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4

Am nächsten Morgen meldete sich der Juniorchef schon zu früher Stunde bei Litte Friese an. Er meldete sich immer an, um Uhlenwoldt nicht zu begegnen, mit dem er nur bei Konferenzen mündlich verkehrte.

Sie sah vor sich hin, als sie nach seinen Wünschen fragte, und konnte so nicht die Unruhe seines Blicks bemerken.

»Seit ich von drüben zurück bin«, begann er, »ist Hamburg reichlich verändert. Es ist eine Nervosität hineingekommen, die ansteckend wirkt. Finden Sie nicht auch?«

Sie nickte nur höflich, ohne zu ahnen, was er meinte. Detlev Huygens und Nervosität – das waren früher zwei grundverschiedene Dinge gewesen.

Aber dann sagte er etwas, das sie zusammenfahren ließ: »Ich möchte mal wieder in ein Kino gehen. Können Sie mir eins empfehlen?«

Sie fühlte, wie eine Welle von Entrüstung sie rot färbte, und stieß trotzig hervor: »Ich empfehle Ihnen das am Besenbinderhof.«

»Hm«, machte er und holte ein zerknittertes Blatt hervor, das er auf ihren Tisch legte. »Haben Sie am Ende auch solche Einladung bekommen? Es sind hier merkwürdige Sitten eingerissen.«

Erstaunt las sie die wenigen Zeilen in Maschinenschrift, die zum Besuch jenes Kinos einluden. »Sehen Sie sich die Bilder vom Rennplatz genau an! Sie sind erkannt!«

»Begreifen Sie das? Was will man von mir dort?«

Sie wußte, wer diesen anonymen Brief geschrieben hatte, und ihre Hochachtung vor Herrn Janowski wuchs dadurch nicht.

»Ich würde an Ihrer Stelle hingehen«, sagte sie möglichst gleichgültig, aber sie hatte nicht den Mut, ihn dabei anzusehen.

»Aber, zum Kuckuck, was gehen mich diese Bilder vom Rennplatz an? Ich verstehe davon weniger als unser Laufbursche. Ich halte es mit dem letzten Afghanenkönig: daß ein Gaul schneller läuft als der andere, weiß ich auch so.«

Nun mußte sie doch aufblicken. Und sie sah in ein verärgertes Männergesicht, in dem kein Zucken von Täuschungsabsichten sprach.

Wie war das möglich? Vergaß er so schnell?

»Haben Sie eine Ahnung, wer im Geschäft sowas schreiben kann? Das Ding lag nämlich ohne Briefmarke auf meinem Schreibtisch.«

Sie log, daß sie keine Ahnung hätte. »Ich kann nachforschen lassen, wenn Sie wünschen.«

»Bewahre. Nur kein Aufsehen. Vielleicht ist's auch nur eine neue Art Reklame. Wirksam ist sie, denn ich bin neugierig geworden.«

Sie sah ihn groß an. »Werden Sie hingehen und sich diese Bilder vom Rennplatz ansehen?«

Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort. »Würden Sie mitkommen?«

Litte Friese stellte mit einiger Genugtuung fest, daß er rot wurde wie ein ertappter Junge, und es kleidete ihn eigentlich gut. Aber dann schob sich jene Filmaufnahme zwischen ihn und sie – – und er rückte in die Ferne.

»Ich habe Verabredungen«, antwortete sie hart.

Detlev Huygens sah sie verwundert an, murmelte etwas, das eine Entschuldigung sein konnte, und ließ sie verwirrt zurück.

Litte Friese leistete an diesem Vormittag keine gute Arbeit mehr, und sie war froh, als die Mittagsstunde schlug.

Eine kleine Freude hatte sie, als sie gleich am Ausgang auf Herrn Janowski stieß, der ehrfurchtsvoll grüßte.

Ohne seinen Gruß zu erwidern, sagte sie: »Ich war in dem Kino, aber es war ein Irrtum. Sie müssen ein anderes Mal besser hinsehen. Und wenn Sie wieder anonyme Briefe schreiben, tun Sie es nicht auf der Geschäftsmaschine. Das kleine ›r‹ ist bei Ihnen nämlich etwas defekt und könnte leicht auf Ihre Spur führen.«

Das mit dem »r« hatte sie eben erfunden, und sie freute sich doppelt über die Wirkung: noch, als sie um die Ecke bog, stand Janowski mit grenzenlos bestürztem Gesicht da, den Hut in der halb erhobenen Rechten.

*

Als Huygens abends in seinen Klub kam, war seine Stirn gerunzelt, und er schnaubte – ganz gegen seine Gewohnheit – den Diener an, der ihm etwas ungeschickt aus dem Überzieher geholfen hatte. Gleich darauf lief er wieder zurück, um sich zu entschuldigen.

»Ich bin etwas nervös, lieber Rompa. War übrigens Herr Lesley schon da?«

»Nein. Herr Lesley kommt ja immer später.«

»Sagen Sie ihm, daß ich im Lesezimmer bin.«

»Sehr wohl, Herr Huygens.«

Da er keine Lust hatte, an dem Gespräch der anderen teilzunehmen und keinen Appetit verspürte, verschanzte er sich hinter einer Nummer der »Times«, ohne sich um das Auf und Ab zu kümmern.

Der Klub hatte sich im ersten Stockwerk eines großen Restaurants der Johnsallee aufgetan, und er unterschied sich von anderen seiner Art dadurch, daß von jeder Nation nur je sieben Herren aufgenommen werden durften. Die skandinavischen Staaten und England waren in Vollzahl vertreten. Es gab auch Belgier, Südamerikaner und Russen, die ewigen Schachpartien fröhnten und hier nur deshalb unglücklich waren, weil nicht politisiert werden durfte. Auch ein stattlicher Chinese war aufgenommen, dessen pfeifendes Deutsch manches Grinsen weckte. »Der babylonische Klub« hatte ihn der lange Lesley getauft. Jedenfalls war er in Hamburg einer der unterhaltsamsten Winkel.

Während Huygens die Handelsartikel der »Times« überflog, ahnte er nicht, daß er selber Gesprächsgegenstand in den benachbarten Räumen war.

»Wenn Sie Recht haben, hat sich unser Freund heftig verändert«, meinte Sven Eriksen, der kleine, quecksilbrige Däne, während er die Speisekarte studierte. »Wildschweinpastete, in dieser Jahreszeit?«

Ziesenitz zog die Stirn ärgerlich kraus. »Sie können mir schon trauen. Meine Augen sind ausgezeichnet.«

Eriksen dachte über Artischocken nach und sagte dann vorsichtig: »Irren ist menschlich. Ehe sich Huygens, unser Huygens, so verändert, eher nimmt Ihre Michaelskirche Pyramidenform an.«

»Ihre Bilder sind nicht glücklich; aber ich will das Ihrer Unkenntnis der deutschen Sprache zuschreiben, die nachweislich eine ›swere Sprak‹ ist. Lesen Sie bei unserem Lessing nach.«

»Ist das der auf dem Gänsemarkt?«

»Ja. Und im übrigen kann ich beschwören, daß Huygens beim Rennen war.«

Eriksen überhörte die Gereiztheit des Tons, da er gerade über getrüffelten Fasan nachdachte, und fuhr mit seinen Zweifeln fort: »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr. Ist das Bild diesmal richtig?«

Architekt Quitzau, der eben eine Schachpartie beendet hatte, trat hinzu. »Sie tun Herrn Ziesenitz Unrecht. Ich war schließlich auch da. Sie wissen, daß durch zweier Zeugen Mund die Wahrheit kund wird.«

»Amen. Jetzt sagen Sie nur noch, daß er gesetzt und geflirtet hat – und ich will mein Leben lang nur noch Sauerkohl essen.«

»Reingefallen. Er hat, wie leider auch ich, auf den Favoriten gesetzt, der nachher mit drei Nasenlängen hängen blieb. Ich stand ganz in seiner Nähe, aber er hat mich in seinem Eifer gar nicht bemerkt. Er muß eine Stange Geld verloren haben.«

Quitzau räusperte sich. »Werden Sie mir glauben, Herr Eriksen, wenn ich Ihnen, natürlich streng vertraulich, verrate, daß er so abgebrannt war, daß er sich von mir zweihundert Mark pumpte?«

»Huygens und jemand anpumpen? Aber ich bitte dringend, das ist doch ausgeschlossen.«

Der andere grinste vergnügt. »Es hatte seinen Grund, und damit sind Sie zum zweiten Male reingefallen. Der ›Grund‹ hatte nämlich lustige, ein bißchen freche Augen und hieß Lolotte. Hübsches Kerlchen. Guter Geschmack. Sowas Amüsierliches, wissen Sie.«

»Und damit zeigt er sich auf dem Rennplatz?«

»Pst«, machte Eriksen und sprach laut Verwünschungen über den ewig gespickten Hecht aus.

Als Detlev Huygens, dem die »Times« zu langweilig geworden war, eintrat, begegnete er verlegenen Gesichtern.

»Meine Herren«, meinte er mit seinem letzten Humor, »es macht fast den Eindruck, als ob Sie ein bißchen gelästert hätten.«

»Aber ich bitte Sie«, beeilte sich Ziesenitz zu sagen. »Wir unterhielten uns wie die Konfirmanden. Ganz harmlos, wirklich. Über Rennplätze, Derby, Wetten und so.«

»Interessiert mich also nicht. Obgleich – denken Sie, meine Herren, ich habe mich eben auf einem Rennplatz gesehen, auf dem ich nie gewesen bin.«

Eriksen platzte laut heraus und löste die peinliche Stimmung, die nach Huygens' Worten eingesetzt hatte. »Sie haben schon bessere Witze in Ihrem jungen Leben gemacht.«

»Ruhe. Er soll selbst das Geheimnis lösen.«

John Lesley war eingetreten, überragte Huygens um fast Kopfeslänge. Nach einer stummen Begrüßung blieb er neben Huygens stehen, dessen letzte Worte er noch gerade gehört hatte.

»Gehen Sie in das Kino am Besenbinderhof, meine Herren. Da sehen Sie mich auf einem Rennplatz, auf dem ich – ich muß das wiederholen – nie im Leben gewesen bin. Und noch dazu in einer etwas bedenklichen Situation.«

»Und davon lassen Sie Filmaufnahmen machen?« fragte Ziesenitz glucksend, der nur halb zugehört hatte. »Was wird denn ›die Firma‹ dazu sagen?«

Alle wußten auch ohne sein Zwinkern, daß er auf die hübsche Privatsekretärin der Firma Huygens & Huygens angespielt hatte.

Der gutmütige Eriksen, immer bestrebt, Differenzen im Keim zu ersticken, sagte mit freundlichem Lächeln: »Wenn die Dame hübsch war, sind Sie ohne weiteres entschuldigt, lieber Huygens.«

Und der Russe setzte hinzu: »Man kann heute nicht vorsichtig genug sein. Diese Erfindungen! Nächstens wird man uns auf hundert Kilometer im Apparat sehen. Darf man fragen, wie bedenklich die besagte Situation war?«

Huygens sah verblüfft von einem zum anderen. »Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich dort war?«

Der Journalist Ahrens, hier nur Gast, mischte sich ein. »Da bleibt nur eine Lösung: das gespaltene Ich. Die eine Hälfte arbeitete am Butenfleeth, die andere setzte am Totalisator und amüsierte sich redlich.«

»Sie lachen; aber mir ist furchtbar ernst zumute.« Seine Knöchel schlugen hart auf den Tisch. »Ich verlange, daß man mir glaubt.«

Alle schwiegen und wagten kaum, einander anzusehen. Was war nur in den stillen, ruhigen Huygens gefahren? John Lesley war der einzige, der ihn mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete.

»Warum sollte ich es denn um aller Welt willen nicht eingestehen? Ich bin doch kein Schuljunge, der heimlich Zigarren geraucht hat und den Lehrer kommen sieht?«

»Also, Sie haben vergessen«, stellte Quitzau fest. »Na, schön. Sowas kommt vor. Kein Grund zur Aufregung. Decken wir den Schleier der Diskretion darüber. Haben Sie übrigens auch vergessen, daß ich Ihnen mit zwohundert Mark unter die Arme griff?«

Huygens fuhr herum. »Sie – mir?«

»Nicht der Rede wert. Wenn man Lethe getrunken hat wie die ollen Griechen, kann das passieren. Entschuldigen Sie, daß mir das so entfuhr; ist sonst nicht meine Art, wirklich.«

»Das müssen Sie mir deutlicher erklären, Quitzau.«

»Werde mich hüten.« Er ging lachend in den Nebenraum. Huygens sah in lauter lachende Gesichter. Vielleicht hielt man das Ganze für einen Jux, über dessen Pointe man sich noch nicht recht im klaren war. Auf keinen Fall war hier auf Verständnis für seine absonderliche Situation zu rechnen, deren Gefährlichkeit er nur ahnte.

Er wollte den Klub verlassen, als er Lesley gewahr wurde. »Sind Sie die ganze Zeit über hier gewesen? Dann halten Sie mich wenigstens nicht für verrückt. Kommen Sie. Reden wir über andere Dinge, und trinken wir Porter.«

Die anderen sprachen laut und eifrig über Sport.

Ahrens, der ein Sportblatt schwang, rief: »Sollen wir dulden, daß unsere Frauen sich künstlich verhäßlichen? Was sehen wir nur noch? Mädchen in Hosenröhren an Segelkutter oder Flugzeug gelehnt, die – ein Mann nachher lenkt. Gott bewahre die Jungfrauen, die es selbst tun. SOS. Oder beim Laufen, wo sie Glotzaugen kriegen wie die Steinbutten. Oder wie angeschossene Krähen beim Tennis herumhüpfend.«

»Sie sind entzückend unzeitgemäß.«

»Dann ist es auch unzeitgemäß, Schönheit zu wollen. Ich suche Locken statt abrasierten Nacken. Ist das Leben wirklich so schön und erfreulich geworden, daß wir auf die Schönheit der Frauen pfeifen sollten? Ich trinke auf die ewige Schönheit.«

»Trinken wir!« entschied Eriksen. »Es ist der Punkt, in dem man sich im gesegneten Hamburg immer einig ist.«

Huygens, der inzwischen ein schlechter Unterhalter gewesen war, entschuldigte sich bei Lesley und folgte Quitzau, den er in ein Nebenzimmer treten sah.

»Auf ein Wort, bitte. Haben Sie mir wirklich zweihundert Mark geborgt?«

Quitzau sah ihn befremdet an. »Wenn Sie es vergessen haben«, sagte er kühl.

»Zum Teufel, ich will doch nichts geschenkt haben.« Er fuhr sich mit einer verzweifelten Gebärde über die Stirn. »Ich habe es vergessen … Sie müssen mir glauben … entschuldigen Sie … «

»Sie müssen meine Mahnung entschuldigen. Wenn sie aber Ihr Gedächtnis auch für angenehmere Dinge gestärkt hat, dann war sie noch angebracht.« Er lachte plötzlich auf. »Einen bildschönen Rausch müssen Sie sich damals gekauft haben, wenn das Nirwana acht Tage vorhält. Was für Stoff war es denn?«

»Ich kann nicht einmal das sagen«, erwiderte Huygens leise, und ein scheuer, seltsam ratloser Blick begleitete seine Worte.

Lesley kam auf einen Wink Quitzaus heran. »Ich schlage vor, wir trinken einen Schluck!«

»Gut bemerkt. Wir müssen unseren Freund aufpulvern. Und Sie dürfen von schottischen Fuchsjagden berichten, ohne daß von Jägerlatein gemurmelt wird.«

An diesem Abend trank Detlev Huygens zum erstenmal über seine Grenzen, und John Lesley fühlte sich am Ende verpflichtet, ihn nach Hause zu bringen. Huygens lehnte aber energisch ab.

»Können Sie denn noch Prohibition sagen?«

»Deutsch oder englisch?«

»Nach Belieben. Wenn's noch geht, dürfen Sie allein nach Hause.«

Huygens konnte es und winkte draußen ein Taxi heran.

»Wohin?«

»Eine halbe Stunde drauf los. Aber Tempo, wenn ich bitten darf. Beschämen Sie alle Raketenwagen.«

So eine Fahrt ohne Ziel würde ihm den Kopf wieder klarer machen. Aber das Tempo mußte schon auf der Lombardbrücke gestoppt werden.

Erbittert betrachtete Huygens die Wagenreihen und die Menschenmassen, auf die man Rücksicht nehmen mußte.

Plötzlich zuckte er zusammen. Eine Frauenstimme hatte deutlich seinen Namen gerufen.

Zuerst dachte er an Litte Friese; aber sie war wohl die letzte, die ihn zu dieser Stunde anrufen würde. Als er seinen Namen zum zweitenmal hörte, wußte er, daß es nicht ihre dunkle, samtene Stimme war. Er blickte um sich und sah ein kleines Persönchen, das ihm herzlich zuwinkte.

Was wollte sie von ihm? Er hatte die Fremde noch nie gesehen.

Der Wagen hatte wieder Luft bekommen und war schon auf dem Glockengießerwall, als Huygens dem Chauffeur »Halt« zuschrie. Wenn dies Mädchen ihn kannte, so verwechselte es ihn mit einem anderen! Es verwechselte ihn mit jenem, der das Geld abgehoben hatte, und der auf der Rennbahn gewesen war! Dann wußte das Mädchen Bescheid über ihn!

Er warf dem Chauffeur einen Geldschein zu und lief den Weg zurück. Wie er sich auch durch die Menge drängte, unter wieviel Hüte er auch blickte – er erntete manch entgegenkommendes Lächeln, aber die Gesuchte war nicht darunter.

Er ballte die Fäuste vor Wut. So nahe war die Lösung des Rätsels gewesen, und nun war sie ihm entglitten, wie ein Stein, der in die Alster fällt!


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