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9

Als Litte Friese die Nacht zum Sonntag hinter sich hatte, die längste Nacht ihres Lebens, kam sie sich um Jahre gealtert vor. Dunkle Ringe um die Augen, Krähenfüße – was hatten diese schlaflosen Stunden nur aus ihr gemacht!

Als sie sich zögernd zum Frühstück mit ihrer Freundin begab – sie hätte viel darum gegeben, heute allein bleiben zu können – empfing sie noch vor dem »Guten Morgen« die Frage: »Weißt du, wer dich gestern besucht hat?«

»Mich?«

Herma Terstiege nickte mit einem verstehenden Lächeln. »Soll ich dich raten lassen?«

»Es gibt recht wenig Menschen, die mein Heim kennen, und da bin ich bald herum. Dr. Bendix? Nein, da bin ich ja heute eingeladen. Ein Lieferant mit einer Rechnung, ein Angestellter von Huygens & Huygens – das wäre wohl alles.«

»Du vergißt, daß deine Chefs deine Adresse kennen.«

»Sollte Herr Uhlenwoldt hier gewesen sein? Es sähe ihm wenig ähnlich, auch wenn er nicht gerade im Norden wäre.« Sie sprach mit zuckendem Munde, dem Weinen nahe. Denn sie wußte sofort, was als Antwort kommen müßte. Und nach dieser Antwort sehnte sie sich in demselben Grade, wie sie sich davor bangte.

»Unsinn. Der alte Eremit und Verschwörer wagt sich nicht zu uns.« Herma Terstiege kostete die Wonne des Wissens gründlich aus. »Herr Huygens in eigener Person.«

Litte Friese spürte, wie sie im gleichen Augenblick errötete und erblaßte. Es war nur gut, daß die Freundin so mit ihrer Überraschung beschäftigt war, daß sie sie nicht weiter beachtete. Sie entwickelte eine Menge Zartgefühl – soviel, daß es fast ins Gegenteil umschlug. Sie machte ihr nicht einmal Vorwürfe, daß sie sie gestern im Stich gelassen hatte.

»Es klingelte plötzlich, und er stand in der offenen Entreetüre, die du wohl nicht geschlossen hattest, mit einem reizenden Terrier. Er heißt Bobby und sieht auch so aus.«

Litte Friese fuhr zusammen: der Hund! Sie hatte selber den ungeschickten Sprung des Terriers in den Wagen gesehen – aber draußen an der Elbchaussee in Oevelgönne war kein Hund dabei gewesen! Wäre er ihr nicht aufgefallen? Oder hatte sie in ihrer Erregung über die schreckliche Szene nicht darauf geachtet?

Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln und zu ordnen. Lesleys Gerede von einem Doppelgänger hatte sie keinen Augenblick geglaubt. Aber da war der Hund – jetzt wußte sie genau, daß er nicht da draußen vor der Spelunke gewesen war. Möglich, daß er ihn unterwegs abgegeben hatte, weil er lästig war, weil er sich vielleicht vor dem Tier genierte – was wußte sie schon von den Gedankengängen dieses Mannes?

Aber Detlev Huygens war zu ihr gekommen und hatte sie gesucht. Er hatte sich seiner Flucht geschämt und war umgekehrt: darum war ihr Suchen auch vergeblich gewesen.

»Kam er in einem Auto?« fragte sie verwirrt.

Herma sah sie erstaunt an; sie konnte nicht begreifen, was das bedeutete. »Das weiß ich nicht. Ich werde ihm doch nicht aus dem Fenster nachsehen. Ist das nicht gleichgültig?«

»Natürlich. Aber, du wirst doch wenigstens wissen, wann er kam? Um welche Stunde?« Sie umklammerte in ihrer Erregung den Arm Hermas.

Sie fieberte der Antwort entgegen. Hing davon nicht alles ab? War er zur gleichen Stunde hier gewesen wie sie am Elbstrand, dann war alles dort Spuk und Phantasie gewesen. Dann war sie in ihrer Eifersucht schon soweit, ihn in jedem halbwegs ähnlichen Manne zu sehen, der mit einer Frau am Arm daherkam. Dann mußte sie ihm in der Seele abbitten.

»Die Stunde? Du fragst büschen viel. Ich habe nicht nach der Uhr gesehen. Als ich sah, daß du fort warst – ich bin nicht böse, mein Liebling! –, da habe ich mich hingesetzt und einen langen Schreibebrief an Axel vom Stapel gelassen. Acht Seiten habe ich geschrieben, der dumme Bengel ist es gar nicht wert. Was siehst du mich denn so entgeistert an?«

»Es ist nichts, Herma. Entschuldige.« Sie setzte sich und goß den Tee ein. Sie tat alles mechanisch und stellte verwundert fest, daß nicht einmal ihre Hand zitterte.

»Du fragst gar nicht, was er wünschte.«

»War es etwas Geschäftliches?« fragte sie mit tonloser Stimme.

»Das glaubst du selber nicht. Er war sehr mißvergnügt, als ich ihm sagen mußte, daß du weg warst. Ich habe sogar dein Zimmer geöffnet, damit er sich von der Wahrheit überzeugen konnte; denn er sah höllisch mißtrauisch aus.«

»Das hättest du nicht tun sollen.«

»Warum denn nicht? Es war ganz ordentlich. Er zog sich übrigens gleich sehr diskret zurück, entschuldigte sich und sagte, er würde heute wiederkommen.«

Der Teelöffel fiel aus Littes Hand. »Er … kommt … heute?«

»Ja, zwischen 4 und 5 Uhr, was ich hiermit ausgerichtet habe. Reich mir aber den Zucker herüber.«

Das Wirrwarr um Litte wurde immer unübersichtlicher. Hatte sie sich gestern geirrt? Hatte er sie bemerkt, und war er gekommen, um den Eindruck zu verwischen? War er vorher hier gewesen und dann in das Abenteuer mit der Flachshaarigen geraten, das ihm über die Enttäuschung hinweghelfen sollte?

Fest stand, daß er heute wiederkam. Dann mußte sich alles klären und lösen – so oder so. Und in ihrer Not schien es ihr schon ein Gewinn, daß sie noch an ihm zweifeln konnte.

Herma Terstiege erzählte, als ob sie von Littes Verwirrung nichts merkte, von Axel und daß sie ihm geraten habe, das ihm angebotene Antiquitätengeschäft unweit des Bayrischen Hofes zu kaufen. In einer Fremdenstadt wie München doch eine totsichere Sache.

Litte war ihr dankbar für das Geplapper, dessen Sinn sie nicht begriff; aber sie bemerkte die verstohlen herüberhuschenden Blicke, die sie aufmerksam prüften.

Mittags war sie, wie jeden Sonntag, bei einem alten Freund ihrer Familie, Rechtsanwalt Dr. Bendix in der Claus-Groth-Straße, eingeladen. Sie überlegte lange, ob sie diesmal absagen solle; aber der Gedanke, bis zu Detlev Huygens' Kommen eine wehrlose Beute ihrer Gedanken sein zu müssen, trieb sie schon früh aus dem Hause.

Sie machte einen Umweg zum Alsterbecken, machte kehrt zur Sechslingspforte und ging schneller als nötig, bis sie viel zu früh vor dem großen Mietshause mit den vielen Balkonen stand.

Der alte Herr stand, Blumen begießend, auf dem Balkon und winkte ihr schon von weitem zu. Sein immer etwas zu langes, silbergraues Haar flatterte im Winde.

Dr. Bendix hatte vor Jahren ihr Erbe geregelt, das von ihren Verwandten angefochten worden war. Viel war für sie dabei nicht herausgekommen; aber das war nicht seine Schuld gewesen: sie hatte freiwillig die meisten Ansprüche dieser plötzlich auftauchenden Vettern und Kusinen befriedigt, um diese schauderhaften gerichtlichen Dinge los zu werden.

Es war das Verdienst des Anwalts gewesen, daß ihr überhaupt noch etwas geblieben war. Sie mochte den alten Herrn gern, dessen gütige Menschlichkeit so gar nichts mit den bösen Paragraphen gemeinsam hatte.

Während sie die Treppe emporstieg, dachte sie, daß er vielleicht der einzige Freund sei, den sie hier hatte, und an den sie sich immer wenden konnte. Warum war sie nicht längst zu ihm gegangen?

Es gab wie immer ein tüchtiges, massives Essen; die Schüssel mit der Hamburger Aalsuppe schien ihr groß genug für den Hunger einer Kompanie. Lachend mußte sie die alten Leute abwehren, die sie energisch nötigten. Es war alles drin, was dazu gehört, bis auf die vielen, vielen geheimnisvollen Kräuter, Estragon, Salbei, Bohnenkraut, Krauseminze, Zitronenmelisse und so weiter, und die Aalstücke waren genau so delikat wie die kalten in Rotwein gestobten Birnen daneben. Es war ein Gedicht der Küche; es war ein Epos.

Litte bemühte sich, dem Kunstwerk gerecht zu werden. Aber Frau Bendix wurde nicht müde mit ihrem: »Es schmeckt Ihnen nicht bei mir.«

»Haben Sie Erbarmen. Ich platze sonst vor Ihren Augen, und das möchten Sie doch nicht.«

»Es wäre vorsätzliche Körperverletzung«, warf Dr. Bendix schmunzelnd ein. »Und ich betone das ›vorsätzlich‹.«

»Stimmt. Aber ich werde mildernde Umstände bekommen.«

»Nur, wenn du deine Aalsuppe dem Gericht vorsetzt. Aber das wäre nun wieder Bestechung.«

Die alte Dame winkte drohend zu ihrem Gemahl hinüber.

»Du bist und bleibst ein Schlingel.«

Wie die Turteltauben schienen die beiden alten Leutchen zu leben, und etwas vom geruhigen Behagen des Hauses strömte auf Litte über und ließ sie ruhiger werden.

»Wie schade, daß ich keine boa constrictor bin, um mich für einen Monat satt zu futtern. Einen ganz kleinen Happen nehme ich aber doch noch.«

»Sie bessert sich«, schrie der Anwalt begeistert. »Wir werden aus ihr noch eine nudeldicke Deern machen.«

»Vollschlank, bitte, vollschlank!«

»Zu meiner Zeit hatte ein Mann gern was unter den Fingern«, begann Dr. Bendix, aber er setzte unter einem mahnenden Blick seiner Gattin seine Erinnerungen nicht fort.

Es war eine alte Regel, daß die Hausfrau nach dem Essen ein Schläfchen machte – »Nur ein Viertelstündchen«, aber es wurden meist zwei bis drei Stunden daraus – und daß der Anwalt inzwischen mit Litte Schach spielte, bis der Kaffee kam.

Heute war sie eine zerstreute Spielerin, so sehr sie sich auch zusammennahm.

»Sie sind nicht bei der Sache, mein Fräulein. Ihr Turm wäre geliefert, wenn ich nicht so schrecklich galant wäre.«

Litte Friese zog den Turm weg, mitten in die Schußlinie eines feindlichen Läufers, schob ihn hilflos zurück und sagte am Ende kläglich: »Ich bin wirklich nicht bei der Sache.«

Seine guten, grauen Augen sahen sie ruhig an. »Meinen Sie, daß ich das nicht vom ersten Gruß an gemerkt hätte?«

Sie versuchte zu scherzen: »So ein Anwalt, der immer mit Verbrechern umgeht, hat eben einen gefährlichen Scharfblick.« Aber es kam recht matt heraus.

»Lassen wir mal das Spiel. Wir bringen es heute doch nicht zu großen Taten.«

Er ordnete bedächtig die Figuren in die Schachtel, und sie hatte ein schlechtes Gewissen. »Entschuldigen Sie schon, Herr Doktor.«

Er betrachtete angelegentlich einen weißen Bauern. »Ich entschuldige nur, wenn Sie Vertrauen zu mir haben.«

»Daran fehlt es nicht, und das wissen Sie.«

»Nun also, warum sehen Sie denn so miesepetrig in die Welt? Wo tut es denn weh?«

Sie saßen in seinem Arbeitszimmer in bequemen Sesseln. Die losen Blumen, die sie trotz des strengen Verbots mitgebracht hatte, standen in einer Vase, die gerade so altmodisch war wie die Nußbaumgarnitur mit den Muschelornamenten und wie die Bewohner selber.

In dieses Behagen sollte sie mit ihrer Unruhe kommen? Welch ein falscher Klang kam damit herein! Ihre Blicke schweiften zu den Buchregalen mit den dunklen feierlichen Bänden, den Gesetzbüchern, den Kommentaren, den Jahrgängen juristischer Zeitschriften.

Dr. Bendix, der ihren Blicken gefolgt war, lachte aufmunternd. »Das sieht alles schauderhaft feindlich aus, nöch? Aber das soll nur eine gewisse Klientel ins Bockshorn jagen, Sie nicht, liebes Kind. Sie nicht. Also raus mit der Katz! Sind es wieder mal die zärtlichen Verwandten?«

»Nein, die lassen mich jetzt in Ruhe. Es ist auch nicht viel bei mir zu holen.«

»Sie haben Sie tüchtig ausgeflöht.«

»Geld ist das wenigste, Doktor.«

»Ansichtssache. Wenn alle so dächten, könnten wir Juristen uns morgen allesamt begraben lassen. In Ottensen bei Klopstock oder in Wandsbeck bei Matthias Claudius.«

Sie zuckte bei dem Worte Wandsbeck zusammen: »Zum fröhlichen Wandsbecker« hatte das Lokal geheißen.

»Nein«, fuhr er fort, »Hunger und Liebe sind noch immer die beiden kräftigsten Motore des Menschengetriebes.«

Litte Friese sah ihn verwirrt an. War es nicht, als wollte er ihr das Stichwort zu ihren Erklärungen geben? War dieser gutmütige alte Herr, der immer ein bißchen einem Raabe-Roman entstiegen schien, doch ein besserer Menschenkenner?

Sie war drauf und dran, alles zu erzählen. Aber es war so schwer anzufangen.

»Soll ich mich umdrehen oder die Vorhänge vor die Fenster ziehen?«

Sie wehrte mit einem schwachen Lächeln ab und stürzte sich dann mit einem Satz mitten in ihr Problem: »Glauben Sie, daß es Doppelgänger gibt?«

»Haben Sie keine anderen Sorgen?«

»Es ist sehr bedeutsam für mich, Doktor, oder kann es sein …«

»Vorgekommen sind sie mir in meiner Praxis noch nicht. Und Sie wissen: quod non est in actis, und so weiter. Haben Sie denn sowas erlebt?«

Sie wich aus. »Glauben Sie, daß es eine solche Ähnlichkeit zwischen zwei Menschen geben kann, daß sie auch von Nahestehenden – ich betone dies – von Nahestehenden miteinander verwechselt würden?«

»Bei Kindern, ja. Bei Zwillingen etwa. Ich sah selbst solche im letzten Jahr in Oberstdorf im Allgäu. Zwei Mädelchen, die selbst die Mutter nur an den verschiedenen Schürzen unterschied. Aber für mich sehen alle Kinder egal aus, wie Nigger für den Europäer.«

»Es handelt sich nicht um Kinder.«

»Dann halte ich es für ausgeschlossen.«

»Aber es soll doch dergleichen geben.« Sie zählte Lesleys Beispiele auf, ohne viel Entscheidungskraft in ihre Worte legen zu können. Alles klang unwahrscheinlich und konstruiert.

Sie war darum auch nicht verletzt, als er schroff abwinkte.

»Bilder können täuschen. Aber ein vor mir stehender Mensch, der ein Stück Leben hinter sich hat, strömt ein Fluidum aus, das nur er besitzt, und das untrüglich ist. Jeder lebt nur sein Leben, zum mindesten auf die Dauer. Sie und ich – jeder hat solche schützende Atmosphäre um sich.«

»Ich halte es auch für ausgeschlossen –«

»Was ist schließlich ausgeschlossen, wo Welt und Mensch täglich neue Wunder ausbrüten! Kennen Sie denn so ein Phänomen?«

Sie zögerte. »Ich glaube, es zu kennen.«

Er streifte nachdenklich seine Zigarrenasche ab, ihren entmutigten Blick vermeidend, und fragte vorsichtig: »Sind also Dinge passiert, die Sie überhaupt an solche Phänomene glauben machten?«

»Ja. Aber Sie sollen nun selber urteilen. Ich will erzählen, was ich weiß.« Wieder zauderte sie, um dann leise zu bitten: »Drehen Sie sich doch lieber um, Doktor!«

Er gehorchte mit einem kleinen Lachen. »Je schneller Sie's sagen, desto einfacher ist's für Sie. Es ist wie bei Operationen und Gerichtsverhandlungen. Seien Sie so tapfer, wie Sie immer waren!«

»Gut. Es handelt sich um einen Bekannten … um den Verlobten meiner Freundin … nein, ich will nicht lügen. Es handelt sich um einen Mann, der mir nahe steht.«

»Das wußte ich die ganze Zeit über. Weiter.«

Nun erzählte sie alles, was sie wußte, und was sie gehört hatte, was sie erlebt hatte und erlebt zu haben – glaubte. Dann kam eine lange Pause.

Endlich sagte Dr. Bendix langsam: »Dafür … für all das, was Sie eben berichteten, gibt es auch eine andere Erklärung. Man braucht dazu nicht das Theaterrequisit des Doppelgängers zu beschwören.«

»Was für eine? Ich habe mir mein Hirn wund zerdacht und nichts, aber auch nichts gefunden.«

Der alte Herr drehte sich wieder herum und griff nach ihrer Hand. »Sie müssen jetzt das Genick steif machen, liebes Kind. Es handelt sich hier meiner Meinung nach um einen Krankheitsfall, also um etwas, das man heilen kann.«

»Krankheit?«

»Eine psychische Anomalie. Haben Sie jemals von dem Fall des Senators Debbert gehört?«

»Nein.« Ihre erschrockenen Augen starrten ihn groß an.

»Nun ja, Sie sind auch noch ein Küken, und es war vor Ihrer Zeit. Ich will mich kurz fassen. Dieser Senator war ein feiner, gebildeter, kultivierter Mann, der sich aus engen, kleinen Verhältnissen emporgearbeitet hatte. Seine Großeltern waren noch Gastwirte am Hafen gewesen, in so einer Fleegenwirtschaft, wissen Sie. Er galt als entzückender Plauderer und erinnerte überhaupt in nichts an seine dürftige Herkunft. Und er hat doch zu gleicher Zeit abends und nachts ein zweites Leben geführt, ein wildes, abenteuerliches Leben, um das ihn jeder Matrose eines Indienfahrers beneidet hätte. Er soff und boxte sich mit den Negern und Malaien in den Hafengassen. Er war Stammkunde in den Dirnengassen. Er hat mit graugewordenen Verbrechern Dinge gedreht, die ich hier nicht aufzählen will. Und tagsüber war er ein fleißiger Arbeiter in seinem Dezernat, wegen seiner Freundlichkeit und seines sozialen Verständnisses bei allen Untergebenen beliebt und, wie gesagt, ein Held der Gesellschaft.«

»Ein Doppelleben? Wie hat man das herausgebracht?«

»Er wurde im Kattrepel – kennen Sie diese anmutige Straße? – von einem Mulatten niedergeschlagen und kam ins Hafenkrankenhaus. Keiner ahnte, wer er war. Denn natürlich hatte er in seiner Hafenkleidung keine Papiere bei sich. Aber gleichzeitig war Senator Debbert verschwunden. Man veröffentlichte sein Bild, und so kam es raus.«

Litte Friese wehrte sich instinktiv gegen die dunkle Wolke, die über ihr aufstieg. »Das ist ein ganz anderer Fall. Daß einer am Tage die engen Grenzen der Gesellschaft einhält, um nachts sich durch Ausschreitungen gewissermaßen zu entschädigen, das würde ich zur Not erklären können. Es handelt sich hier vielleicht um Rebellion der unterdrückten Instinkte, die sich so schrecklich austobt. Das alles trifft nicht meinen Fall.«

»Ich vergaß etwas Wichtiges. Man stellte einwandfrei, hören Sie: einwandfrei! fest, daß er von seinem Doppelleben nichts wußte. Er wußte am Tage nichts von seinen nächtlichen Exzessen, nichts als seine Müdigkeit mahnte ihn daran. Er ist unter einem ihm unerklärlichen Zwang dazu gekommen, wie andere zur Kleptomanie. Der Fall ist damals in juristischen Zeitungen – besonders nach der Richtung seiner Verantwortlichkeit – gründlich durchgesprochen worden. Es ist kein Zweifel, daß es sowas gibt.«

Von einer wilden, überwältigenden Angst gejagt, fuhr Litte Friese empor. »Aber es ist doch unmöglich, daß ein Detlev Huygens – –«

Er hielt sich die Ohren zu. »Ich habe keinen Namen gewünscht oder gehört. Ich habe Ihnen nur eine Erklärung für einen rätselhaften Fall geben wollen.« Und er setzte schnell hinzu: »Ich kann mich natürlich auch irren. Wahrscheinlich irre ich mich sogar.«

»Nein, nein«, wehrte sie, aufgewühlt bis ins Innerste, ab. »Sie irren sich nicht. Ich fühle es, wie ich ein Gewitter im voraus fühle: bis in die letzten Nervenspitzen. Sie irren sich nicht.«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht, und der alte Anwalt sah bedrückt das Zucken ihrer schmalen Schultern.

Er erhob sich und ging langsam um den Tisch zu ihr herum. »Kopf hoch, Kind!« sagte er leise. »Es kann doch noch alles gut werden. Es muß. Und wenn ich mich irre – –«

Litte Friese wiegte den Kopf. »Es stimmt alles … alles … so erklärt sich alles …«


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