Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Die Zeitung wird diese Notiz noch aufnehmen können,« sagte er. »Die Redaktion ist allerdings geschlossen, aber ich werde es selbst in die Druckerei bringen.«
Er las vor, was er geschrieben hatte:
»Morgen liest alle Welt diese Notiz in der Zeitung,« fuhr Oedegaard fort, »daß sie an auffälliger Stelle zu stehen kommt, dafür werde ich sorgen. Es wird eine Sensation geben. Alle Zeitungen werden die Sache aufnehmen, alle Menschen werden sich dafür interessieren, und es müßte seltsam zugehen, wenn in einer Stadt mit so durchsichtigen Verhältnissen das Rätsel nicht bald seine Lösung findet.«
Doktor Ovesen hatte indessen Bedenken.
»Ist es nicht gewagt, die Sache an die Oeffentlichkeit zu bringen?« meinte er. »Damit müßte man vielleicht noch warten.«
»Das kommt auf die Auffassung an,« sagte Oedegaard. »Meinen wir, daß unsere Freunde in Gefahr sind, dann ist es unsere Pflicht, nicht eine Sekunde länger zu zögern, sondern alles in Bewegung zu setzen, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Sind wir dieser Meinung?«
Doktor Ovesen schwankte.
»Ich bin Arzt,« sagte er, »und Sensation und Zeitungsklatsch sind mir zuwider. Andererseits muß ich zugeben, daß die Sache ernst ist. Lassen Sie also die Notiz einrücken.«
»Schön,« rief Oedegaard, »in einer halben Stunde bin ich wieder hier. Ich höre das Auto unten. Ich bitte die Herren, solange auf mich zu warten.«
»Brauchen Sie eine halbe Stunde?« fiel Kapitän Färden ein. »Die Zeitungsdruckerei liegt ja nur einige Minuten von hier.«
»Ich muß auch noch irgendwoanders hin,« sagte Oedegaard – er stand bereits in der Tür – »zum Donnerwetter, ich muß doch Hilfe herbeischaffen.«
»Hilfe? Bei wem?«
»Vielleicht auf der Polizei?« fragte Färden.
»Hu, die Polizei!« rief Ovesen. »Die Sache fängt an, unheimlich zu werden.«
»Ich bin der Ansicht, daß wir die Polizei vorläufig nicht benachrichtigen wollen,« meinte Oedegaard, »aber ich kenne einen Mann, der uns in dieser mystischen Sache von großem Nutzen sein kann. Ihn will ich holen. Auf Wiedersehen in einer halben Stunde, meine Herren.«
In Oedegaards Abwesenheit ergingen die beiden Herren sich in Vermutungen über den Zusammenhang dieser merkwürdigen Affäre. Der Zustand in von Brakels Zimmer hatte Doktor Ovesens Gemütszustand noch verschlimmert, und Oedegaards Eifer hatte ihn stark beunruhigt. Auf Oedegaards dringendes Anraten hütete er sich wohl, etwas an dem Aussehen des Zimmers zu ändern. Mit einem flüchtigen Blick konnte er sich überzeugen, daß von Brakel kein Gepäck mit sich genommen hatte. Das stimmte auch mit der Aussage des Nachtportiers überein. Was aber konnte die Veranlassung zu von Brakels überstürztem Besuch in dem Zimmer sein? Wollte er nur Papiere vernichten? Aber aus welchem Grunde?
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihm so komisch erschien, daß er laut lachen mußte.
»Wenn wir nicht in dem unschuldigen und ereignisarmen Christiania wären,« sagte er, »wenn wir uns zum Beispiel in Rußland befänden, dann könnte ich mir eine glaubwürdige Lösung des Rätsels denken.«
Färden sah ihn fragend an.
Doktor Ovesen fuhr fort: »Diese plötzliche nächtliche Mitteilung, dieses hastige Verschwinden, diese zerrissenen Papiere, sieht das nicht wie die Verhaftung eines Revolutionärs aus?«
Kapitän Färden sah seinen Freund verwundert an.
»Ich muß sagen, lieber Doktor, daß Ihr Scharfsinn in kriminalistischen Dingen mir nicht imponiert. Glauben Sie, daß man einem Arrestanten Zeit nach der Verhaftung läßt, seine kompromittierenden Papiere beiseitezuschaffen?«
Der Kapitän zeigte auf die zerrissenen und halbverkohlten Papiere.
»Und außerdem verhaftet man Leute nicht mit solchen romantischen blauen Briefen. Warum auch sollten unsere Freunde verhaftet werden? Man verhaftet doch keinen Maler, weil er futuristische Bilder malt? Leider, möchte ich sagen. Nein, lieber Doktor, Sie müssen sich etwas anderes ausdenken.«
Ovesen ließ sich ärgerlich ins Sofa fallen und faßte sich an den Kopf. »Ich kann keine andere Erklärung finden,« sagte er, »die Sache bringt mich zur Verzweiflung. Wo bleibt nur Oedegaard? Die halbe Stunde muß doch um sein! Ah, da ist er endlich!«
Ein fast unmerkliches Beben des Zimmers deutete an, daß der Fahrstuhl im Gange war. Er machte ganz richtig im dritten Stockwerk halt. Als die Tür des Liftes rasselnd geöffnet und geschlossen worden war, hörten sie eine Stimme sagen:
»Welche Zimmernummer?«
»Nummer 17. Diesen Weg, mein Herr,« sagte der Nachtportier.
»Das ist nicht Oedegaard,« sagte Doktor Ovesen erstaunt. »Diese Stimme kenne ich nicht.«
Beide Freunde blickten in gespannter Erwartung zur Tür.
Der Eintretende war ihnen vollkommen unbekannt.
Sie erhoben sich und verbeugten sich kühl. Das Erscheinen des unerwarteten Fremden verwirrte sie.
Der Eintretende war ungefähr vierzig Jahre alt, groß und mager, mit einem markanten, glattrasierten Gesicht. Als er seinen Hut abnahm, entblößte er eine Glatze, das Haar an den Schläfen war leicht ergraut. Er entledigte sich seines Ueberziehers und legte ihn mit dem Hut auf einen Stuhl neben der Tür. Er trug einen dunklen Jackettanzug, ein gestreiftes Hemd mit weichen Manschetten und einen Schlips, der von einer dünnen Goldnadel zusammengehalten wurde. Seine ganze Erscheinung hatte etwas Elegantes und Sportsmäßiges. Er trat auf die beiden Herren zu und redete sie mit einer gewissen freimütigen Freundlichkeit an.
»Herr Doktor Ovesen,« sagte er. »Sie kenne ich von Ansehen. Aber Sie, mein Herr, sind mir unbekannt. Mein Name ist Asbjörn Krag.«
Man stellte sich vor, die beiden Freunde aber blieben schweigsam, hauptsächlich, weil sie sich das plötzliche und unerwartete Erscheinen des bekannten Detektivs nicht erklären konnten.
»Es scheint, daß man mich nicht erwartet hat,« sagte Krag, »und dennoch erwarten die Herren offenbar jemanden.«
»Wir warten auf unseren Freund, den Schriftsteller Oedegaard,« erklärte Ovesen.
»Ah, ja, ja. Er rief vor einer halben Stunde bei mir an. Er wollte noch eine Notiz über zwei verschwundene Herren in die Redaktion der Zeitung bringen.«
»Also sind Sie es, der uns helfen soll?«
»Es sieht fast so aus,« sagte Asbjörn Krag lächelnd.
Er blickte sich in dem verwüsteten Zimmer um.
»Nummer 17,« fügte er hinzu. »Ich sah unten im Vorbeigeben auf der Fremdentafel, daß dieses Zimmer von dem Maler von Brakel bewohnt wird. Er ist also der Verschwundene?«
»Ja, von Brakel ist der eine.«
»Wer ist denn der dritte?«
»Der dritte!« rief Doktor Ovesen. »Glücklicherweise sind es nicht mehr als zwei. Außer von Brakel ist nur noch der Direktor der ›Blauen Eule‹, Herr Reismann, verschwunden.«
»Aha! Ja, den kenne ich auch.«
»Sie sprachen von einem dritten,« sagte Doktor Ovesen. »Sie haben mir einen ordentlichen Schreck eingejagt.«
»Ja,« sagte Asbjörn Krag, »es ist wirklich ein dritter auf dieselbe Weise verschwunden.«
»Wer? Wer?« riefen beide Herren wie aus einem Munde.
»Der Schriftsteller Oedegaard ist vor zwanzig Minuten verschwunden,« antwortete Krag, »nachdem er einen Brief in einem hellblauen Kuvert empfangen hatte. Es war in meinem Hause. Und auf Ehre, meine Herren, ich weiß nicht, wo er sich befindet.«