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Eine unerwartete Begegnung

Aino stieß einen Schrei aus und stützte sich erschrocken gegen die Filztür, die langsam zuglitt.

»Gott sei Dank,« dachte Krag bei sich, »dann kann der nebenan uns nicht hören.«

Fräulein Erko war so verblüfft über die Anwesenheit eines Fremden, daß sie ihn ganz zu fragen vergaß. Darum bekam Krag Zeit, sie näher zu betrachten.

Sie trug wie gewöhnlich einen einfachen Kostümrock, aber die Bluse war auf der Brust mit einer Brillantnadel zusammengehalten, und ihre Frisur, die ihr übrigens vorzüglich stand, ließ ahnen, daß sie in den Händen einer dieser unvergleichlichen Kopenhagener Haarkünstlerinnen gewesen war, die ihre elegante Kunst in den berühmten Straßen in der Nähe der Opera-Avenue erlernt hatten.

»Sie ist sehr nervös,« dachte Krag, »wenn sie nur nicht zu ihrem Chef hineinläuft.«

War es aber möglich, daß ihr Gemütszustand allein mit dem Umstand zusammenhing, daß sie einen fremden Herrn antraf? Sie war wirklich sehr erregt. Ihr Gesicht und besonders ihre verstörten Augen verrieten Verzweiflung. Gott weiß, ob sie nicht auch geweint hatte.

»Ich möchte Herrn Christensen sprechen,« sagte Krag schnell, »darf ich Ihnen meine Visitenkarte geben.«

Er zog seine Brieftasche und suchte darin nach einer Visitenkarte. Er wollte ihr Zeit lassen, sich zu fassen.

»Sind Sie Däne?« fragte sie.

»Nein,« antwortete er, »ich bin Franzose, das heißt, ich bin aus Lothringen, aber ich lebe seit einigen Jahren in Kopenhagen. Leider habe ich meine Visitenkarte vergessen. Mein Name ist Marx, Fräulein, darf ich Sie bitten, mich anzumelden. Fabrikant Marx aus Straßburg.«

»Warum stehen Sie dort?« fragte sie und zeigte auf die Stelle, wo er stand. Sie machte eine Miene, als wollte sie ihn in einer äußerst wichtigen Sache zur Rechenschaft ziehen. Sie stützte sich mit dem Rücken gegen die Paneeltür, ihre rechte Hand ruhte auf dem Drücker. Krag sah mehr und mehr ein, daß es nicht seine unerwartete Anwesenheit allein war, die sie so aus der Fassung gebracht hatte. Er hielt es für richtig, jetzt selbst etwas konsterniert zu sein. Indem er einen gekränkten Ton anschlug, sagte er mit dem Akzent eines Ausländers:

»Ich habe hier bereits mehrere Minuten gewartet, mein Fräulein. Als niemand kam, habe ich mir erlaubt, die Bilder an den Wänden zu betrachten. Warum ich gerade hier stehe, kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Ich nehme an, mein Fräulein, daß ich Herrn Christensens Privatsekretärin vor mir habe. Ich möchte Ihren Chef in einer Geschäftsangelegenheit sprechen und werde ihn nicht lange aufhalten.«

Aino löste sich von der Tür und ging auf den Schreibtisch zu. Offenbar hatte Krags freundliches und bescheidenes Wesen sie beruhigt. Sie versuchte einen Ton kalter Höflichkeit anzuschlagen, doch merkte Krag, wie schwer es ihr fiel.

»Dort drinnen ist etwas passiert,« dachte er bei sich und erinnerte sich des heftigen Ausrufs, den er gehört hatte: Nie, nie, nie!

»Kennen Sie Herrn Christensen?« fragte sie.

»Wer kennt nicht Herrn Christensen,« sagte er, »ich meine, in der Geschäftswelt, wer kennt nicht den großen Reeder, Herrn Joh. P. Christensen. Ich möchte ihm ein Geschäft vorschlagen.«

»Kennen Sie ihn persönlich?« fragte sie ungeduldig.

»Persönlich nicht, mein Fräulein –«

»Kennt er Sie?«

»Damit wage ich mir nicht zu schmeicheln.«

»Wie kommen Sie denn zu dieser Zeit hier herauf? Hat der Portier Ihnen nicht gesagt, daß Herr Christensen nicht empfängt?«

»Der Portier?« fragte Krag mit kleidsamer Naivität. »Den Portier habe ich gar nicht gesprochen. Ich las Herrn Christensens Namen in der Zeitung, und da ich ihm ein großes Geschäft vorzuschlagen habe –«

Fräulein Aino wurde immer sicherer und abweisender.

»Herr Christensen empfängt niemanden,« sagte sie.

»Schläft er vielleicht?«

»Nein, er hat eine wichtige Konferenz. Er hat mir ausdrücklich gesagt, daß er nicht gestört werden will.«

Krag knöpfte seinen langen Bratenrock auf und ließ sich ohne weiteres in einem Klubsessel nieder, strich sich selbstzufrieden den Bart und sagte:

»Ich habe keine Eile, mein Fräulein, ich kann warten. Grüßen Sie Herrn Christensen und sagen Sie ihm, daß ich mit Vergnügen warte, bis er die Freundlichkeit haben wird, mich zu empfangen. Sind Sie kürzlich im Theater gewesen, mein Fräulein?«

Aino machte eine ungeduldige Bewegung.

»Ihr Name,« sagte sie, »ich werde Sie melden. Aber ich wiederhole, Herr Christensen wird Sie nicht empfangen. Ich werde ihm übrigens sagen, daß Sie sehr aufdringlich sind.«

Krag verbeugte sich.

»Marx,« sagte er, »das ist leicht zu behalten. Es ist ein berühmter Name. Leider gehöre ich nicht zu der berühmten Familie.«

Aber in dem Augenblick, als Aino hinausgehen wollte, um ihn zu melden, hörten sie ein leises Poltern hinter der Filztür. Aino blieb unbeweglich am Schreibtisch stehen. Krag, der sie die ganze Zeit genau beobachtet hatte, dachte im stillen, wer wohl am neugierigsten sei: sie oder er.

Gleich tritt Jos herein, sagte Krag sich selbst. Ob er ihn wohl trotz der Maskierung erkennen würde?

Die grüne Filztür ging auf und ein Herr trat raschen Schrittes ins Zimmer. Er entdeckte Krag sofort und blieb wie festgenagelt stehen, während die Tür lautlos hinter ihm ins Schloß fiel. Beim Anblick des Eintretenden sprang Krag auf. Der Detektiv war so erstaunt, gerade diesen Mann hier zu sehen, daß er nicht aus Höflichkeit aufgestanden war, sondern um instinktiv eine Verteidigungsstellung einzunehmen. Der Eintretende war nicht Jos.

Es war Suron.

Suron war in großer Gala. Der Abendmantel hing ihm lose um die Schultern, der Zylinder war nachlässig in den Nacken geschoben. Unter dem Arm trug er einen geckenhaften Spazierstock. Er sah wirklich fabelhaft aus, wie ein Kabarettsänger. Krags Gruß beantwortete er kaum, sondern sah Aino streng fragend an.

»Dieser Herr will Herrn Christensen absolut sprechen,« erklärte sie. »Er ist Ausländer, heißt Marx und ist aus Straßburg.«

»Haben Sie ihm nicht gesagt, daß Herr Christensen beschäftigt ist?« fragte Suron.

»Ja, aber er hat gesagt, daß er warten will.«

»Mein Herr,« sagte Krag, »warum nehmen Sie nicht Ihren Hut ab, wenn Sie mit einer Dame sprechen?«

»Sind Sie verrückt?« fragte Suron und schwang seinen Spazierstock durch die Luft. »Wie in aller Welt ist der Mensch hereingekommen?« wandte er sich an Aino.

»Er stand dort am Telephon,« erklärte Aino.

Suron ging hastig zum Schreibtisch und las den Brief auf der Schreibmaschine.

»Es steht nichts weiter drin,« sagte er halblaut.

Darauf trat er wieder an Krag heran.

»Was wollen Sie hier?« fragte er kurz.

»Herrn Christensen sprechen. Ich habe ihm einen glänzenden Vorschlag zu machen.«

»Sie hören doch, daß Herr Christensen nicht zu sprechen ist, er empfängt niemanden. Hier kommen viele Leute mit dummen Ideen und Vorschlägen. Herr Christensen hat an ganz andere Sachen zu denken.«

»Dumme Ideen,« wiederholte Krag erbittert. »Meine Idee ist eine Erleuchtung, mein Herr. Herr Christensen und ich könnten viel Geld damit verdienen. Millionen! Verstehen Sie, mein Herr? Milli–onen!«

Suron stützte sich auf seinen Stock und betrachtete den anderen forschend. Er machte eine Bewegung mit dem Kopf zum Telephon.

»Was hatten Sie dort zu schaffen?« fragte er.

Krag sprach mit moralischer Entrüstung:

»Glauben Sie, daß ich neugierig bin, mein Herr?«

Suron fragte:

»Wollen Sie jetzt gehen, oder soll ich die Bedienung herbeirufen und Sie hinauswerfen lassen?«

Krag schlug sich theatralisch auf die Brust und schrie:

»Ich lasse mich nicht beleidigen. Uebrigens kann eine Person, die im Zimmer einer Dame den Hut auf dem Kopf behält, mich auch gar nicht beleidigen. Treffe ich Sie anderswo, mein Herr, dann werde ich Ihnen einen Denkzettel auf Ihre weiße Hemdenbrust versetzen.«

Suron wollte sich auf ihn stürzen.

Im selben Augenblick aber warf sich Aino dazwischen, klammerte sich an Surons Arm und bat eindringlich:

»Anders, laß ihn gehen!«

Das wollte Krag hören.


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