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Krag beantwortete die Frage nicht. Die beiden Herren standen sich unbeweglich in der trüben, flackernden Beleuchtung des Korridors gegenüber.
Plötzlich lachte Reismann auf, ein helles, ansteckendes Lachen, und seine Augen blitzten belustigt. Er glich einem mutwilligen Knaben, der bei einem Streich auf frischer Tat ertappt wird.
»Der dumme Oedegaard hat schuld,« sagte er. »Er kann seine Phantasie nie zügeln. Ich war wütend, als ich hörte, daß er Sie in die Sache verwickelt hatte. Das heißt doch die Dinge zu weit treiben. Aber er hat, wie gesagt, zu viel Phantasie. Er ist ja auch Verfasser.«
»Er ist nicht der einzige, der übertrieben hat,« bemerkte Krag. »Da ist noch ein anderer, nämlich der junge Karl-Erich von Brakel.«
»Wieso? Was hat der verbrochen?«
»Er hat seine alten Wäscherechnungen zerrissen.«
»Seine alten Wäscherechnungen zerrissen,« murmelte Reismann und sah Krag verblüfft an. »Ich begreife nicht, was Sie meinen.«
»Ich werde es Ihnen später erklären. Als alleinstehendes Phänomen ist es nicht leicht zu verstehen. Wir waren um das Schicksal der Herren besorgt.«
»Das war auch beabsichtigt.«
»Ich fange an zu begreifen. Aber daß Sie Ihre Freunde bis zu dem Grad in Angst versetzen wollten!«
Reismann lachte wieder.
»Haben unsere Freunde sich wirklich so um uns geängstigt?«
»Sogar sehr. Besonders Doktor Ovesen hat beinahe den Verstand verloren.«
»Das ist sehr schmeichelhaft,« sagte Reismann. »Wollen Sie bitte vorläufig hier eintreten, Herr Krag. In unser Hauptquartier kann ich Sie erst führen, wenn ich mich mit den anderen beraten habe. Bitte hier.«
Indem er Krag in eines der kleineren Zimmer führte, fuhr er fort:
»Es ist immer ein Wunsch von mir gewesen, meinen eigenen Nekrolog zu lesen, und in diesen Tagen ist er mir fast erfüllt worden. Was haben die Zeitungen nicht alles von mir geschrieben: ›der junge, sympathische Geschäftsmann‹, ›der begabte Künstler‹ usw. Herrlich, wenn man öffentlich so gelobt wird. Als ob man eine günstige Auskunft über sich selbst bekäme!«
»Haben Sie deshalb die ganze Sache in Szene gesetzt?« fragte Krag.
»Nein, das wäre sie nicht wert gewesen. Ein solcher Selbstbewunderer bin ich denn doch nicht.«
»Glauben Sie nicht, daß diese Komödie Ihrer Stellung und Ihren Geschäften schaden kann?«
»Im Gegenteil. Die Menge wird über die Lösung entzückt sein.«
»Die Menge hat sich sehr mit der Sache beschäftigt.«
»Das sollte sie auch,« antwortete Reismann fast stolz und zeigte auf gewaltige Stöße von Zeitungen, die auf dem Fußboden, auf Stühlen und Tischen lagen. »Es ist fast zuviel des Guten gewesen,« fügte er hinzu.
Krag sah sich in dem kleinen Zimmer um. Es war ein ganz gewöhnliches Hotelzimmer, das außer den notwendigsten Möbeln und den Zeitungen nur einen Pelz und einige Toilettengegenstände enthielt.
»Dies ist mein Schlafzimmer,« erklärte Reismann. »Nebenan wohnt Oedegaard.«
»Er befindet sich wohl?«
»Und von Brakel?«
»Nicht weniger. Er ist bei glänzender Laune und arbeitet brillant. Sein Zimmer liegt dort links.«
Krag stutzte.
»Er arbeitet brillant!« rief er. »Er arbeitet – hier? Das verstehe ich nicht.«
»Warten Sie es ab.«
Asbjörn Krag setzte sich auf den einzigen Stuhl, Reismann schwang sich auf den Tisch.
»Sie erwarten noch eine Person?« fragte er. »Oder erwarten Sie noch mehr?«
»Nein, wir erwarten nur noch Jos. Er sollte kommen, nicht Sie. Ich begreife nicht, warum er nicht gekommen ist.«
»Ich hatte erwartet, ihn hier zu treffen,« antwortete Krag. »Er hat Ihr erstes Signal bereits um drei Uhr bekommen.«
»Mein erstes Signal! ...« wiederholte Reismann und sah Krag verwundert an. Plötzlich fragte er:
»Wie haben Sie sich des Autos bemächtigt?«
»Mit Hilfe Ihres Briefes. Ich öffnete den Brief an Jos.«
Reismann drohte ihm scherzhaft mit der geballten Faust.
»Ha, Schurke, jetzt verstehe ich.«
»Es war ein Doppelbrief. Der hellblaue Brief lag in einem großen grauen Umschlag.«
»Das taten wir aus Vorsicht, um nicht den Verdacht der Polizei und der Hotelbedienung zu wecken. Es kam ja darauf an, daß der Brief sicher in das Einzelzimmer des Hotel Continental gelangte. Von welchem Signal aber sprachen Sie? Mein erstes Signal, sagten Sie. Was meinen Sie damit?«
»Einiges an dieser Sache ist mir noch rätselhaft,« antwortete Krag, »etwas aber ist mir klar und ist mir die ganze Zeit klar gewesen, daß die Beteiligten, oder wenn Sie lieber wollen ›die Entführten‹« – Krag lächelte scherzend, und Reismann erwiderte sein Lächeln – »in die ganze Sache eingeweiht waren. Auch Jos war eingeweiht, nicht wahr?«
»Ja, natürlich, sonst hätten wir die Herren ja nicht hier herauslocken können.«
»Gut. Warum ist Jos dann aber nicht gekommen?«
»Weil er den Brief nicht bekommen hat. Den haben Sie ja genommen.«
»Diesen Brief, ja,« sagte Krag und zog den hellblauen Brief aus der Tasche, bei dessen Anblick Reismann zustimmend nickte. »Warum aber ist Jos nicht nach der ersten Aufforderung gekommen?«
Direktor Reismann wurde ungeduldig.
»Sie sprechen von ganz unverständlichen Dingen. Wir haben Jos keinen anderen Brief geschickt als den, den Sie in der Hand halten.«
»Das wäre! Und dennoch hat Jos heute nachmittag um drei Uhr einen Brief von Ihnen erhalten. Er empfing ihn im Kontor, gehorchte unverzüglich dem Befehl und fuhr auf und davon.«
»Diesen Brief«, antwortete Direktor Reismann, »haben wir nicht abgesandt.«
»Wer denn?«
»Ja, das ist mir unbegreiflich.«
Krag überlegte einen Augenblick und sagte darauf:
»Ich weiß nicht, was Sie und Ihre Freunde mit Ihrem Vorhaben beabsichtigen. Ich nehme an, daß es sich nicht nur um einen Scherz handelt, dazu würden Leute in Ihrer Stellung wohl kaum Zeit haben. Jos erwartete seine Berufung und als sie kam, begab er sich unverzüglich auf den Weg. Nun ist diese Berufung nicht von Ihnen ausgegangen, es muß also eine außenstehende Person geben, die auf irgendeine rätselhafte Weise von Ihrem Geheimnis erfahren und es ausgenutzt hat. Jos ist in eine Falle gegangen. Sie müssen zugeben, daß Ihr Scherz eine recht ernsthafte Wendung genommen hat.«
Reismann glitt vom Tisch herunter. Er war plötzlich sehr ernst geworden.
»Außer Jos wußte niemand etwas von dem Geheimnis. Sind Sie sicher, daß er einen hellblauen Brief bekommen hat?«
»Ja. Ist sein Fortbleiben Ihnen nicht Beweis genug dafür? Etwas muß eingetroffen sein, was die Urheber dieser merkwürdigen Komödie nicht vorausgesehen haben.«
Reismann ging ein paarmal durchs Zimmer. Offenbar überlegte er. Dann aber schien er das Ganze von sich zu schieben und rief:
»Unsinn! So etwas kann nicht geschehen.«
»Was kann nicht geschehen?« fragte Krag.
»Hier muß ein Mißverständnis vorliegen,« fuhr Reismann fort. »Die Aufklärung wird wahrscheinlich schneller kommen, als wir glauben ...«
Krag stand auf.
»Gut,« sagte der Detektiv, »da die Herren die Sache so leicht nehmen, brauche ich mir ja auch keine Sorgen darüber zu machen. Es würde mich aber doch interessieren, einen Einblick in das Geheimnis zu bekommen, bevor ich nach Christiania zurückfahre. Mancherlei ist mir noch unverständlich.«
»Ich hatte ebenfalls die Absicht, heute abend nach Christiania zu fahren, um noch vor ein Uhr im Klub zu sein,« sagte Reismann. »Ich möchte nämlich das Pokerspiel fortsetzen. Der Einsatz war fünfzehntausend Kronen. Den Spielregeln zufolge darf der Spielinspektor des Klubs die versiegelten Karten öffnen, wenn ich heute nicht bis ein Uhr da bin, und das Spiel entscheiden. Nun habe ich Lust, noch weitere fünftausend Kronen zu setzen, darum will ich dabei sein. Sie können also mit mir nach Christiania zurückfahren, aber nur unter der Bedingung ...«
»Unter der Bedingung?« fragte Krag.
»Daß Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie nichts von dem verraten, was Sie hier draußen zu sehen bekommen.«
»Mein Ehrenwort gebe ich nicht im voraus,« antwortete Krag, »aber ich erkläre mich von vornherein mit der Entwicklung, die die Sache bisher genommen hat, einverstanden. Der Ernst wird noch zeitig genug kommen.«
»So folgen Sie mir denn,« sagte Reismann. »Und wenn Sie sich später weigern, von dem zu schweigen, was Sie gesehen haben, dann lassen wir Sie nicht wieder fort. Wie sollten Sie das auch anstellen bei diesem Wetter! Hören Sie nur, wie der Schneesturm heult. Und ans Telephon kommen Sie nicht.«
Darauf antwortete Krag nicht. Als sie aber zusammen durch den Korridor gingen, fragte er:
»Riskieren Sie wirklich noch fünftausend Kronen? Sind Sie Ihrer Karten so sicher?«
»Ich habe vier Asse!« antwortete Direktor Reismann.