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Der Brief um drei Uhr

»Wohin ging sie denn sonst noch?« fragte Krag. »Es war doch nicht notwendig, daß sie ausging, um ein Telegramm abzusenden. Das hätte ja der Hoteljunge für sie besorgen können.«

Hansten-Jensen lachte laut auf.

»Sie interessieren sich ja kolossal für die junge Dame,« sagte er, »aber beim besten Willen kann ich sie mit keinem Verbrechen in Verbindung bringen. Was macht eine junge Dame den ersten Tag, den sie in Kopenhagen verbringt? Alle jungen Damen in dem Alter gleichen sich. Sie nahm natürlich ein Auto und fuhr vom Telegraphenamt zum Magasin du Nord.«

»Und was tat sie dort?«

»Hören Sie mal, lieber Freund, hier gelten dieselben Regeln wie bei Herrn Christensen. Wir folgen keinem angesehenen Geschäftsmann in eine Bank, und wir folgen keiner jungen Dame, wenn sie ein Warenhaus besucht. Die junge Finnin kam um vier Uhr zurück. Sie hat ein kleines Zimmer im vierten Stock des Hotels und dort befindet sie sich augenblicklich.«

»Ich kann begreifen, daß Sie an diese Sache nicht recht glauben,« sagte Krag, »und es ist natürlich auch nicht meine Absicht, Indiskretionen zu begehen. Was Sie mir mitgeteilt haben, kann bedeutungslos erscheinen, hat aber doch seine Bedeutung. Suron ist ein guter Bekannter von Jos, und ich finde es sonderbar, daß er ihm beständig ausweicht. Bei der Ankunft, bei der Wahl des Hotels und überhaupt in allem. Noch merkwürdiger ist, daß er Fräulein Erko ausweicht, obgleich ich weiß, daß sie intim befreundet sind. Das letzte Mal trafen sie sich im Zuge, seitdem aber waren ihre Wege getrennt. Warum bleiben sie nicht zusammen? Ich möchte behaupten, daß sie bestimmte Gründe haben, sich nicht zusammen zu zeigen.«

Hansten-Jensen flötete ganz leise eine bekannte Operettenmelodie. Krag machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Nein, Sie irren sich, wenn Sie meinen, daß eine Liebesgeschichte im Begriff ist, sich zu entwickeln, ein dreieckiges Verhältnis: Suron – Aino – Jos. Nein, es gibt zu viele merkwürdige Umstände in dieser Sache, die sich nicht so leicht erklären lassen. Eine solche Lösung würde überhaupt nichts von alledem, das ich merkwürdig finde, erklären. Warum treffen sich Aino Erko und Suron nicht ebenso offenkundig hier wie in Christiania? Und warum versteckt Suron sich? Ein Bericht über Fräulein Erkos Besuch im Magasin du Nord wäre mir übrigens sehr interessant gewesen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Suron dennoch mit seiner hübschen Landsmännin eine Verabredung gehabt hat. Vor kurzem ist ein Paket für ihn aus dem Magasin du Nord abgegeben worden. Wahrscheinlich haben sie dort eine Tasse Tee zusammen getrunken. Das wäre ein echt weiblicher Einfall, nicht wahr. In ein Restaurant wagten sie nicht zusammen zu gehen, aber ein Zusammentreffen in einem Warenhaus wirkt ja so natürlich. Ah, da kommt endlich Abraham.«

Abraham war der Portier dieses einfachen Hotels, der viele Aemter bekleidete, vom Schuhputzen bis zum Servieren von Champagner in den Einzelzimmern. Er war ein ältlicher Jütländer, der etwas Deutsch radebrechte. Er trug eine weiße Schürze und gab sich Mühe, recht vertrauenerweckend auszusehen, dabei war es aber, als ob seine nervösen Finger beständig nach Trinkgeld tasteten.

»Der finnische Herr auf Nummer 17 ist ausgegangen,« sagte Abraham. »Und hier sind die Schlüssel zu seinem Zimmer.«

Hansten-Jensen nahm die Schlüssel.

»Sie verstehen wohl, Abraham,« sagte er, »daß es sich hier nicht um einen Verdacht handelt, wir möchten das Zimmer nur besehen.«

Abraham verbeugte sich mehrfach.

»Gott bewahre,« sagte er, »wenn die Herren das Zimmer besehen wollen, braucht das weiter nichts zu bedeuten. Es ist ja ein interessantes altes Haus. Ich gehe jetzt in meine Loge, wenn ich die Herren bitten dürfte, die Schlüssel vor Ihrem Fortgang dort abzugeben.«

Er machte eine höfliche Verbeugung und verschwand.

Das Seltsamste war, daß sich in Surons Zimmer fast kein Gepäck befand. Eine kleine Handtasche stand da, die einige Kragen, Manschetten, Halstücher und Toilettengegenstände enthielt. Wenn Krag die fast peinliche Eleganz bedachte, mit der Suron in Christiania aufzutreten pflegte, so erschien ihm dieser Umstand sehr sonderbar. Es hatte den Anschein, als ob Suron in größter Eile abgereist sei.

Am Schreibtisch konnte man sehen, daß Suron dort eine Weile gearbeitet hatte. Indessen hatte er alle Papiere mitgenommen, weder in den Schubladen noch in der Handtasche war etwas Schriftliches zu finden.

Aber der Papierkorb.

Suron war so unvorsichtig gewesen, allerhand Papiere wegzuwerfen. Es hatte den Anschein, als ob er seine Brieftasche »aufgeräumt« und dabei Ueberflüssiges kassiert hatte, alte Notizen, Lotteriezettel, Rechnungen und Briefe. Einiges war zerrissen, das meiste aber war nur zerknittert und in den Korb geschleudert.

Da waren Spielabrechnungen auf Bridgeformularen; Photographien von jungen Damen – zerrissen; eine Bankquittung über den Einkauf von finnischen Mark. Diese Rechnung trug das Datum des Tages und war, merkwürdig genug, von der Aktienbank ausgestellt. Suron war also auch in der Aktienbank gewesen. Ein seltsamer Zufall. Dort hätte er leicht mit Jos zusammenstoßen können, den er doch offenbar vermied. Uebrigens hatte er nicht viele Mark gekauft, nur für einige tausend Kronen. Ferner fanden sich im Papierkorb einige Prospekte über norwegische Reederei-Aktiengesellschaften zerknittert. Und ein Zeitungsausschnitt, der eine Uebersicht über die letzte Bilanz der »Dänischen Orient-Gesellschaft« enthielt und eine Aufstellung der neugewählten Direktion. Merkwürdigerweise war Gerichtsadvokat Annebyes Name blau unterstrichen.

Krag betrachtete diesen Zeitungsausschnitt sinnend. Es war nicht so sehr der Inhalt, der ihn beschäftigte, als der Umstand, daß Suron jetzt schon zum drittenmal mit Jos und seinen Unternehmungen kollidierte: mit der Aktienbank, der Orient-Gesellschaft und Gerichtsadvokat Annebye. Natürlich konnte es Zufall sein, aber Krag hatte das bestimmte Gefühl, daß eine Verbindung zwischen Suron und Jos bestand. Es war, als ob Suron die ganze Zeit unsichtbar neben dem anderen wanderte und in sein Schicksal eingriff. Bis auf weiteres aber war es Krag unmöglich, einen Zusammenhang zu finden. Warum war Jos in Surons »Excelsior«-Auto gereist? Warum hatte Suron jenes Telegramm nach Kopenhagen gesandt? Warum hielt Suron sich hier vor Jos verborgen?

Krag suchte weiter zwischen den zerknitterten und zerrissenen Papieren. Da waren nur noch einige gleichgültige Geschäftsbriefe und dann ... ja, was war das?

Krag hielt ein Stück Papier in der Hand, bei dessen Anblick er fast erstarrte. Es war ein hellblauer Briefbogen und darauf stand:

»Lieber Jos!
Du mußt unbedingt auf kurze Zeit zu uns herauskommen, bevor du nach Kopenhagen fährst. Sonst geht unser ganzes Unternehmen in die Brüche. Jonassen erwartet dich mit dem Auto.
Reismann.«

Krag mußte das zerknitterte Schreiben mehrmals lesen. Darauf untersuchte er das Briefpapier sehr genau. Kein Zweifel, es war dieselbe Sorte Papier, die er schon besaß.

Hansten-Jensen begriff, daß Krag etwas sehr Wichtiges gefunden hatte. Er ließ sich den Brief geben und schüttelte den Kopf. Er verstand keinen Ton.

»Mein Gott, Sie sehen aus, als ob Sie in eine andere Welt blickten!« rief er aus.

»Das ist der Brief um drei Uhr,« antwortete Krag geistesabwesend. » Der Brief um drei Uhr!« wiederholte er.

»Der Brief um drei Uhr,« äffte Hansten-Jensen ihm nach. »Sie können nicht verlangen, lieber Freund, daß ich das verstehen soll. Aber ich glaube fast, Sie verstehen es selbst nicht.«

»Wie in aller Welt ist dieser Brief in Surons Besitz gekommen?« fragte Krag sich selbst.

Er trat ans Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die kleinen grünen Scheiben. Darauf drehte er sich wieder zu seinem Kollegen um und betrachtete ihn mit einem abwesenden Blick.

»Ja,« sagte er plötzlich, »das muß ich tun.«

»Was müssen Sie tun?« fragte Hansten-Jensen ungeduldig.

Krag lächelte plötzlich.

»Ich muß das Unterste nach oben kehren,« sagte er.


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