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22

Die alte, rundliche Frau Bendix ging mit unglücklichem Gesicht herum. Litte Friese saß mit abwesendem Gesicht da und lehnte alles Essen ab. Endlich floh sie in die Küche, und ein stärkeres Rasseln verriet, daß dort eine erregte Stimmung mitschwang.

Litte Friese lauschte auf das Klappern der Schreibmaschinen aus dem Nebenzimmer wie auf einem fernen Laut in der Wildnis. Es war soviel über sie hereingebrochen, daß sie weder klagen noch weinen konnte. Sie hatte das Gefühl, einen schweren Schlag über den Kopf erhalten zu haben, der sie lähmte und zur Ergebenheit zwang.

Ihr blasses Gesicht bekam etwas Farbe, als Dr. Bendix aus der Stadt heimkam und Bericht erstattete. Der Anwalt lächelte ihr ermunternd zu, aber dies Lächeln war nicht sehr echt.

Detlev Huygens hatte sich geweigert, ein neues Verhör zu bestehen, und seine Lage war dadurch nicht besser geworden. Nach wie vor kam alles darauf an, daß er sein Alibi für jene unselige Stunde nachweisen konnte.

Der alte Herr fürchtete einen Gefühlsausbruch seiner Zuhörerin; aber sie blieb still und gefaßt.

»Ich habe eine Vorladung erhalten, Doktor. Soll ich hingehen?«

»Welche Frage! Natürlich gehen Sie hin.«

»Und ich muß alles sagen?«

»Es gibt doch nichts zu verheimlichen, sollte ich meinen. Je offener Sie sprechen, desto besser ist es für ihn.«

Sie erinnerte sich des schrecklichen Dokumentes von George Huygens. »Davon werde ich auf keinen Fall sprechen, Doktor.«

»Sie antworten nur auf Fragen – und danach wird Sie kein Mensch fragen. Außer uns beiden weiß niemand davon. Es war gut, daß Sie es damals mitnahmen und bei mir deponierten. Wäre es nicht für Ihrer beider Seelenruhe besser, es ganz zu vernichten?«

»Nein«, antwortete Litte mit einem Kopfschütteln, »noch nicht. Es besteht die Möglichkeit, daß sich dieser Mensch, den wir suchen, als ein anderer entpuppt. Aber wenn es dieser Zwillingsbruder Erik ist, dann fürchte ich für Detlev mehr als bisher.«

»Auch dann wird sich ein Ausweg finden. Hauptsache ist, daß er gefaßt wird.«

»Auch dann hängt alles von seiner Aussage ab. Er wird schwerlich die Tat zugeben und, Doktor, dieser schreckliche Mensch wird sicherlich ein Alibi haben. Ich glaube allmählich, daß nur die Verbrecher sich richtig verteidigen können.«

»Sie passen besser auf, ja, auf die Dauer versagen sie jedoch. Wir haben alles getan, um seiner habhaft zu werden. Beide Photographien werden inzwischen verbreitet, die von dem Rennfilm und die vom Gericht beschlagnahmte, ebenso die unfreiwillige Aufnahme. An die Anschlagsäulen kommt sie erst heute abend.«

»Warum so spät?«

»Es ist keine behördliche Sache, die den Vorrang hätte. Sie wissen, das Gericht glaubt nicht an seine Existenz, und es war ein großes Entgegenkommen, daß man uns das zweite Bild reproduzieren ließ.«

»Bis zum Abend kann er längst aus Hamburg verschwunden sein.«

»Inzwischen laufen unsere Handzettel mit den Bildern herum. Besonders in der Hafengegend und in Sankt Pauli. Überall da, wo er verkehrt hat.«

»Im Fröhlichen Wandsbecker'?«

»Auch dort. Ob der Wirt Nottebohm sie besonders eifrig herumzeigen wird, ist zweifelhaft. Zwingen kann man ihn nicht.«

»Diese Verbrecherbude steht doch unter Bewachung?«

»Keine Maus kann heraus. Ich suche eifrig nach einem Grund für eine Haussuchung.«

»Wenn es zu lange dauert, müssen wir einen erfinden«, entschied Litte. »Wir dürfen nicht zaghaft sein. Versprechen Sie sich eigentlich viel von der Belohnung?«

»Fünfhundert Mark sind für diese Herren allerhand. Ich glaube, dafür würde mancher seine Mutter verraten. Außerdem muß man mit den Feinden rechnen, die sich solche Naturen immer verschaffen, und die nun das Angenehme der Rache mit dem Nützlichen der Belohnung verbinden können. Hat man Ihnen keinen Tee vorgesetzt?«

»Ich habe gedankt.«

»Unsinn. Sie müssen was futtern. Wie sollen Ihre Nerven sonst durchhalten?«

Er lief in die Küche, und gleich darauf erschien seine Frau selber mit einem Tablett, auf dem Tee und Toast waren. Sie strahlte über das ganze Gesicht, weil man sie auch einmal brauchte.

Als ihre dicke, runde Hand über Littes gesenkten Scheitel glitt, mußte das Mädchen zum ersten Male an diesem Tage gegen aufsteigende Tränen ankämpfen. Es war so lange her, daß eine mütterliche Hand sie gestreichelt hatte. Dr. Bendix goß ihr Tee ein und bestrich die Toasts. »Essen und trinken müssen Sie schon selber. So ist es richtig. Und ein Lächeln riskiert sie auch schon.«

Litte dankte mit einem herzlichen Blick, sie konnte sich wieder zum Essen und Trinken zwingen.

Als die alte Dame, die gewohnt war, an geschäftlichen Dingen keinen Anteil zu haben, wieder gegangen war, fragte Litte plötzlich: »Was mag nur Uhlenwoldt da draußen gesucht haben?«

Der Anwalt wurde ernst.

»Ich glaube fast, er wußte um das Geheimnis dieses Menschen. Vielleicht wußte er mehr von ihm als dieser selbst.«

»Bestimmt. Aber was wollte er dann von ihm?«

»Ich könnte mir denken, daß er Gewißheit hatte und den Kerl mit Geld abfinden wollte.«

»Nein«, antwortete Litte schnell. »Das wäre eine Erpressung ohne Ende gewesen. So dumm war Uhlenwoldt nicht.«

»Er brauchte seine Karten nicht aufzudecken. Er konnte ihm die Möglichkeit geben, zu verschwinden – – und das wäre das beste gewesen. Er konnte mit der Drohung, ihn der Polizei zu übergeben, einen Druck auf ihn ausüben.«

»Warum tat er es nicht? Das wäre für ihn das Nächstliegende gewesen.«

»Vielleicht fürchtete er, daß bei einer Untersuchung die Tatsache bekannt würde, daß es wirklich – –«

Er zögerte.

»Daß es Detlevs Zwillingsbruder sei«, vollendete Litte. »Seien Sie um Gotteswillen nicht taktvoll, Doktor.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Wie ist es möglich, daß zwei Menschen, die unter den gleichen Sternen geboren sind, so verschieden gerieten?«

»Von Horoskopen verstehe ich nichts und lerne es in meinen Jahren wohl auch nicht mehr. Ich weiß nur, daß die Astrologen mit Minuten rechnen, die entscheidend sein können. Vergessen Sie außerdem nicht das furchtbare Experiment, das mit ihm gemacht wurde.«

»Wie kann ich das je vergessen! Nie würde Detlev in seinem Falle solche Wege gegangen sein.«

»Ihr Verlobter ist nach seiner stillen Mutter geartet, und in jenem spukt das wilde Blut des Vaters.«

»Also schuldlos?«

»In manchem vielleicht. Wenn ich seine Tat an Ihnen bedenke, dann ist mir keine Strafe groß genug für ihn.«

»Es war eine Gemeinheit ohnegleichen.«

»Also kein Mitleid. Es ist hier nicht am Platz. Übrigens ist's auch fraglich, ob er unter anderen Verhältnissen besser geraten wäre. Ich habe in meinen Akten allerlei Fälle von entarteten Söhnen braver Familien aus allen Schichten.«

»Seit jenem Abend in der Weinstube habe ich kein Mitleid mehr mit ihn. Was für eine Angst habe ich gehabt, daß Detlev ihn wirklich zu fassen bekäme! Wissen Sie, daß er einmal sagte, daß ein Mann in Hamburg zuviel sei?«

»Das begreife ich. Aber sagen Sie das lieber nicht beim Verhör.«

Litte rang die Hände.

»Ich glaube allmählich, daß auch die Seele eine Hornhaut kriegen kann.«

Dr. Bendix sah nach der Uhr.

»Noch eine Stunde. Soll ich mitkommen?«

»Es wird nicht nötig sein. Viel Positives wird nicht herauskommen, fürchte ich. Sollte es doch der Fall sein, läute ich Sie an.«

Sie lehnte sich bequemer in den Sessel zurück und schloß die Augen. Der Anwalt hoffte inbrünstig, daß die Natur ihr Recht forderte, und daß sie schliefe. Plötzlich sagte sie leise, ohne die Augen zu öffnen: »Ich sehe keinen Ausweg aus alledem.«

Ich auch nicht – dachte er, aber er schwieg und kaute energisch an seinem Toast.

Nach einer stillen Viertelstunde läutete es, und er wurde herausgerufen. Litte hörte im Halbschlaf seine Stimme und eine weibliche, die ihr unbekannt war.

Der Anwalt kam wieder herein und schloß sorgfältig die Türe hinter sich. »Ein sonderbarer Besuch ist draußen.«

»Eine Klientin?«

»Nein. Ein Besuch für Sie.«

Litte Friese saß sofort aufrecht und blickte ihn aus großen, völlig wachen Augen an.

»Hat unser Plakat schon gewirkt?«

»Ich glaube, es hat einen anderen Grund. Dies Mädchen sagt, ich solle Ihnen ausrichten, daß sie vom ›Fröhlichen Wandsbecker‹ käme. Dann würden Sie sie schon empfangen.«

»Wo ist sie?«

Litte Friese sprang auf und ging der Türe zu.

»Einen Augenblick!« bat er. »Sie will allein mit Ihnen sprechen. Sind Sie einverstanden?«

»Selbstverständlich.«

»Ich bin's nämlich nicht. Sie macht einen, wie soll ich sagen, einen verzweifelten Eindruck.«

»Ich fürchte mich nicht.«

Dr. Bendix ging an seinen Schreibtisch und kramte in einer Schublade. »Verstehen Sie, mit einem Browning umzugehen?«

»Ein wenig. Detlev ließ mich seinen in der Heide probieren.«

»Das ist gut. Nehmen Sie das Ding und seien Sie rücksichtslos. Auf alle Fälle bleibe ich im Nebenzimmer an der Türe und bin hier, sobald es nötig ist.«

»Rufen Sie sie, bitte.«

Litte stand aufrecht am Schreibtisch, das halb geöffnete Handtäschchen vor sich, in dem die kleine Waffe lag, als Hanne Nottebohm eintrat.

»Ich kenne Sie«, sagte sie schnell. »Ich habe Sie schon zweimal gesehen.«

»Ich Sie nur einmal. Im Wandsbecker.«

Litte war ganz ruhig, als sie der Fremden einen Stuhl anbot, ehe sie selber Platz nahm. »Was führt Sie zu mir?«

»Ich war in Ihrer Wohnung, und man sagte mir, daß Sie hier zu finden sind.«

Litte verwünschte ihre Freundin Herma Terstiege, die über den blödsinnigen Briefen an ihren fernen Axel vergessen hatte, sie telephonisch von diesem Besuch zu unterrichten.

»Herr Dr. Bendix ist mein Anwalt«, erklärte sie. »Weswegen kommen Sie?«

Hanne hatte in der ersten Verlegenheit den Kopf gesenkt; jetzt richtete sie ihn auf. »Raten Sie das wirklich nicht?« fragte sie erstaunt.

»Mich interessiert augenblicklich nur eine Sache, und ich nehme an, daß Sie nur deswegen zu mir kommen. Ist es wegen dieses Bruno?«

»Ja, wegen Bruno Nissen,« Ihre Augen flammten auf. Nie hätte Litte gedacht, daß dies schlichte Mädchen, das so bescheiden hereingekommen war, so leidenschaftlich sein könnte.

»Was ist mit ihm?«

»Er ist ein Schuft«, stieß Hanne hervor. »Er ist der gemeinste von allen dort.«

»Und das will viel heißen«, sagte Litte unwillkürlich. Sie bereute ihren Einwurf sofort, als sie die Veränderung in dem Gesicht des Mädchens bemerkte.

»Sie brauchen durchaus nicht so herabzusehen auf uns«, stieß Hanne trotzig hervor. »Nicht jeder kann reich sein.«

Litte machte ihren Fehler wieder gut, indem sie einen warmen, fast freundschaftlichen Ton anschlug.

»Sie irren. Ich bin nicht reich, liebes Fräulein. Ich verdiene mir mein Brot durch Arbeit wie Sie.«

Hanne sah sie aufmerksam an. »Entschuldigen Sie. Es platzte mir nur so heraus.«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mir helfen? Mir kann niemand helfen. Es ist alles aus.«

Langsam überwand Litte Friese ihren Widerwillen gegen dies Geschöpf, das sicherlich von Anfang an alles gewußt hatte, und das ihr und Detlev tausend Qualen hätte ersparen können. »Sie sind wahrscheinlich hier, um mir etwas über ihn zu erzählen. Sprechen Sie ganz ruhig und haben Sie Vertrauen.«

Hanne tat einen tiefen Atemzug, ehe sie erzählte.

»Er hat das Geld meines Großvaters geraubt. Ich habe ihm einmal verraten, wo es versteckt war, und er hat versprochen, mit mir zu fliehen. Wir wollten drüben ein neues Leben anfangen.«

Litte empfand Mitleid mit diesem Mädchen, das noch fast ein Kind war, und das ein neues Leben anfangen wollte. Eine Tragödie rollte sich auf, eine ganz alltägliche Tragödie wahrscheinlich. Dies Kind hatte ihm geglaubt und nun – –

»Und nun?« wiederholte sie laut.

»Sie sollen alles wissen.« Hanne blickte sie aus tränenschimmernden Augen an. »Sie sind ganz anders, als ich gedacht hatte. Bruno hat mich betrogen, wie er zeitlebens andere betrogen hat. Sicher hat er nie daran gedacht, mit mir fortzugehen. Ihm lag nur an dem Geld, an diesen elenden Banknoten. Hätte ich nie davon angefangen! Ich darf mich zu Hause nicht mehr sehen lassen. Großvater hat mir seit einiger Zeit mißtraut; er witterte, daß ich Bruno gern hatte. Jetzt ahnt er schon alles, und er würde mich totschlagen.«

»Man wird Sie schützen, hier sind Sie sicher.«

»Nun ist mir alles gleich. Der Alte wollte uns schon lange auseinanderbringen.« Sie blickte auf. »Er hat mich sogar auf Sie eifersüchtig gemacht, denken Sie.«

»Auf mich?« fragte Litte entsetzt.

»Er hat gesagt, daß Bruno in Sie verliebt ist. Und er hat gesagt – aber nun dürfen Sie nicht auf mich böse sein – –«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich nicht böse sein werde.«

»Er hat mir gesagt, daß Bruno Sie geküßt hätte.«

Es wurde Litte schwer, ihr Versprechen zu halten. Sie war ganz blaß, als sie entgegnete: »Er ist ein viel größerer Schuft, als Sie ahnen, wenn er das verraten hat. Er hat seine Ähnlichkeit ausgenützt und mich überfallen.«

Hanne ballte die Fäuste. »Und ich habe ihm geglaubt.«

»Wo ist Bruno Nissen jetzt?« fragte Litte streng. »Das ist das einzige, was mich interessiert.«

»Er wird fliehen wollen; er hat Geld genug. Am Tage kann er das nicht wagen. Im Grunde ist er feige; zu seinen Freunden wird er nicht gehen; denen traut er nicht mehr, sie werden inzwischen von der Belohnung gehört haben. Hat sich noch keiner gemeldet?«

»Bis jetzt nicht.«

»Das wird schon kommen«, meinte Hanne befriedigt. »Ich kenne diese Kerle. Da ist vor allem Johnny, mit dem er die Sache in Ihrem Geschäftshaus gedreht hat.«

»Johnny?« wiederholte Litte aufmerksam. »Wie heißt er weiter?«

»Das weiß kein Mensch. Aber Sie finden ihn bei dem Tätowierer Timmermanns, wo Bruno in den letzten Tagen wohnte.

Litte notierte den Namen und die Wohnung.

»Ist dieser Timmermanns ein Hehler?«

»Er ist ein anständiger Mensch. Er vermietet seine Kammer an jeden, der kommt. Weiter nichts.«

»Kommt Johnny für eine Gewalttat in Frage?«

»Gewiß. Bruno macht sowas nicht.«

Das sagte sie mit einem kleinen Achselzucken, das ebenso Anerkennung wie Verachtung bedeuten konnte.

»Haben Sie eine Ahnung, wo Bruno Nissen hin will?«

»Ich weiß nur, daß er einen dänischen Paß hat.«

»Auf seinen Namen?«

»Wo denken Sie hin«, rief Hanne grenzenlos überlegen aus.

»Ich nahm es an, weil sein Name tatsächlich dänisch klingt.«

»Er heißt auch gar nicht so. Sein früherer Ausweis als Schiffssteward lief auf den Namen Potrykus.«

Litte mußte all ihre Selbstbeherrschung zu Hilfe nehmen, um äußerlich ruhig zu bleiben. Potrykus – den seltsamen Namen hatte sie behalten. Er war der einzige Überlebende der ›Rio Sacramento‹ gewesen.

»Sie finden den Namen komisch? Ich glaube, er hieß in Wahrheit ganz anders.«

»Bestimmt«, erwiderte Litte mühsam. »Er hieß früher Leverhuus, nicht?«

»Davon weiß ich nichts«, meinte Hanne unsicher. »Möglich ist es. Genannt hat er den Namen niemals.«

»Jetzt weiß ich alles.« Sie schloß vor Ermattung die Augen. Leverhuus hatte die Verwirrung beim Schiffsuntergang benützt, um sich die Papiere des Stewards anzueignen, und er mochte schon damals genug Gründe gehabt haben. Ein merkwürdiges Geschick hatte ihn als einzigen an Land gespült.

Damit schloß sich der Ring. Nun gab es keinen Zweifel mehr, wer Nissen eigentlich war.

»Ist's etwas besonderes mit diesem Namen?« fragte die andere neugierig.

»Es ist so ziemlich das Schlimmste von allem.«

»Warum ist es so schlimm?«

»Das kann ich Ihnen nicht erklären.«

Plötzlich schossen Tränen aus den graublauen Augen drüben.

»Es soll ihm aber nichts geschehen!« rief Hanne, von wildem Schluchzen geschüttelt. »Das wollte ich nicht. Was er vorher beging, geht mich nichts an. Als Bruno Nissen hat er nichts gemacht als diese Geschichte mit Huygens. Ich habe ihn so oft gewarnt, und er hatte es wahrscheinlich über. Irgendein Satan hat ihn da wieder hineingebracht. Es soll ihm nichts geschehen …«

Mit einer wilden, ungezügelten Gebärde schlug sie die Hände vor das Gesicht.

Litte erhob sich und ging ins Nebenzimmer, wo der Anwalt sofort aufsprang.

»Sehen Sie sich dies Häufchen Elend an«, sagte sie leise, »und sagen Sie selbst, ob ich eine Waffe brauchte.«

»Um so besser. Hat sie etwas verraten?«

»Ich erzähle nachher. Für jetzt möchte ich Sie bitten, sie hier zu behalten.«

Ehe Dr. Bendix noch einen Einwand machen konnte, war sie wieder bei ihrem seltsamen Besuch.

»Sie können einstweilen hier bleiben. Hier sind Sie sicher, auch vor Ihrem Großvater.«

»Danke«, sagte Hanne, die einen Augenblick in ihrem Weinen inne hielt. »Und was wird nun mit ihm?«

»Wegen der alten Geschichte können Sie ganz ruhig sein; es handelt sich nur um die letzte, wo Johnny die Hauptschuld trägt. Beruhigen Sie sich nur erst einmal. Am Ende wird noch alles gut.«

Sie ging zum Anwalt zurück und schloß leise die Türe, ehe sie berichtete.

»Ich benachrichtige sofort die Polizei«, sagte Dr. Bendix, als sie geendet hatte. »Die Bude bei Timmermanns muß sofort durchsucht werden und unter Beobachtung bleiben. Vielleicht wird der wackere Nottebohm aus Rache etwas aussagen; aber ich fürchte, er ist ein hartgesottener Sünder. Diese Mittelsmänner sind immer die schlimmsten. Viel Spielraum soll er nicht mehr haben.«

Mutlos hörte sie seinem Telephongespräch zu. Endlich hing er ab.

»Es wird alle verfügbare Mannschaft aufgeboten, um auf Nissen zu fahnden. Nottebohm bleibt einstweilen unter Beobachtung. Er wird keinen Schritt tun können, ohne daß die Kriminalpolizei davon erfährt. Die Kaschemmen werden durchgekämmt, ebenso die zweifelhaften Gasthöfe.

Es geht ihm an den Kragen, glauben Sie mir.«

Sie nickte. »Es ist Zeit, das alles ein Ende nimmt– so oder so. Allmählich fühle ich, daß meine Nerven nicht aus Draht sind.«

»Kopf hoch!«

Als sie zusammen in das Arbeitszimmer traten, erlebten sie eine Überraschung. Es war leer. Hanne Nottebohm war verschwunden.

Sie stürzten sofort in den Korridor. Die behäbige Köchin stand in ihrem schmucken weißen Häubchen hochrot an der Korridortüre.

»Die Deern ist gelaufen wie gejagt. Hat sie was geklaut?«

»Nein. Hat sie irgend etwas gesagt?«

»Nichts. Aber zuzutrauen war's ihr schon.«

Der Anwalt nahm die Nachricht mit einem Stirnrunzeln auf. »Das kann uns einen dicken Strich durch die Rechnung machen. Sie wird ihren Freund warnen.«

»Wenn Sie sie gesehen hätten, würden Sie eher fürchten, daß sie sich etwas antut.«

»Nein«, wehrte er energisch ab. »In diesem Falle glaube ich sie doch besser zu kennen.«


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