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Der Kellner glitschte ein wenig auf dem glattgebohnerten Fußboden aus, so daß etwas vom Kaffee überschwappte und auf den Anzug von Jens Peter Pronitz spritzte.
»Tölpel,« sagte der.
Als er aber in die müden Augen des überarbeiteten Menschen vor sich sah, in denen kein Ärger, sondern nur eine verzagte Gleichgültigkeit zu lesen stand, tat ihm seine Übereilung leid. Und er beschloß, sich nachher beim Weggehen bei dem Manne zu entschuldigen.
Während er das Zuckerstückchen langsam zerrührte, überlegte er, wie er eigentlich zu seiner verärgerten, nervösen Stimmung gekommen war. Gewohnt, seinen Gedankenapparat jederzeit zu kontrollieren und auf seine Leistungen zu prüfen, sah er schnell nacheinander die Stationen des heutigen Tages an sich vorbeiziehen. Mit derselben Gleichgültigkeit, mit der man auf langen Bahnfahrten im Schnellzug die Namen der kleinen Eisenbahnstationen an sich vorbeisausen und entgleiten sieht. Da wären wohl überall Entwickelungsmöglichkeiten. Gewiß. Aber es interessiert einen nicht: man hält dort nicht an. Man hat dort so gut wie gar nichts zu suchen.
Da kam zuerst ein Brief von zu Hause. Der Neujahrsbrief. Nicht von seinen Eltern. Seine Schwester hatte heimlich an ihn geschrieben und eigentlich nichts anderes zu erzählen gewußt, als daß ihre Freundin Regine Luther nächstens eine Reise nach Italien mache. Sie hätte eigentlich mit sollen. Aber Papa war immer so unwirsch, daß sie sich gar nicht getraute, ihn zu fragen.
Wie dumm war das! Sie hatten das Geld scheffelweise und gönnten es sich und ihrem Kinde nicht, den gelblichen Nebel Hamburgs mit dem blauseidenen Himmel über Neapel und Florenz zu vertauschen! Und das Ungeschriebene zwischen den Zeilen, das ihn aufdringlich fragte: hast du denn als Poet Erfolge und willst du nicht lieber Papa zuliebe auf den Kontorbock steigen?
Dann war da das Gezweifel über die Geberin des Weihnachtsbaums. Das Geheimnis reizte ihn. Es hätte ihn noch mehr gereizt, wenn die Sache geschmackvoller gewesen wäre. Aber die bunten Dinger am Baum waren bei Tage von zu gemeiner Farbe. Selbst Fritz hatte sie nicht essen mögen: soviel Gips war darin. Wer war er denn, daß sich jedes Milchmädchen erlauben durfte, ihn mit solchen Albernheiten zu regalieren? Sah er so aus?
Dann war das Klavierspiel aus dem unteren Stock gekommen: anstatt an Couplets, zu denen man prädestiniert war, hatte man sich an Nicolais »Lustigen Weibern« versündigt. O, es war zum Verzweifeln gewesen!
Und dann –
Er kam nicht weiter im Grübeln.
Eine dickfleischige, schwer beringte Hand fuhr ihm zwischen Tasse und Gesicht.
»Guten Tag, Herr Fresenius! Gott sei Dank!«
Leo Fresenius trat einen Schritt zurück.
»Gott sei Dank?« Das ist verdächtig. Ich habe aber wirklich bloß noch zwei Mark bei mir und überlegte eben, ob ich meiner Gattin ein Stück Pflaumentorte kaufe, die sie mit unbegreiflichem Behagen genießt, oder ob ich mich in den Pfuhl der Genußsucht stürzen und eine Grande Weiße zu mir nehmen sollte, – da sah ich Ihre blonde Dichterschönheit am Fenster.«
Fresenius nannte sich auf seinen Visitenkarten »Buchhändler«. Warum, wußte keiner recht. Es umschwebte ihn aber – vielleicht gerade deshalb – ein gewisser Nimbus.
»Ich bestelle erst nachher,« sagte er zu dem Kellner, der sich sofort zurückzog. »Haben Sie Kleemann schon gesprochen?«
»Nein.«
»Da kann ich Ihnen also die große Neuigkeit verkünden, die Ihr Herz in Wallung bringen wird. Hören Sie nicht Zukunftsstimmen in der Luft? Es stehen große Dinge bevor, Dichtermann!«
»Sprechen Sie Deutsch!« bat Pronitz.
»Kleemann will einen Vortragsabend von den Mitarbeitern der Glocke veranstalten.«
»Einen Vortragsabend?«
»Ja. So was schmeißt 'nen Haufen Geld, mein Bester, wenn man's richtig anfaßt! Sie sollen natürlich auch ran.«
»Ich kann aber gar nicht vortragen.«
»Dann mieten wir Ihnen eben eine Posaune, ein Mundstück.« Fresenius liebte solche Vergleiche. »Irgend ein Schauspieler-Eleve macht es und küßt noch die Hand dafür.«
»Aber er kann doch nicht meine fünfaktigen Dramen vorlesen.«
»Gott, seid ihr Dichter schwerfällig! Wenn euch nicht ein praktischer Mensch unter die Arme greift, modert ihr im Rinnstein. Haben Sie auf Ihrer Leier nur diese eine schlotternde Saite? Haben Sie nie zum Preis der Vielgeliebten Verse verübt? Sonne – Wonne – Brust – Lust – na?«
»Gedichte – nee, da laß er lieber 'ne Novelle von mir vorbringen.«
»Auch gut.«
»Oder halt! Ich hab's: ein paar Aphorismen aus meiner ›schwebenden Kugel‹.«
»Was ist denn das?«
»Begreifen Sie nicht? Gott, wie umständlich! Das Symbol des Zufälligen, des Unberechenbaren, dem wir alle unterworfen sind.«
Fresenius winkte enttäuscht ab. »Ich weiß schon: der philosophische Jongleur in der Westentasche – oder: wie werde ich in vierundzwanzig Stunden verrückt? Das ist sicher zu geistreich. Und man muß Leute, mit denen man Geschäfte machen will, schonend behandeln. Na, wir werden schon einig werden. Wenn wir bloß einen Musiker hätten! ›Ziderimzimzim‹ muß unbedingt sein. Unbedingt.«
»Melcher kann ja harfen.«
Fresenius brummte etwas, was keine Schmeichelei für den Maler war, und fuhr dann unvermittelt fort: »Sagen Sie mal: was kriegen Sie eigentlich für Ihre Skizzen in der Glocke?«
»Honorar?«
»Ja.«
»Gar keins.«
»Gar keins? Warum arbeiten Sie denn da?«
Sein ratloses Erstaunen amüsierte Pronitz. »So was können Sie sich wohl gar nicht vorstellen?«
Fresenius wurde böse. »Ich kenne auch Idealismus und bin zu manchem fähig. Aber was zuviel ist, ist zuviel – Dieser Gauner, der Kleemann!«
»Mir hat er gesagt, er verdiene kaum das Papier an dem Blatt.«
»Tausende verdient er, Tausende. Liegt es nicht in allen Kiosken, bei allen Händlern, auf allen Bahnhöfen aus? Ist es nicht bereits dreimal konfisziert worden? Papier und Druckerschwärze fällt bei seinen vielen Druckgeschichten ja doch nebenbei ab, wie die Wurst beim Schweineschlachten – – Und kein Honorar! Aber das muß anders werden. Ich werde dafür sorgen, daß es anders wird. Fresenius kontra Kleemann. Ihr werdet staunen. Ich drücke ihn an die Wand, daß er quietscht.«
»Bravo. Meinen Segen haben Sie.«
»Ich schreibe Ihnen, wann wir ihm gemeinsam auf die Bude steigen.« Er setzte seinen Hut schief auf, kniff seine Augen ein und fragte: »Wissen Sie, welches Geschäft die Berliner Damen am liebsten haben?«
Pronitz war aber nicht in der Stimmung, seine gefürchteten Wortspiele anzuhören, und erklärte, keinen Wert auf die Kenntnis dieser Tatsache zu legen.
»Schade! Ich wollte mir einen guten Abgang sichern.«
»Bleiben Sie doch noch.«
»Die Frau wartet.«
»Ach, die Frau!«
»Lästern Sie nicht! So was rächt sich. Auf Wiederschaun!«
Es war zu ärgerlich. Alle waren sie beschäftigt. Und alle mit Weibern. Selbst Zelewski widmete sich heute seiner Frau. Der Lyriker stieg irgend einer Bürgergans nach oder simpelte gar im Westen Familie – pfui Deubel! Melcher war wohl mit einem Modell zusammen – wenigstens war er vorhin nicht zu Hause gewesen.
Es war die reine Epidemie.
Was blieb da für ihn übrig?
Er zog wieder den Brief hervor, den er heute bekommen: »Seit heute weiß ich, daß Sie der Dichter sind, dem ich so oft in der Glocke begegnet bin. – Darf ich Ihnen nicht einmal im Leben begegnen? Gesehen haben Sie mich schon oft. (In einem Geschäft – ich sage aber nicht in welchem.) Ich bin morgen von vier bis einviertel fünf Uhr Königskolonnaden. Erkennungszeichen: in der linken Hand das neueste Heft der Glocke. Auf Wiedersehn? Lucy Valentin.«
Daß sie ihren ganzen Namen hingeschrieben hatte, gefiel ihm am besten.
Es war gewiß das schwarze Fräulein aus dem Papiergeschäft, die die Schreibmaschinen-Arbeiten machte.
Ob sie es war, die den Baum geschickt hatte?
So sentimental sah sie doch nicht aus? Aber in dieser Zeit wurden sogar die Kaninchen gemütskrank – –
Fünf Minuten vor vier? Da war es ja eigentlich Zeit zu gehen.
Als er beim Zahlkellner die Rechnung beglich, wünschte er den Revierkellner zu sprechen.
»Beschwerden nehme ich entgegen.«
»Ich will mich auch nicht beschweren. Im Gegenteil.«
Der Kellner kam.
Pronitz lüftete höflich den Hut und entschuldigte sich umständlich und verlegen.
Der Kellner sagte nur devot: »Gewiß, gewiß, mein Herr!« Seine müden Augen sahen über ihn hinweg.
Als Pronitz hinausging, hatte er das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben.