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Das Eisengitter des Kirchhofs war häßliche Handwerksarbeit. Nicht der schüchternste Versuch war gemacht, die Schwere des Materials zu überwinden oder seine Eigenschaft zu neuen kräftigen, selbständigen Formen zu benützen. Wie schön verstanden sie das in den kleinen nordischen Städten, z. B. an den Vorbauten der alten grauen Häuser!
Jens Peter Pronitz konstatierte es mit inniger, herzlicher Befriedigung: der Bürger wurde eben bis zum letzten Schritt unter einer kalten Dusche von Nüchternheit und Häßlichkeit gehalten. Wie konnte da schließlich auch die Flamme des Schönheitsgefühls und der Sehnsucht überhaupt aufflackern?
Und dies war nun seine letzte Wohnstätte.
Wie weit entfernt war dies Bild von den Träumen der Jugend: »In Schönheit sterben, mit Weinlaub im Haar« – Ach, auch das war verbraucht. War zur Kulisse geworden. Nur neurasthenische Melancholiker wurden bei dem Gedanken weich.
Nein, nein, es war gut so: der Wirklichkeit in das Auge sehen, bis zuletzt! Sie sollten nicht sagen, daß er feige vor ihr geflohen war und sich in einem weihrauchduftenden Traum versteckt hatte.
Wie geschäftsmäßig das hier alles war! Er las die Aufschriften an den großen Tafeln, die wie Warnungstafeln aussahen. An jeder Wegkreuzung, die einen Gräberblock abgrenzte, stand eine.
»Erstes Quartier. Große Leichen, von Nummer 1 bis 221.«
Hier wurde man numeriert. Und wenn der Tag der Auferstehung kam, den Pastor Felke in Hamburg mit so drastischer Anschaulichkeit zu schildern verstand? Wenn die Posaune, die berühmte Posaune des jüngsten Tages erklang? Dann rief der Erzengel Gabriel: »Nummer zweihundert, kommen Sie mal her! Lassen Sie sich mal gefälligst wiegen. Sie scheinen mir zwar so wie so ein arger Sünder zu sein. Aber hier geht es kulant zu. Jeder kommt zu seinem Recht. Auf Gramm und Milligramm.«
Ja, ja, das war die Gleichmacherei. Die Titel auf den Grabsteinen – sie waren alle sehr ausführlich – las er gewiß von seiner Höhe aus nicht. Er konnte auch wohl nur Hebräisch, der gute Gabriel.
Da war die Abteilung für Kinder. Lauter kleine Maulwurfshügel, meist eingesunken und wild überwuchert von dunklem Epheu. Nur auf einigen standen kleine geschmacklose Engel mit dummen Gesichtern und gefalteten, unmöglich langen Händen. Den meisten Gräbern merkte man es an, daß sie schon von den Eltern vergessen waren. Hier fehlte eine Tafel mit dem Wort der alten Griechen, die die guten Lebenskenner waren: »Früh stirbt als Knabe, wen die Götter lieben.«
Wie leicht hatten die es sich und den Ihren gemacht!
Und den Göttern!
Von der Straße her klang der Rhythmus der Steinklopfer. Es gab jedesmal, wenn der eiserne Stampfer auf die Kopfsteine aufschlug, ein grell-klirrendes, stimmung-zerreißendes Ping-Pang-Ping – Ping-Pang-Ping – –
»3. Quartier. Erwachsene. Nummer 874 bis 476.«
Die Gärtnermädchen, die die Wege säuberten, lachten herüber. Vielleicht hatten sie sich gerade etwas vom gestrigen Tanzboden erzählt.
Der Wind rauschte in den dürren Zweigen. Und jedesmal klang es, als regnete es.
Eine Diakonissin stand an einem Grabe und ordnete die Herbstblumen darauf. Ihr Gesicht war hübsch und regelmäßig. Die dunkle Haube rahmte es kokett ein. Sie stand da, als ob sie in dieser Pose photographiert werden sollte –
Als Pronitz weiter nach oben schritt, wo der neue Teil des Gräberfeldes lag, sah er ein Veilchensträußchen mitten im Wege liegen. Es mochte aus einem Kranz gefallen sein. Er hemmte den Schritt und hob es auf.
Da durchzuckte es ihn.
Es kam ein Frühling mit brechenden Knospen, zwitschernden Vögeln, bunten Schmetterlingen, klopfenden Herzen – und er sah ihn nicht mehr–… Es kam ein Sommer mit farbigen Gärten und lauen Winden, die Rosenduft mit sich trugen – und er begrüßte ihn nicht mehr–… ein Herbst kam mit reifen Früchten, die in dichtes Gras lautlos fielen – ein Winter mit Silberkristallen an den Bäumen und unsinnig frohem Kinderlachen – und er sah das alles nicht.
Ein Sonnenstrahl schob sich auf einen Augenblick durch die Wolkenmasse und warf einen goldenen Streifen quer über den Weg.
Dem Einsamen wurde das Gehen schwer.
Er ließ sich auf eine Bank nieder, die im dichten Gestrüpp stand. Die Erinnerung an alles, was ihm bisher begegnet war, drängte sich ihm auf. Und er sah nur Böses, Häßliches, Feindliches.
» L'amour qui tue–…«
Regine Luther, du mit dem Ebenholzhaar, mit dem Gesicht, wie aus Elfenbein, mit dem Herzen aus Holz, du Schöne, Ferne, Kalte! –
Lucy, du – nein, du sollst nicht bei mir sein in dieser Feierstunde!
Du nicht und niemand –
Er nahm die Waffe hervor und lud sie langsam und umständlich und nahm alle sechs Patronen, als hätte er sich gegen Feinde zu verteidigen.
Du nicht und niemand –
Niemand?
Er zog aus der Brusttasche ein an seine Schwester Hella adressiertes Kuvert. Darin lag sein letztes Porträt – die Bleistiftskizze, die Martin Melcher mal bei Grau gemacht hatte. Auf der Rückseite ein Kreuz und das Datum dieses Tages und die Worte: »Nicht weinen, meine littje Sötte!« Es war das Kosewort aus ihren Kindertagen. Ob sie sich dessen noch erinnerte? Es war doch schon so lange, lange her. Sie hatte es sicher schon vergessen.
Ach, es war ja gleichgültig – bekommen sollte sie es jedenfalls. Hastig legte er den Veilchenstrauß dazu und schloß den Umschlag.
Als er aufstand, ging eine Frau an ihm vorbei. So dicht, daß ihr Kleid ihn streifte. Sie entschuldigte sich bescheiden, und er sah dabei in ein altes, runzliches Gesicht, um das ein schwarzer Kreppschleier wehte. Sie trug einige lose, billige Blumen in der Hand; die Stiele waren in Zeitungspapier gewickelt.
Der alte Kirchhofsgärtner grüßte sie wie eine alte Bekannte, und sie sprachen einen Augenblick miteinander.
Mit plötzlich erwachtem Interesse folgte ihr Pronitz mit den Blicken. Sie ging in die zweite Reihe und blieb an einem Grab stehen, das mit peinlicher Sauberkeit gepflegt war.
»Kennen Sie die Dame?« fragte er den Gärtner. »Sie kommt mir so bekannt vor.«
Er log. Er hatte sie nie gesehen.
Es war eine Frau Riedel, Witwe, die ihre Tochter, ein hübsches, bescheidenes, begabtes, neunzehnjähriges Mädchen, verloren hatte. »Ich weiß es, weil wir früher zusammen im selben Haus gewohnt haben. Wissen Sie, ich hatte damals noch ein eigenes Geschäft in der Stallstraße. Aber es ging nicht.«
»War sie nicht brünett?«
»Die Sophie? Ja, natürlich. Und was für ein Haar sie hatte! Und so verständig. Nie auf Tanzböden und so. Man kann den Schmerz eines Mutterherzens begreifen, mein Herr. Ach ja!«
»Sie war doch im Geschäft, nicht wahr?«
Nein. Sie sollte erst später gehen. Sie nahm Stenographie- und Buchführungsstunden in der Handelsschule, und eines Abends, an einem regnerischen Tag, kam sie erkältet nach Hause, legte sich hin, lag drei Monate und war vor vier Wochen hier »bestattet« worden.
Er sagte »bestattet«. Er sprach es wie ein Pastor aus.
In Jens Peter Pronitz wachte der Dichter auf. Die kleine braune Sophie, die ihm im Leben nie begegnet war, war ihm mit einemmal lebendig. Sie wurde mit langsamer, wachsender Konzentration ein Stück seines Lebens, ein Teil des Hoffens und Träumens, das nun hinter ihm lag–…
Ja, sie war ihm zur Seite gegangen. Sie hatte ihn vielleicht geliebt–… Still, fest, mit jenem heiligen Eigensinn, der diesen herben, verschlossenen Mädchen eigen ist. Vielleicht hatte sie vor seinem Fenster gestanden–… und auf ihn gewartet in Regen und Wind–…
Und er war vorbeigegangen, wie man eben an Tausenden vorbeiging, ohne zu ahnen, daß hier – hier – das Glück war, das bereit war, ihn in feste, warme Arme zu nehmen und ihm, dem Friedlosen, Frieden zu bringen.
Und jetzt rief sie ihn!
War es nicht tiefster Mystik voll?
Sie hatte gewußt, wie einsam er immer gewesen war – o, so einsam, daß er sich nach dem Bellen eines Hundes gesehnt hatte – –, und sie sagte nun mit Tapferkeit und Milde: »Komm zu mir! Bette dich zu mir, der Reinen. Ich will nicht einsam sein, und du sollst es auch nicht. Komm zu mir, Jens Peter! Vielleicht ist das alles nur Schlaf, was man ›Tod‹ nennt, und im Moment des Erwachens sagen wir es uns offen und feierlich, wie wir uns geliebt haben – –«
Ja, so war es. Er starb nicht allein. Er vereinte sich mit der kleinen Sophie.
Schnell ging er zum Gärtner zurück, kaufte einen Kranz und ging eilig zu dem neuen Grabe, an dem die alte, kleine Frau kniete.
Bei seinem Näherkommen stand sie auf und glättete ihren Rock, auf dem ein Sandstreifen zu sehen war.
Er legte den Kranz nieder und sprach schnell und hastig: sie erlaube wohl, daß er der kleinen Sophie diese letzte Ehrung erweise. Er habe es erst heute erfahren. Er sei so betrübt darüber. Denn er habe die Sophie sehr geliebt.
»Sie haben meine Sophie gekannt??«
»Auf dem Weg von der Handelsschule sind wir uns begegnet. Ja. Ich werde sie nie vergessen.« Die alte Frau sah ihn zärtlich an und strich ihm scheu, beinahe schüchtern über die Wange. »Erlauben Sie schon, daß ich das tue. Sie müssen ein guter Mensch sein.«
»– gewesen sein,« wollte er verbessern. Aber er ließ es.
Noch war er ja.
Er nahm nur ihre Hand, die in einem vielgestopften Handschuh stak, und drückte sie fest.
»Haben Sie Sophie oft getroffen?«
»Oft? Ach nein. Oft nicht. Nur –«
Und nun spielte er eine ganze Komödie vor sich selbst und vor ihr und wurde warm bei seinen eigenen Worten. Er sah nicht mehr die alte Frau, auf deren Gesicht ein stilles Leuchten lag – er sah jetzt wirklich das blasse Kind mit dem vollen, braunen Haar – –
Wie reich war er doch! Er schmückte das kleine Schreibmaschinenfräulein, das da unten verweste, mit Diademen und Kronen und Perlengehängen, umwand es mit Purpur und köstlicher Leinwand, erhob es auf einen Thron, der aus einem einzigen Amethyst geschnitten war, und setzte ihm ein Goldkrönlein auf.
Er hatte sie getroffen. Natürlich. O, und sich tagtäglich nach ihr gebangt. Und einmal – einmal! – hatten sie sich geküßt. Im Park von Charlottenburg. Am Teehäuschen. Der Jasmin duftete, und die Nachtigallen schluchzten–…
Was diese Frau Riedel für eine gelbe Farbe hatte, was für Runzeln und Falten sich in das Gesicht eingegraben hatten! Eine ganze Landkarte. Oder eine vom Mars. Ja, richtig vom Mars. Eine mit den verrückten Doppelkanälen.
Wie das Leben doch stempelt, wie es brandmarkt! Jeder Wunsch, jede Lust, jedes Lachen, jedes Weinen, ja, jedes Weinen wurde hier dreingeschrieben.
Die alte Frau stand tränenüberströmt da und drückte ihm die Hände.
»Lassen Sie mich für heute. Ich muß gehen. Aber ich treffe Sie wohl öfter hier?«
Er müsse leider verreisen. Dringend. Und ziemlich weit fort.
»Das ist schade. Aber ich bin jeden Tag zu dieser Stunde hier. Ich warte auf Sie!«
Jeden Tag zu dieser Stunde! Sie würde an ihn denken. Jeden Tag zu dieser Stunde!
Wer aber noch? Wer noch?–…
Aber was ging ihn das an? Fort, Phantome!
Die Wahrheit war hier unten bei der kleinen Sophie: die Wahrheit, die Zukunft, die Vollendung.
»Also, wir treffen uns schon noch einmal,« sagte sie mit ihrer zitternden Stimme und ging dann langsamen, schweren Schritts fort durch die Gräberreihen.
Ihr schwarzer Kreppschleier verfing sich in einen kahlen Rosenstrauch. Als sie ihn abriß, blieb ein Stückchen davon an den Dornen hängen.
Das flatterte nun im Winde, wie eine winzige schwarze Fahne–…
Als der Schuß knallte, flatterten ein paar Vögel, die sich im Taxusgebüsch geborgen hatten, ängstlich aus ihrem Versteck hervor, in den Herbsttag hinein.