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Fünfzehntes Capitel.
Der sterbende Bote.


Als Romola an den Eingang von San Marco gelangte, fand sie einen der Mönche, der sie bereits erwartete. Monna Brigida verfügte sich in die anstoßende Kirche, und Romola wurde an die Thür des Ordenshauses am äußeren Kloster, wohin der Kranke gebracht war, geführt, denn diese Gränze durfte kein weibliches Wesen überschreiten.

Als die Thür sich öffnete, zeigte das gedämpfte, von draußen einfallende Licht, welches sich mit dem zweier, hinter einem Rollbette aufgestellten Kerzen vermischte, das eingefallene Antlitz Fra Luca's, mit dem tonsurirten, von goldenen Locken umgebenen Scheitel, und den tief eingesunkenen braunen, auf ein Crucifix, welches er vor sich hielt, gerichteten Augen. Er war bis zu einer fast sitzenden Stellung in die Höhe gebettet,und Romola bemerkte eben, indem sie ihren Schleier ablegte, daß noch ein Mönch, mit der schwarzen Kapuze über das Gesicht gezogen, neben seinem Lager stand und sich bei ihrem Eintreten der Thüre zuwendete; sie hatte eben noch Muße, zu bemerken, daß sich im Hintergrund die Gestalt des Gekreuzigten hoch und bleich auf den Fresken der Wand erhob, und blasse, kummervolle Gesichter darunter sichtbar waren.

Im nächsten Augenblicke begegneten ihre Augen denen Fra Luca's, die sich vom Crucifix zu ihr emporrichteten, und der Schreck der Wiedererkennung ergriff sie, welcher diese abgemagerte mönchische Gestalt mit dem Bilde ihres schönen jungen Bruders zusammenhielt.

»Dino!« rief sie mit einem gedämpften Schmerzensschrei, ohne sich über ihn zu neigen, sondern indem sie ungefähr zwei Ellen von ihm entfernt aufrecht stehen blieb. Sie empfand einen unbesiegbaren Widerwillen bei diesem Mönchsanblick, der ihr als ein Brandmal der feigen Pflichtvergessenheit, die ihren Vater so vereinsamt gelassen hatte, und des sklavischen Aberglaubens, der solche Pflichtvergessenheit mit dem Namen der Frömmigkeit bezeichnen konnte, erschien. Ihr Vater, dessen stolze Aufrichtigkeit und Einfachheit des Lebens ihn zu einem der wenigen offenen Heiden jener Zeit gestempelt hatten, hatte sie in einer schweigenden Unkunde aller der Ansprüche erzogen, welche die Kirche haben konnte den Glauben und die Handlungen geistig gebildeter Wesen zu leiten. In ihrem Sinne gehörte die Kirche zu dem gegenwärtigen Leben der bunten Menge, von der sie stets abgesondert gelebt hatte, und sie hatte keine Ideen, nach denen sie für das Verfahren ihres Bruders ein anderes Gefühl hätte hegen können, als das einer gleichgültigen oder unwilligen Mißachtung. Doch hatte Romola's Seelengüte sich an das Bild der Vergangenheit gehalten, und während sie starr aufrecht dastand, lag in ihren Blicken ein sehnendes Suchen nach etwas zu wenig Erkennbarem.

Aber von einer ähnlichen Bewegung zeigte sich keine Spur in dem Gesichte des Mönchs. Er sah auf seine kleine, jetzt in ihrer vollen weiblichen Schönheit zu ihm zurückkehrende Schwester mit dem verschwimmenden Blicke eines wieder auf die Erde kommenden Geistes.

»Meine Schwester!« sagte er mit schwacher und unterbrochener, aber deutlicher Stimme, »es ist gut, daß Du nicht länger gesäumt hast zu kommen, denn ich habe eine Botschaft für Dich, und meine Zeit ist mir karg zugemessen.«

Romola trat einen Schritt näher; sie glaubte, es würde eine Botschaft bereuender Liebe für ihren Vater sein, und ihr Herz begann sich zu erschließen. Nichts konnte die langen Jahre seiner Flucht auswischen; aber der Schuldige, wenn er auf diese Jahre mit dem Gefühle eines unheilbaren Unrechts, das er begangen hatte, zurückblickte, mochte doch noch das Mitleid erregen. Jetzt, im letzten Augenblicke, würde noch Verständigung und Vergebung eintreten können. Dino konnte ja ein kindliches Gefühl laut werden lassen, er konnte nach der Blindheit seines Vaters fragen, wie schnell sie gekommen war? womit er die langen dunklen Tage zugebracht hatte? was sie jetzt für ein Leben in dem Hause führten, in dem er selbst aufgezogen war? und so konnte die letzte Botschaft von sterbenden Lippen noch ein Ausdruck der Zärtlichkeit und der Reue sein.

»Romola,« hub Fra Luca von Neuem an, »ich hatte eine Vision, die Dich betrifft. Zu dreien Malen habe ich sie in den letzten zwei Monden gehabt, und jedes Mal deutlicher. Deshalb kam ich von Fiesole, da ich es für eine Botschaft vom Himmel hielt, die ich verpflichtet war, Dir zu verkünden. Und ich halte es für ein Versprechen der Gnade für Dich, daß ich noch den Odem habe, Dir zu …«

Das schwere Athemholen, das fortwährend seine Rede unterbrach, ließ ihn den Satz nicht vollenden.

Romola fühlte ihr Herz wieder von eisiger Kälte durchdrungen. Diese Botschaft war also eine Vision, eines jener Gesichte, von denen sie ihren Vater so oft hatte sprechen hören. Ihre Empörung machte sich in Worten Luft.

»Dino, ich glaubte, Du hättest einige Worte meinem Vater mittheilen zu lassen. Du verließest ihn, als das Licht seiner Augen ihn verließ. Du hast sein Leben öde und traurig gemacht. Hat Dir das nie eine Sorge geschaffen? Hast Du es nie bereut? Was ist das für eine Religion, die Du die Deine nennst, und die Visionen den Vorrang vor Naturpflichten einräumt?«

Er richtete die tief eingesunkenen lichtbraunen Augen langsam auf sie und ließ sie da einige Augenblicke verweilen, als überlegte er bei sich, ob er ihr eine Antwort geben solle.

»Nein,« sagte er endlich wie vorher mit dumpfem, leidenschaftslosem Tone, als ob seine Stimme die eines übermenschlichen, durch ein sterbendes menschliches Organ sprechenden Geistes sei, »nein; ich habe es nie bereut, den erstickenden Giftodem der Sünde zu fliehen, der mich schwül und dumpf umgab, und meine Sinne wie benebelnder Wein zu überschleichen drohte. Mein Vater konnte die Stimme nicht hören, die mich Tags und Nachts rief, er kannte sie nicht, die höllischen Versucher, die mich zurückhalten wollten, jener Stimme zu folgen. Mein Vater hat mitten unter menschlicher Sünde und menschlichem Elend gelebt, ohne an sie zu glauben; er war wie Jemand, der schimmernde Steine in einem Bergwerke aufsuchte, während über ihm eine Welt an der Pest zu Grunde ging. Ich sprach, aber er hörte mich mit Geringschätzung an. Ich sagte ihm, daß die Studien, denen ich auf seinen Wunsch mich widmen sollte, kindischer Kram, todtes Spielwerk seien, sonst müßten sie von Pulsen, die für weltlichen Ehrgeiz und fleischliche Lüste schlugen, warm und lebendig gemacht werden, denn weltlicher Ehrgeiz und Sinnenlust bilden das ganze Wesen der Poesie und Geschichte, auf die ich, wie er es wollte, meine Augen beständig gerichtet haben sollte.«

»Hat denn mein Vater nicht ein reines und edles Leben geführt?« rief Romola aus, unfähig, länger diese Anklagen gegen ihren Vater stillschweigend mit anzuhören, »er hat keine weltlichen Ehren gesucht; er war stets redlich gewesen; er hat sich selbst jegliches Wohlleben versagt, er hat gelebt wie einer der alten Weisen. Er hat nie verlangt, daß Du für weltlichen Ehrgeiz und Fleischeslust leben solltest, sondern so wie er lebte, nach den reinsten Grundsätzen der Philosophie, in denen er Dich auferzog.«

Romola sprach gleichsam mit mechanischer Fertigkeit, wie alle lebhaften und sympathetischen jungen Leute thun, aber sie sprach aus innerster Ueberzeugung. Eine leichte Röthe flog über ihr Antlitz und sie bebte vom Kopf bis zum Fuß. Ihr Bruder zögerte wieder, zu antworten, indem er ihr leidenschaftlich erregtes Gesicht mit seltsamen, leidenschaftslosen Blicken betrachtete.

»Was waren mir die Grundsätze der Philosophie? Sie geboten mir, stark zu sein, wenn ich mich schwach fühlte, wenn ich, wie der gebenedeite Sanct Benedicto, bereit war, mich auf Dornen zu wälzen und brennende Wunden als Befreiung von der Versuchung zu begehren. Denn die göttliche Liebe hat mich ausgesucht, sie hat mich durchdrungen und ein großes Bedürfniß in mir erweckt, wie eine Saat, die des Platzes bedarf, um zu wachsen. Ich war auferzogen worden in der Vernachlässigung des wahren Glaubens, ich hatte die Lehren unserer heiligen Religion nicht studirt, aber sie schien sich wie eine anschwellende Fluth meiner zu bemächtigen. Ich fühlte, daß es ein Leben vollkommener Liebe und Reinheit für die Seele gebe, in dem keine unruhige Begier nach Vergnügen, keine Furcht vor Leiden herrscht. Ehe ich die Geschichte der Heiligen kannte, hatte ich schon eine Vorahnung ihrer Verzückungen. Denn diese Wahrheit war sogar in die heidnische Philosophie gedrungen, daß es eine Seligkeit innerhalb des Bereichs der Menschheit ist, für irdische Bedürfnisse abzusterben und in dem Leben Gottes und der unsichtbaren Vollkommenheit zu leben. Aber um Solches zu erreichen, mußte ich der Welt entsagen, keine Liebe, keine Hoffnung hegen, die mich an das Vergängliche fesselten, ich mußte mit meinen Nebenmenschen leben wie menschliche Seelen, die mit dem ewigen unsichtbaren Leben in Verbindung stehen. Dieses Bedürfniß trieb mich unablässig; es kam in Visionen über mich, wenn meine Seele ermattet war von den eitlen Worten, welche die Leidenschaften verstorbener Menschen erzählen, es kam über mich, nachdem ich zur Sünde verlockt war, und mich mit Ekel von dem Geruch des geleerten Bechers abgewendet hatte. Und in Visionen war es auch, daß ich die Bedeutung des Crucifixes sah.«

Er hielt ein paar Augenblicke mühsam athmend inne, aber Romola fühlte kein Bedürfniß, wieder das Wort zu nehmen. Es schien ihrem Geist eben so zwecklos, eine Berührung mit dem dieses der Erde ganz entfremdeten Bruders anzustreben, als mit ihrer Hand nach einem Schatten greifen zu wollen. Sobald seine röchelnde Brust etwas ruhiger geworden war, fuhr er wie folgt fort:

»Ich fühlte, wem ich zu folgen hatte, aber ich sah, daß selbst unter den Dienern des Kreuzes, welche vorgaben, der Welt entsagt zu haben, meine Seele von dem Dunste der Heuchelei, der Wollust und des Stolzes erstickt werden würde. Gott hatte mich nicht erwählt, wie den heiligen Dominicus oder Franciscus, mit dem Uebel in der Kirche und der Welt zu kämpfen. Er befahl mir zu fliehen; ich that die heiligen Gelübde und floh – floh in Länder, wo Gefahr und Verhöhnung und Mangel mich, wie Engel, beständig empor trugen, im Schoose Gottes zu ruhen. Ich habe das Leben eines Einsiedlers geführt, ich habe Pilgern Hülfe dargereicht, aber mein Amt war von kurzer Dauer; der Schleier, der mich von meiner ewigen Ruhe trennt, ist dünn geworden. Ich kam nach Florenz zurück, auf daß ich –«

»Dino, Du kommst zurück, um zu erfahren, ob der Vater noch lebt,« unterbrach ihn Romola, da die Schilderung jenes leidenreichen Lebens wieder den Wunsch nach Einigung und Vergebung in ihr rege machte.

»Ich kam zurück, auf daß ich vor meinem Tode einige Andere von unseren Brüdern anregen möge, die morgenländischen Sprachen zu studiren, was ich leider nicht gethan habe, und zu größeren Zwecken, als die meinigen waren, hinauszuziehen, und schon finde ich sie zu diesen Werken gerüstet. Und da ich kam, Romola, habe ich gefühlt, daß ich zum Theil auch an Dich gesendet wurde, nicht um die Bande irdischer Zuneigung zu erneuen, sondern um Dir die, in einer Vision mir gewordene göttliche Warnung zu überbringen; denn dreimal habe ich diese Vision gehabt. Und alle die Jahre lang, seitdem die Stimme des Herrn mir zuerst rief, während ich noch der Welt angehörte, bin ich von Visionen belehrt und geleitet worden. Denn in der mühsamen Verkettung unserer Gedanken während des Wachens können wir nie überzeugt sein, daß wir nicht unsere Irrthümer mit dem Lichte, das wir erfleht haben, vermengen, aber in Visionen und Träumen sind wir passiv, und unsere Seelen sind ein Werkzeug in der Hand Gottes. Darum lausche meinen Worten, und sprich nichts mehr, denn die Frist ist kurz.«

Romola's Geist empfand einen heftigen Widerwillen, diese Vision mit anzuhören. Ihre Entrüstung war verschwunden, aber nur, weil sie gefühlt hatte, wie der Abstand zwischen ihr und ihrem Bruder immer größer wurde. Während Fra Luca sprach, war die Gestalt eines zweiten Mönchs sichtbar geworden und stand wieder an der andern Seite des Bettes, das Haupt von der Kutte verhüllt.

»Kniee, meine Tochter, denn der Engel des Todes ist zugegen und wartet, bis die Botschaft des Himmels überliefert ist; beuge Deinen Stolz, ehe er Dir durch ein eisernes Joch gebeugt wird,« sprach eine volle tönende Stimme, erschreckend in ihrem Contrast mit derjenigen Fra Luca's. Der Ton war kein gebieterischer, sondern voll ruhiger Selbstbeherrschung und Ueberzeugung des Rechts, mit Güte gemischt. Romola, vor diesem Ton erbebend, sah sich nach der Gestalt an der andern Seite des Lagers um. Sein Antlitz war kaum unter dem Schatten der Kapuze zu erkennen, und ihre Augen richteten sich alsbald auf seine Hände, die über der Brust gefaltet waren und auf dem Saum seines schwarzen Mantels hervortraten. Sie hatten eine ausgesprochene Eigenthümlichkeit, welche der Einfluß der Stimme noch erhöhte; sie waren schön und von durchsichtiger Zartheit.

Romola's Neigung, sich gegen Befehle aufzulehnen, besonders Mönchen gegenüber, die zu verachten man sie gelehrt hatte, hätte sicher irgend eine abstoßende Einzelheit als einen Stützpunkt ergriffen. Aber die Züge waren verborgen und die Hände schienen eine Berufung gegen jede Härte an sich zu haben. Im nächsten Augenblicke nahm die Rechte das Crucifix, um den ermattenden Arm Fra Luca's zu erleichtern, während die Linke seine Lippen mit einem daliegenden feuchten Schwamm benetzte. Während er sich herniederbeugte, fiel die Kapuze zurück und das volle Licht der Kerzen fiel auf die Züge des Mönchs. Diese Züge waren kräftig ausgesprochene, wie sie zu populären Schilderungen passen; da war die starke, gebogene Nase, die vorstehende Unterlippe, der Kranz dicken dunklen Haares über der Stirn, Alles Zeichen von Energie und Leidenschaft; da waren ferner die graublauen Augen, mild unter dunkelbraunen Augenwimpern hervorstrahlend und, gleich den Händen, von scharfer Sinnenempfänglichkeit zeugend. Romola erkannte, daß dieses die Züge des Fra Girolamo Savonarola, des Priors von San Marco, sein müßten, den sie von jeher für gefährlicher als alle anderen Mönche gehalten hatte, weil er mehr lärmte als sie. Ihre Auflehnung erhob sich gegen den ersten Eindruck, welcher sie fast gezwungen hätte, die Kniee zu beugen.

»Kniee, meine Tochter,« wiederholte die durchdringende Stimme, »der Stolz des Leibes ist eine Schranke gegen die Gaben, welche die Seele läutern.«

Er sah sie, während er so sprach, milden, aber unverwandten Blickes an, und wieder fühlte sie den feinen, mysteriösen Einfluß einer Persönlichkeit, durch die einige seltene Menschen die Gabe besitzen, ihre Mitmenschen zu bewegen.

Langsam sank Romola in die Kniee, und während dieser Bewegung überflog sie ein Schaudern; im Aufgeben ihrer stolzen körperlichen Haltung schien auch ihre geistige Stellung verwandelt, und sie fand sich in einem neuen Zustande der Unthätigkeit. Ihr Bruder fuhr also fort:

»Romola, im Düster der Nacht, als ich noch dalag, sah ich das Zimmer meines Vaters, die Bibliothek mit allen Büchern, Marmorbüsten und dem Pult, an dem ich gewöhnlich stand und las; und ich sah Dich, Du zeigtest Dich mir, wie ich Dich jetzt sehe, bleich, mit langem Haar, vor meines Vaters Sessel sitzend. Und am Pulte stand ein Mann, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte; ich blickte hin und wieder hin, und es war wie ein leerer Raum, wie ein ausgewischtes Gemälde. Und ich sah ihn sich bewegen und Dich, Romola, bei der Hand fassen. Und dann sah ich, wie Du den Vater bei der Hand nahmst, und ihr ginget alle Drei die steinernen Treppen hinab auf die Straße, der Mann, dessen Gesicht für mich ein leerer Raum war, voran. Und ihr standet vor dem Altar von Santa Croce, und der Priester, der Euch vermählte, hatte das Gesicht des Todes, und die Gräber öffneten sich und die Todten in ihren Leichengewändern folgten Euch wie eine Hochzeitsprocession. Und Ihr zogt weiter durch die Straßen und die Thore in's Thal hinab, und es däuchte mir, als ob der, welcher Dich führte, Dich rascher fortschleppte, als Du ihm folgen konntest, und die Leichen alle wurden es müde, hinter Euch herzugehen, und kehrten in ihre Gräber zurück. Endlich kamt Ihr zu einem steinigen Platz, wo kein Wasser und kein Baum und kein Gras war; statt des Wassers sah ich aber überall beschriebenes Pergament sich entrollen, und statt der Bäume und Gräser erblickte ich Männer von Erz und Marmor sich erheben und Euch umringen; und mein Vater wurde schwach aus Mangel an Wasser und sank zu Boden, und der Mann, dessen Gesicht für mich nicht da war, ließ Dich los und entfernte sich, und als er dies that, konnte ich sein Antlitz sehen, und es war das Antlitz des großen Versuchers. Du aber, Romola, rangst die Hände und suchtest nach Wasser, und es war keines da. Die Erz- und Marmorgestalten schienen Dich zu verhöhnen und Dir Becher mit Wasser zu reichen, und als Du sie erfaßtest und an des Vaters Lippen führtest, verwandelten sie sich in Pergament. Die Gestalten von Erz und Marmor schienen sich in Dämonen zu verwandeln und Dir den Körper unseres Vaters zu entreißen, und das Pergament schrumpfte zusammen, und überall strömte Blut daraus hervor, und Feuer war über dem Blut, bis Alles verschwand, und die Ebene wieder öde und steinig war, und Du allein warst mitten in der Ebene. Und dann war es mir, als ob die Nacht einbräche, und ich sah nichts mehr. – Zu dreien Malen habe ich diese Erscheinung gehabt, Romola. Ich glaube, es ist dieses eine Offenbarung, für Dich bestimmt, um Dich vor der Ehe als vor einer Versuchung des bösen Feindes zu warnen; sie ruft Dir zu, Dich ganz zu widmen der – –«

Die Unterbrechungen waren immer häufiger und länger geworden, und jetzt zwang ihn ein heftiger Anfall von Röcheln, während dessen seine Augen sich auf das Crucifix wie auf ein entschwindendes Licht hefteten, aufzuhören. Bald aber hatte er wieder so viele Kräfte gesammelt, um, wenn auch mit schwächerer, kaum hörbarer Stimme, fortzufahren:

»Sie ruft Dir zu, die nichtige Philosophie und die verderbten Gedanken der Heiden bei Seite zu lassen, denn in der Stunde der Pein und des Todes wird ihr Stolz zu Schanden werden, und die unreinen Götter werden – –«

Die Worte verklangen.

Trotz des Gedankens, der in Romola aufgestiegen war, und der ihr sagte, daß diese Vision weiter nichts als ein von Jugenderinnerungen und ideellen Ueberzeugungen genährter Traum sei, war sie doch von einem seltsamen Schreck befallen. Ihr Geist gehörte nicht zu denen, die sich von krankhaften Phantasieen überfallen lassen, sie besaß den lebendigen Verstand und die gesunde menschliche Leidenschaft, welche die beständigen Wechselbeziehungen der Dinge zu klar erkennen, als daß sie irgend eine nervenschwache Sehnsucht nach dem Uebergewöhnlichen hegen. Dennoch verstimmten und beunruhigten die Gebilde jener Vision, die sie verachtete, ihr Gemüth, wie ein schmerzliches und grauenhaftes Geschrei. Auch war es das erste Mal, daß sie einem herannahenden Todeskampfe beigewohnt hatte; ihr junges Leben war düster gewesen, aber sie hatte noch nichts von dem äußersten menschlichen Elend, noch keine nagende Pein, keinen herzzerreißenden Jammer gesehen; und dieser Bruder, der zu ihr in seiner Todesstunde zurückkehrte, kam ihr wie eine schreckliche Erscheinung aus einer unsichtbaren Welt vor. Die bleichen Gesichter des Kummers auf dem Frescogemälde der gegenüber befindlichen Wand schienen sich ihr zu nähern, und sich dem bleichen, auf dem Lager ruhenden Gesichte zuzugesellen.

»Frate,« sagte die sterbende Stimme.

Fra Girolamo lehnte sich über ihn, aber kein weiterer Laut ließ sich einige Augenblicke lang vernehmen.

Dann hörte er: »Romola.«

Auch sie neigte sich über ihn herab; aber es erfolgte eine neue Pause. Die Worte suchten vergeblich sich Bahn zu machen.

»Fra Girolamo, gebt ihr –«

»Das Crucifix,« sagte Fra Girolamo's Stimme.

Es trat kein anderer Laut mehr über die sterbenden Lippen.

»Dino!« rief Romola mit einem leisen, aber durchdringenden Schrei, als sie die Ueberzeugung erlangt hatte, daß das Schweigen des Mißverständnisses nie mehr gebrochen werden konnte.

»Nimm das Crucifix, meine Tochter,« sagte Girolamo nach einigen Minuten; »seine Augen sehen es nicht mehr.«

Romola streckte ihre Hand nach dem Crucifix aus, und diese Handlung schien der Ueberspannung ihres Geistes ein Ende zu machen. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust, sie neigte das Haupt ihrem todten Bruder zu, und weinte laut. Es war ihr, als müsse dieser erste Anblick des Todes ihr von nun an das Licht des Tages ganz anders erscheinen lassen.

Fra Girolamo ging nach der Thür und rief einem Fra converso Laienbruder. – Der Uebers., der draußen wartete. Dann kehrte er zu Romola zurück, und sagte im Tone sanfter Mahnung: »Stehe auf, meine Tochter, und tröste Dich! Unser Bruder ist bei den Seligen; er hat Dir das Crucifix zur Erinnerung an die Warnung des Himmels gelassen, daß es Dir ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit sei.«

Sie erhob sich zitternd aus ihrer knieenden Stellung, zog den Schleier über den Kopf und verbarg das Crucifix unter dem Mantel. Fra Girolamo ging dann voran nach dem Kreuzhof, der jetzt nur vom Sternenlicht und einer Lanterne, welche Jemand, der am Eingang aufgestellt war, trug, erhellt war. Verschiedene andere Gestalten, in das Gewand von Laienbrüdern gekleidet, waren ebendaselbst versammelt; sie gehörten zu den zahlreichen Besuchern von San Marco, welche den Prior sehen wollten und, da sie gehört hatten, daß er sich bei dem sterbenden Bruder im Ordenshause befand, hier auf ihn warteten.

Romola erinnerte sich dunkel an Schritte und Gestalten, die ihr Platz machten, und hörte, wie Fra Girolamo leise sagte: »Unser Bruder ist heimgegangen;« dann fühlte sie, wie eine Hand sich auf ihren Arm legte. Gleich darauf wurde die Thür geöffnet, und sie befand sich draußen auf der Piazza di San Marco, wo sie nur Monna Brigida und den Diener, der die Lanterne trug, vorfand.

Die Frische der freien Luft belebte sie auf's Neue und trug dazu bei daß sie ihre Selbstbeherrschung wiedergewann. Der Austritt, der eben in ihrer Gegenwart beendet worden war, stand schrecklich klar und lebhaft vor ihr, begann aber unter den wiederkehrenden Eindrücken des äußern Lebens zu verschwimmen. Sie beflügelte ihre Schritte mit nervöser Sehnsucht, wieder bei ihrem Vater und bei Tito zu sein; denn waren diese nicht während ihrer Abwesenheit zusammen? Die Bilder jener Vision riefen, während sie sie wie ein böser Traum, von dem sie sich noch nicht losringen konnte, umgaben, desto lebhafter den Wunsch hervor, die theuren Züge zu sehen, die geliebten Stimmen hören, welche sie vom wirklichen Leben überzeugen sollten.

Tito befand sich, wie wir wissen, nicht bei Bardo; sein Geschick wurde von einem schuldbeladenen Gewissen bestimmt, welches ihm den verzweifelnden Glauben einflößte, daß Romola in diesem Augenblicke schon die Kunde dessen habe, was ihre endliche Trennung herbeiführen müßte.

Und die Lippen, welche diese Kunde bringen konnten, waren für ewig geschlossen. Die Voraussicht, welche Fra Luca's Worte Romola empfohlen hatten, war eine solche gewesen, wie sie aus den dunklen Regionen stammt, wo menschliche Seelen ein den menschlichen Sympathieen, die das eigentliche Leben und Mark unserer Weisheit sind, fremdes Wissen suchen. Die Entdeckung, die aus einfachen Gründen kindlicher und brüderlicher Liebe hätte gemacht werden können, war jetzt in ewiges Schweigen gehüllt.



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