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Hundertsechsunddreißigtausend Kronen

Krags Interesse für das Spiel war plötzlich wach geworden. Er selbst spielte nie Poker, kannte das Spiel aber so weit, daß er wußte, Reismann sei jetzt an der Reihe zu doublieren. Er konnte »proponieren«, wie man es nennt. Bei dieser Art Spiel verdienen die richtigen Pokerspieler sich ihre Sporen. Außer dem Doublee kann man auch Teilung vorschlagen, oder man kann proponieren, daß der Gegenspieler einen Teil des Einsatzes, zum Beispiel ein Fünftel erhält, wenn er verzichtet. Hat ein Spieler gute Karten, ist seine Stellung bei diesem Auf-Akkord-Gehen natürlich günstig, aber auch ein Spieler mit schwachen Karten kann durch kühne Gebote und Vorschläge seinen Gegenspieler in dem Maße bluffen, daß er mit heiler Haut davonkommt.

Der Markenhaufen, der jetzt auf dem Tisch lag, stellte einen Wert dar von achtundfünfzigtausend Kronen. Das Spiel stockte, und Stenesen, der an der Reihe war zu bieten, hatte durch sein »Nein« weitere Gebote verhindert.

Damit wäre das Spiel tatsächlich zu Ende gewesen. Reismann hätte verlangen können, daß die Karten gezeigt werden sollten, und hätte dann unbedingt auf seine vier Asse gewonnen.

Teils aber war es Sitte, weitere Vorschläge des Gegenspielers abzuwarten, teils konnte Reismann durch geschicktes Manövrieren noch einige Tausende auf den Tisch locken. Kurz und gut, er überlegte Surons Worte tief und sagte dann mit kleidsamer Bescheidenheit:

»Unser finnischer Freund hat mir einen guten Rat gegeben. Ich doubliere indessen nicht, da ich Stenesen nicht gern in die Lage bringen möchte, eine abschlägige Antwort zu geben –« (»Oh, dieser Humbug!« dachte Krag.) »– aber ich habe einen anderen Vorschlag ...«

Reismann zählte Marken ab, die den Wert von fünftausend Kronen hatten, und schob sie zu Stenesen hinüber, indem er sagte:

»Ich biete Stenesen diese fünftausend Kronen, damit er verzichtet. Dann brauchen wir die Karten gar nicht zu zeigen.«

Damit beugte er sich vor und legte seine Hand auf den Markenhaufen, um anzudeuten, daß er annähme, sein generöses Angebot sei von vornherein angenommen.

Stenesen grunzte nur. Zwischen den Zuschauern wurde gemurmelt. Einige lachten laut. Man hielt Reismanns Angebot allgemein für Scherz. Stenesen fünftausend Kronen anzubieten, damit er verzichtete, nachdem er über fünfundzwanzigtausend Kronen gesetzt hatte!

Auch Krag hatte sich mehr und mehr von der Spannung hinreißen lassen. Er beschäftigte sich damit, den psychologischen Wert des Spieles zu analysieren, er kannte ja die unüberwindliche Stellung des einen Spielers. Er dachte bei sich: Reismann ist zu übermütig. Er gibt sich nicht nervös genug, um den anderen hereinzulegen. Dies letzte Angebot war wirklich nur eine dumme Geste. Ein scharfer Beobachter muß gemerkt haben, daß Reismann sich verraten hat. Ein Vorschlag zur Teilung wäre besser gewesen, überlegte Krag weiter. Andererseits hätte Reismann dabei riskiert, daß Stenesen sein Angebot annähme, und er um seinen sicheren Gewinn gekommen wäre.

Krag betrachtete die Spieler aufmerksam. Die Augen des dicken Stenesen lagen tief im Kopf, aber an Schärfe fehlte es ihnen nicht, sie waren wie zwei schwarze, brennende Flecke. Stenesen grunzte wieder, unbegreiflich, geheimnisvoll, doch klang ein gewisser gutmütiger Ton hindurch, der durchblicken ließ, daß er Reismann durchschaut habe. Er schien sagen zu wollen: »Warte, mein Junge, jetzt habe ich dich.«

Stenesen schob die fünftausend zurück, so überlegen und nonchalant, als striche er Asche vom Tisch.

»Kindereien!« brummte er. »Da du aber von fünftausend gesprochen hast, so laß uns noch jeder fünftausend setzen.«

Er schob Marken im Wert von fünftausend Kronen hin.

»Meinetwegen gern,« antwortete Reismann und setzte denselben Betrag. Darauf zündete er sich mit augenfälliger Ruhe eine Zigarre an.

Auch dies mißfiel Krag, der das bestimmte Gefühl hatte, daß Reismann vor allem seine Rolle zu spielen versuchte. Da gefiel ihm der dicke Stenesen viel besser, der nur grunzte und trank, dessen Augen aber wach und scharf in dem fetten, blassen Gesicht blitzten. Krag dachte bei sich: Stenesen muß jetzt doch gemerkt haben, daß Reismann seiner Karten sicher ist. Er selbst kann es nicht sein. Wie er sich wohl schließlich aus der Affäre zieht? Vorläufig ist er mit weiteren fünftausend ins Netz gegangen.

»Das Spiel ist jetzt achtundsechzigtausend Kronen wert, meine Herren,« sagte der Inspektor.

»Hast du noch einen Vorschlag zu machen, Reismann?« fragte Stenesen.

Reismann klopfte gemessen die Asche von seiner Zigarre, und Krag wartete mit einem peinlichen Gefühl auf seine Antwort. Darauf blies er einige feine, blaue Rauchringe über den Tisch, die sich über die neugierigen, stummen Zuschauer verflüchtigten. »Oh, diese verfluchte melodramatische Zigarre!« dachte Krag ganz erbittert.

Dann aber sagte Reismann plötzlich:

»Ich schlage vor, daß wir doublieren oder ... teilen!«

Krag horchte auf. Das war wirklich großartig. Das war Hasard. So hatte Reismanns Lust am Hasard also doch noch seine Freude am Komödiespielen übertrumpft. Er bietet Doublieren oder Teilen an, mit anderen Worten, er kann den doppelten Einsatz gewinnen, aber er muß auch darauf gefaßt sein, daß Stenesen die Teilung annimmt, die Teilung des ganzen Einsatzes, und in solchem Fall wird das ganze Spiel gleich mit plus minus null. Jedenfalls aber hat er erreicht, daß Stenesen jetzt disorientiert ist. Reismanns Angebot kann ein Zeichen dafür sein, daß es schlecht um ihn bestellt ist, und wenn Stenesen diesen Glauben hat, dann hat Reismann den wesentlichsten Triumph im Poker erreicht: dem Gegenspieler eine falsche Meinung beizubringen. Außerdem hatte Reismann seine Position in hohem Maße gestärkt. Er konnte jetzt Komödie spielen oder nicht, seine Angebote würden auf alle Fälle so weitgehende doppelseitige Konsequenzen enthalten, daß Stenesen von jetzt ab nur noch im Ungewissen schweben konnte.

Mehr Menschen strömten hinzu, um diesem merkwürdigen Spiel beizuwohnen. Krag machte die Beobachtung, daß der Finne Suron sich bis zu Stenesen durchgedrängt hatte. Aller Augen waren auf Stenesen gerichtet.

»Ein schweres Spiel,« sagte Stenesen, »ein verflucht schweres Spiel!«

Einen Augenblick war es, als ob die Spannung förmlich durch die Totenstille um den Tisch tönte. Sollte er Teilung annehmen? ...

Da aber sagte Stenesen:

»Ich fordere zur Teilnahme auf.«

Und bevor noch jemand Zeit gefunden hatte zu antworten, erklang Surons Stimme:

»Ich übernehme den Anteil beim Doublieren!«

Diese Worte wurden sofort mit munterem Lärm aufgenommen. Natürlich, hieß es allgemein, hier mußte Suron dabei sein. Er ist unverbesserlich, sagte einer. Er verbrennt sich, meinte ein anderer. Durch alle Ausrufe aber klang ein Unterton von Bewunderung. Suron war sehr beliebt. Und er hatte immer eine Art zu spielen, bei der sogar das Herz eines ungarischen Magnaten höher schlagen konnte.

In einem Fall wie diesem, wenn keiner der Umstehenden die Karten der Spielenden gesehen hatte oder sieht, gestatteten die Regeln des Klubs, daß einer der Zuschauer sich an der Partie beteiligen durfte, indem er Gewinn oder Verlust zur Hälfte mittrug. Nun also hatte Suron sich als Kompagnon gemeldet und auf Stenesens Seite gestellt.

Von diesem Augenblick an war Krags Aufmerksamkeit ausschließlich auf Suron gerichtet. Der Detektiv saß so, daß er den Finnen gerade vor sich hatte. »Armer Kerl,« dachte er, indem er nachrechnete, »der Spaß wird ihm vierunddreißigtausend Kronen kosten. Das ist doch Geld.« Gleichzeitig aber hatte er ein beunruhigendes Gefühl. Würde vielleicht noch etwas Unerwartetes eintreffen?

»Ich akzeptiere,« sagte Reismann.

»Keine weiteren Vorschläge?« fragte Suron.

»Ich habe genug,« antwortete Reismann, »wenn die Herren keinen Vorschlag mehr machen wollen?«

In Surons Zügen leuchtete es auf.

»Wie,« dachte Krag bei sich, »will er das Spiel noch höher treiben?«

»Das Spiel ist jetzt hundertsechsunddreißigtausend Kronen wert,« teilte der Inspektor kalt und geschäftsmäßig mit.

Stenesen ließ seine gewaltige Tatze mit einem Bums auf den Tisch fallen und rief:

»Genug! Schluß!«

Wie es Krag schien, ging ein Ausdruck von Enttäuschung über Surons Gesicht.

Alles drängte jetzt um den Tisch, und der Inspektor öffnete den kleinen Holzschrein, aus dem er die drei versiegelten Pakete nahm.

»Ich darf Sie bitten, meine Herren, die Pakete zu prüfen, ob die Siegel in Ordnung sind.«

Die beiden Spieler untersuchten die Siegel. Alles war in Ordnung.

Zuerst öffnete Stenesen sein Paket und legte die Karten auf den Tisch. Es waren vier Könige und eine Zehn.

»Vier Könige!« murmelte Reismann, indem er nervös das Siegel seines Pakets erbrach. »Nicht übel. Was aber sind vier Könige, meine Herren, gegen ...«

Er legte triumphierend seine Karten auf den Tisch, ohne sie anzusehen und fuhr mit einer flotten Handbewegung fort:

»... gegen vier Asse, meine Herren!«

Eine zehntel Sekunde herrschte tiefes Schweigen. Alle beugten sich über den Tisch, guckten über die Schultern der Zunächststehenden und drängten nach vorn ... Dann aber löste sich die Spannung in einen wilden Sturm von Gelächter und Ausrufen. Niemals hatten die Räume des Freisinnigen Klubs von solchen Lachsalven und wildem Geschrei widergeklungen. Man tanzte herum, schlug sich auf die Schenkel, umarmte sich und gab sich allen möglichen Ausdrücken des tollsten Entzückens hin.

Der einzige, der sich ruhig verhielt, war Reismann. Er saß und starrte seine Karten wie verhext an.

Es war nämlich nicht ein einziges Aß zwischen diesen Karten. Da waren eine Treffsieben, eine Karozwei, eine Pikzehn, eine Coeurfünf und ein Bube. Es war nichts, rein nichts, nicht mal ein einziges Paar!

Reismann war blaß geworden. Er stöhnte schmerzlich, sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, und seine Hand griff nach dem Herzen. Nach dem Herzen. Wo die Brieftasche zu stecken pflegt.


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