sie dank seiner Energie und dank seinem Wissen; man müsse seine Ellbogen gebrauchen im Leben, denn ohne die komme man nicht weiter; die Hauptsache im Leben sei Tüchtigkeit, und wer nicht tüchtig sei, der komme unter den Frachtwagen. – Die Frau pflegte dem Mann nach solchen Reden zu sagen, er sehe doch, daß das Fräulein aus einer gebildeten Familie stamme, und daß sie das alles schon wisse, was er ihr sage; aber der Mann erwiderte dann gewöhnlich, gute Lehren könne man nicht oft genug wiederholen, und das Fräulein sei jung, und junge Leute setzen sich oft falsche Vorstellungen in den Kopf.
Die Frau war eine dicke Person, die von sich sagte, sie esse nicht viel, aber es schlage Alles bei ihr an, es gebe Leute, die sehr stark essen und doch immer mager bleiben. Sie nötigte das Fräulein beständig zum Essen, denn sie fand, daß die zu mager war, und sagte ihr, sie solle sich nur ja nicht zurückhalten, das gute Essen sei da, und sie rechne Niemandem von den Untergebenen nach, was er verzehre, denn das sei unanständig.
Dann war in der Familie noch ein Sohn, welcher die Sekunda der Realschule besuchte und für seine Klasse schon ziemlich bei Jahren war. Auch er erschien rund und wohlgenährt, und die gute Mutter klagte oft, daß es eine Sünde sei, wieviel von den Kindern in der Schule verlangt werde.
Das Fräulein schrieb Viel an die Mutter, erzählte, wie die Leute in ihrer Art gut zu ihr waren, und verschwieg alle Kränkungen, welche sie ihr unbewußt zufügten; sie schilderte, wie glücklich sie sich fühle in ihrer Tätigkeit, wie stolz sie darauf sei, daß sie ihr Brot verdiene und sogar ihrer Mutter etwas helfen könne; und die Mutter antwortete ihr, indem sie ermahnte, sie solle immer mehr tun wie ihre Pflicht, denn nur dann tue man seine Pflicht, und solle immer freundlich und heiter sein, denn nur dadurch könne sie sich dankbar erweisen für alles Gute, das sie in dem fremden Hause genieße. Sie weinte immer, wenn sie einen solchen Brief bekam, denn dann überfiel sie das Heimweh und die Sehnsucht nach der Mutter; der Herr war ärgerlich und erklärte, eine Heulliese wolle er nicht in seinem Hause haben, die Frau verteidigte sie, indem sie sagte, daß sie noch jung sei und zum ersten Male die Heimat verlassen habe, und daß sie ihre Arbeit gut, sauber und geschickt mache.
Eines Abends beim Essen ist der Mann besonders wohlgelaunt. Er erzählt, daß ihm ein Geschäftsfreund telephonisch Fischkonserven anbietet; er erkundigt sich, wie groß der Vorrat ist und übernimmt Alles; dann telephoniert er an die andern Geschäfte in der Stadt und verkauft ihnen das Ganze weiter; er reibt sich die Hände und berichtet, daß er, schlecht gerechnet, seine hunderttausend Mark in der halben Stunde verdient habe. Das Fräulein machte entsetzte Augen; er lacht und sagt: »Ja, das ist der Krieg; die Dummen werden arm, und wer seinen Verstand zusammennimmt, der kann Geld machen. Wenn der Krieg noch ein Jahr dauert, dann habe ich meine drei Millionen herein.«
In diesem Augenblick bringt das Mädchen die Abendpost. Der Mann sieht die Aufschriften flüchtig an und übergibt dem Fräulein einen Brief, der an sie gerichtet ist. Er ist von ihrer Mutter; sie nimmt ihn, und in einem eignen Gefühl der Verlegenheit reißt sie den Umschlag auf und zieht den Brief vor, dann wird ihr das Unschickliche ihres Benehmens klar und sie will den Brief in ihrer Tasche verbergen; sie errötet dabei und ihre Hände zittern. Die Frau hat ihren Gesichtsausdruck bemerkt und stößt mit listigem Blick ihren Mann mit dem Finger an; der sieht auf das Fräulein, deren Röte flammend wird, da sie sich beobachtet fühlt.
Der Mann erhebt lächelnd den Finger und sagt: »Eiei, von wem ist der Brief!« Die Frau lächelt mit, der Mann fährt fort, er habe sich die Aufschrift nicht genauer angesehen, sie sei aber von einer Männerhand geschrieben gewesen. Das Fräulein sieht wortlos auf ihren Teller; der Junge ruft dazwischen, Fräulein bekomme immerzu Briefe; ihr stehen die Tränen in den Augen.
Niemand in der Familie merkt etwas von ihrem Seelenzustand. Der Mann treibt den Scherz weiter und tut, als wolle er ihr den Brief fortnehmen; sie verteidigt sich mit blitzenden Augen; aus dem Scherz wird halber Ernst; die eine Hand hat er fest gefaßt, die andere, welche den geknüllten dünnen Brief hält, sucht er zu erhaschen; da schreit sie plötzlich laut auf, preßt den Brief weiter zusammen und steckt ihn in den Mund.
Die Andern erschrecken, der Mann läßt los, die Gatten rufen aus, sie haben ja nur einen Scherz gemacht; das Fräulein steht aufgerichtet da und macht wunderliche Bewegungen mit den Armen, dann stürzt sie vornüber.
Der Mann erhebt sie und trägt sie auf das Sofa; sie ist dunkelrot im Gesicht und greift mit den Händen nach der Kehle; die Frau stürzt ans Telephon und ruft zitternd und weinend den Arzt an, indem sie klagt, daß sie selber fast ohnmächtig von dem Schreck sei, das Mädchen kommt hereingeeilt, alle bemühen sich um die Erstickende; aber obgleich sie versuchen, was ihnen einfällt, vermögen sie ihr doch nicht zu helfen. Als der Arzt kommt, findet er sie tot vor.