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Der kleine Schulsaal war überfüllt. Man hatte anfangs nur die Besucher eingelassen, die auf ihren Namen ausgestellte Eintrittskarten vorzeigten. Aber der Andrang war so stark, daß die Kontrolle unmöglich wurde. Man mußte noch zwei durch Schiebetüren mit der Aula verbundene Zimmer hinzunehmen.
Kleemann schwamm in Wonne. Er hatte sich in einen etwas ausgewachsenen Frack gezwängt, dessen Nähte grau aussahen.
Immer wieder trat er an Ibo Kay, Pronitz oder einen anderen des Kreises heran: »Es wird ein Erfolg, Menschenskind! Habe ich's nicht gleich gesagt? Ein Bombenerfolg!«
Zelewski sagte dann nur: »Na, na.« Ihn wurmte es im stillen, daß ihn niemand zu einem Vortrag aufgefordert hatte.
An allen Wänden hing das Plakat, das Martin Melcher entworfen hatte. Eine wuchtige Glocke in sattem Patinagrün auf hellgrauem Grunde. Daneben und quer hindurch die Buchstaben in flammendem Gelb.
Zelewski vermißte eine Person darauf–… Einen Türmer oder eine Art weiblichen Genius!
Aber Pronitz, der was von Malerei verstand, war enthusiasmiert und beglückwünschte den Freund.
Melcher hatte auf dies Plakat hin, das auch – verkleinert – an den Litfaßsäulen geprangt hatte, mehrere Plakataufträge bekommen. Für eine neuerfundene Wärmflasche und ein Patent-Bettgestelle. »Die Sache macht sich,« sagte er händereibend. »Es kommt Geld ins Haus.«
Er sagte es leise. Denn Ibo Kay war auf das Podium getreten.
Er sprach einige Begrüßungsworte und erteilte »unserem edlen Mitkämpfer, Herrn Edgar Schönbeck« das Wort.
Schönbeck besaß einen schöngepflegten Vollbart, der ihm einige Ähnlichkeit mit Sudermann verlieh, eine Ähnlichkeit, mit der er gern kokettierte.
Er sprach langsam mit erzwungener Nonchalance, in Wirklichkeit von der Bedeutung eines jeden Wortes fest überzeugt und jede neue klangvolle Wendung mit einer graziösen Handbewegung gleichsam unterstreichend. Seine Hände verrieten dann jedesmal die sorgsame Pflege der Manikure.
Pronitz, der sehr aufmerksam zuhörte, wunderte sich, als ihm einige der mit besonderer Verve hingeworfenen Sätze merkwürdig bekannt vorkamen.
War das nicht Carlyle? Und das nicht Tolstoi? Und Multatuli? Und in Prosa übersetzter Grabbe? Und Emerson? Und Nietzsche? Und Börne?
Die Elite der Weltliteratur trat in die Arena. Nur Rabelais fehlte–…
Aber warum kamen diese Herren nicht in der ihrer Stellung angemessenen Offenheit und stellten sich vor: »Mein Name ist soundso?« Warum kamen sie alle als Edgar Schönbeck?
Es war ein Maskenball ohne Demaskierung.
Er sprach eine ganze Stunde.
Der Beifall kam sturzbachartig und schien ihn durch seine Intensität zu überraschen. Er ließ ihn aber mit feinem, weltmännischen Lächeln über sich ergehen.
Lucy war von ihm entzückt. Nein, wie elegant und vornehm er war!
Da auf eine Diskussion verzichtet wurde, begann der zweite Teil des Abends.
Eine schlanke, feine Brünette mit einem kleinen Teufelskopf sang mit schöner Altstimme zwei Lieder von Weingartner.
Eggert trat aufs Podium und las Pronitz' »Disputations-Legende«. Der heilige Rufinus und seine Kollegen geraten in ihrer Chornische in einen erregten Disput und werfen einander die Heiligenscheine zornig an die Köpfe. Einer davon trifft den eingeschlafenen wachehabenden Mönch – –
Ein Violinist spielte die Romanze von Svendsen und gab etwas von Smetana zu.
Als Jens Peter danach zu Lucy trat, saß gerade Eggert auf seinem Platz und erzählte ihr in jenem Flüsterton, den man meterweit hört, daß »Ibo Kay« nur eine Umkehrung von »Jakobi« wäre. »Statt des J ein Y – so kommt es raus.«
Der Lyriker kam und trug seine Verse vor. Er erntete den stärksten Beifall, weil doch etwas Bildung dazu gehörte, sie zu verstehen. Und zumal die neueste Bildung: Renaissance-Bildung. Man stand ja mit Verrocchio, mit Bruder Angelico und Giorgione auf Du und Du.
Die Verse waren von einer schillernden Eleganz. Sie schillerten so sehr, daß man keine Konturen mehr sah. Es gab da keine Ecke, an der man sich stoßen, aber auch keine, an der man sich halten konnte. Man griff nichts. Es entglitt alles den Händen.
Man glaubte, sie schon irgendwo gelesen zu haben – trotz der verwegenen Reime, die des Lyrikers Spezialität waren und seine Originalität darstellten. Der Geruch von Männerblut und Weiberfleisch, der Firnisduft frischer Botticelli-Bilder und Weihrauch aus Fra Bartolomeos Zelle, der aus den Versen aufsteigen sollte, wurde von einem faden Mille-Fleurs-Parfüm erstickt.
Aber sie entfesselten einen Beifallssturm, der ihn nochmal auf das Podium schleuderte.
Er trug im ganzen zwölf ziemlich umfangreiche Gedichte vor.
»Hört er schon auf?« fragte Fresenius seinen Nachbarn Zelewski. »Schade! Ich hatte mich gerade daran gewöhnt.«
Dann aber ging er zum Lyriker und fragte ihn, ob er schon einen Verleger für seine wunderbar ziselierten Verse habe. Er sagte »wunderbar ziseliert«.
»Ich verhandle noch.«
»Darf man fragen, mit wem?«
»Mit Medem in Zehlendorf.«
»Mit Medem??«
Fresenius zog ein mitleidiges Gesicht, das den Lyriker einen Augenblick kränkte, und zuckte die Achseln. Dann überließ er ihn, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, seinen Verehrerinnen.
Jens Peter beugte sich zu Lucy: »Hast du das erste wiedererkannt? Ich zitierte es dir neulich, als wir im Café saßen. Botticelli! Weißt du noch?«
Ihre Gedanken waren offenbar wo anders. »So? Ja weißt du: du deklamierst mir so viel vor, daß man unmöglich alles behalten kann.«
Eggert lachte ein kurzes Lachen.
»Sie sind wohl so 'ne Art Blitzableiter für die poetischen Ausbrüche des Kreises?«
»Blitzableiter ist gut. Wie findest du das, Jens?«
»Wundervoll,« sagte er höhnisch. Etwas in ihm kochte auf, und er wußte sich doch keine rechten Gründe dafür zu geben.
Sofort erkannte sie seine Stimmung.
Sie stand auf und hing sich an seinen Arm. »Komm hinaus, bitte! Ich möchte mit dir allein sein.«
Zum ersten Mal empfand er ihre Berührung als peinlich und unangenehm. Beinahe als widerlich.
Draußen, vor der Türe, mitten auf dem Trottoir, hob sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn.
Der Kuß war brennend heiß und brachte sein Blut zum Sieden.