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Isolde Kraatz lag auf dem Diwan und zählte die Stuckarabesken der Decke. Zwischenein versuchte sie, den Rauch ihrer Zigarette in Ringen aufsteigen zu lassen und durch diese Ringe andere, kleinere hindurchzuschnellen. Es war dies eine geheime Kunst, von der ihr Mann nichts ahnte, und sie besaß darin eine gewisse Virtuosität.
Aber heute glückte es nie. Sie war wohl zu nervös.
Es dämmerte.
Sie hörte oben in ihres Mannes Arbeitszimmer die Uhr schlagen. Die hohe, englische Uhr in dem dunklen, seltsam verschnörkelten Gehäuse.
Da saß er oben über die dummen Bücher gebeugt, über die großen Bogen voller Zahlen und Berechnungen, die nichts bewiesen und keinem nützten. Da saß er oben, der Wissenschaftler, und ließ sie hier allein.
O, es war nicht gut, daß er sie allein ließ. Denn draußen wellte der Sommerwind über die Ähren. Und ihr Blut war heiß wie die Sonne. Und sie war fünfundzwanzig Jahre–…
Sie erhob sich, ging im Zimmer umher, rührte hier an die Portiere, knipste da ein Stäubchen ab, das sie gar nicht sah, und spiegelte sich in dem buckeligen Messingschilde des Kerzenblenders, der ihr Gesicht in grotesken Verzerrungen zurückwarf. Sie schnitt Gesichter und freute sich diebisch darüber.
Aber auch das war nicht von Dauer.
Sie kauerte sich wieder auf den Diwan zurecht.
Sie dachte an die närrische Blechmusik neulich in Tegel. An die kleine schnaufende Bahn, die sie neulich von Schulzendorf aus benützt. An Martin Melcher. An die Bilder in der Sezession. An den neuen Hut, der so einfach war und ein Heidengeld gekostet hatte. An die geplante Landpartie mit dem Bekanntenkreis. An Martin Melcher. An das Renaissancebuch, das Marcuse und Pronitz ihr mit gleichem Eifer empfohlen hatten. An Martin Melcher – Nein, Unsinn, sie dachte ja überhaupt nur an Martin Melcher.
Wie war es doch gestern gewesen? Mit aller Anstrengung konzentrierte sie ihre Gedanken, ihre Phantasie, bis sie das Erlebnis in allen Einzelheiten wieder erlebte.
Sie waren beide zufällig den anderen um paar Schritte vorausgegangen. Als sie um die Ecke bogen, blieb Martin Melcher stehen und küßte sie auf den Nacken, gerade da, wo die Härchen ansetzen. Sie spürte noch das erregende Kitzeln seines Schnurrbarts auf ihrer Haut.
Sie sah ihn zuerst sprachlos, verdutzt an. Und hörte seine heißen Worte: »Sie sind ja viel zu schade für alle diese Leute.«
Da erst nahm sie sich zusammen und sagte kühl, jawohl, mit verletzender Kühle: »Sie vergessen, daß ich verheiratet bin.«
Sie glaubte, ihn niedergeschmettert zu haben. Aber als sie ihn verstohlen auf die Wirkung ihrer Worte hin ansah, sagte er, der wohl einen Blick aufgefangen hatte, während die anderen schon wieder dicht hinter ihnen waren: »Das tut nichts, eifersüchtig bin ich nicht – –«
Es war doch sehr dreist gewesen. Sehr dreist, aber auch sehr nett.
»Sie sind ja viel zu schade« – sie wiederholte jetzt immer nur dies. Sie badete sich in diesen Worten.
War sie wirklich so schön, daß sie diesen stillen, kühlen Menschen zu solchem Wagnis hatte verleiten können? Daß sie diesen ruhigen See zu starken Wellen aufzupeitschen vermochte – nur dadurch, daß sie da war? Daß sie nur durch ein hingeworfenes Wort, durch einen halben Blick einen wilden Scirocco entfesseln konnte?
Ach, es war doch schön, solche Macht zu besitzen!
Im Moment des Triumphes ergriff sie die Angst–… Eine kindische, bebende Angst.
Was würde nun kommen??
Denn dabei blieb Martin Melcher nicht stehen. So sah er nicht aus.
Und konnte sie eigentlich noch zurück? Nein, nein!
Und – hinge sie ihm einmal am Halse, würde sie nie von ihm lassen können. Nein, in Zeit und Ewigkeit nicht.
Sie fieberte förmlich. Die Tränen traten ihr in die Augen. Sie sang gedankenlos vor sich hin. Immer paar Takte. Immer dieselben dummen Töne. Dann brach sie jäh ab, sprang auf und ging ans Fenster.
Aber als sie hinaussah, erschrak sie so, daß ihr die Knie zitterten und sie fast zusammensank.
Drüben, im dunklen Wald stand Martin Melcher. Ganz vornean. Er sah starr herüber. Seine Zigarre leuchtete auf und erlosch. Leuchtete auf und erlosch.
Warum grüßte er nicht?
Wie dumm!
Er konnte sie, die im halbdunklen Zimmer stand, natürlich nicht sehen. Sie preßte ihr Gesicht an das Fenster.
Nun? Nun? Er grüßte – er winkte – er schrie: »Komm zu mir! Ich bete dich an. Ich verzehre mich nach dir – –«
Nein, ach nein! Er stand starr wie vorher in dem dunklen Wald. Seine Zigarre leuchtete auf und erlosch. Leuchtete auf und erlosch.
Die glühenden Funken brannten in ihr Herz und Hirn hinein.
Sie mußte – ja, sie mußte zu Ferdinand hinaufgehen und ihn bitten – ja, was? Ja, zu ihr zu kommen. Oder sie bei sich zu lassen. Ja, oder den dort fortjagen zu lassen.
Und während sie sich die Folgen solcher Mahnung mit kribbelnder Neugier ausmalte, spürte sie, wie sich von der Seele des Mannes da draußen Fäden um ihre spannen, in denen sie sich verfing, die sie hinüberzerrten, hinunterzogen – in den Wald hinein, der schwer und stöhnend rauschte.
O Gott, hilf!
Sie lief zum Zimmer hinaus, die Treppe empor und trat in das Arbeitszimmer ihres Mannes, ohne zu klopfen.
Er hatte schon die Lampe angezündet und ihr erster Blick fiel auf seinen blanken, runden Schädel, auf dem das Licht reflektierte. Es war ein komischer Anblick.
Bei ihrem jähen Eintritt fuhr er halb herum und sagte ärgerlich: »Na, was ist denn nun schon wieder? Mußt du mich immer gerade dann stören, wenn ich an der wichtigsten Stelle bin?«
»Ferdi,« sagte sie bittend.
»Na, was ist? Schnell, schnell. Du siehst doch, daß ich beschäftigt bin. Beschäftigter jedenfalls als du.«
»Ich wollte nur fragen, ob du bald fertig bist. Für heute.«
»Das wirst du rechtzeitig genug erfahren.«
Er saß schon wieder bei der Arbeit und schob ärgerlich die verschobenen Blätter zurecht.
Sie stand an die Wand gelehnt und sah ihn erschrocken an. Als sähe sie ihn zum erstenmal.
Begriff er denn nicht, daß sie in Not war? War es nicht seine Pflicht, sie zu schützen – auch gegen sich selber?
Sie wollte noch bis zwanzig zählen.
Drehte er sich bis dahin noch einmal um, dann wollte sie ihn bitten, sie hier zu lassen. Sie würde ihn bitten, wie ein Kind bittet. Sie würde sich in den Korbstuhl setzen und ganz still und ruhig sitzen. Und wenn es Mitternacht würde! Und wenn es fahler, kalter Morgen würde –
Eins – zwei –
Sie zählte langsam und immer langsamer, je näher sie zum Ende kam.
Aber er sah sich nicht um.
Er wußte vielleicht gar nicht mehr, daß sie noch im Zimmer war.
Neunzehn – zwanzig – –
Zwei Tränen traten ihr in die Augen.
Sie kam sich sehr elend, sehr unglücklich vor.
Dann ließ sie ihn und ging hinaus und schloß die Türe hinter sich.
Als sie die Hand am Treppengeländer hatte, dachte sie daran, wie sie in der ersten Ehezeit oft die Treppe hinauf und hinunter gejagt war – immer zwei Stufen auf einmal. Wie ein Backfisch mit Hängezöpfen. Und wie lange es gedauert hatte, bis Ferdinand es ihr abgewöhnte, da es sich für eine Frau nicht passe.
Jetzt, wo sie hinunterschritt, um in den Wald zu Martin Melcher zu kommen, ging sie ganz langsam–… Stufe für Stufe–… und ließ keine aus.