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Tito war bald drunten unter der Menge, und trotz seiner gleichgültigen Antwort auf Nello's Frage wegen seiner zufälligen Bekanntschaft, stieg dennoch, während er über die Piazza nach dem Corso degli Adimari ging, ein flüchtiger Wunsch in ihm auf, daß er dem blauen Augenpaar, welches unter dem viereckigen Stück weißen Linnens, das die gewöhnliche Kopfbedeckung der Bäuerinnen bei Festlichkeiten war, nach ihm empor geschaut hatte, wieder begegnen möge.
Er hatte recht wohl bemerkt, daß es Tessa's Züge waren, aber er fand es nicht für gut, dieses zu gestehen.
Was ging die Sache Nello an? Tito besaß einen angeborenen Hang oder, wenn man so will, Talent zum Schweigen, welches gleich anderen Instincten ohne bewußten Grund wirkte, und wie es bei Allen, denen die Zurückhaltung leicht wird, der Fall zu sein pflegt, verhehlte er dann und wann Dinge, die so wenig von einem Geheimniß an sich hatten, wie der Umstand, daß er einen Zug Krähen erblickt hätte.
Aber der flüchtige Wunsch, die niedliche Tessa zu sehen, wurde fast urplötzlich von der zurückkehrenden Erinnerung an den Mönch verdrängt, dessen Gesicht für ihn eines durch nichts Anderes zu ersetzende Ideenverbindung hervorbrachte.
Warum sollte ein krankhafter, vom Fasten erschöpfter Fanatiker gerade ihn besonders angesehen haben und wo auf allen seinen Reisen konnte er jenes Gesicht schon gesehen zu haben sich erinnern? Thorheit! dergleichen unbestimmte Erinnerungen hangen am Geiste, wie Spinnwebe, mit aufregender Lästigkeit; das Beste ist, sie mit einem Strich wegzureißen, und Tito hatte an etwas Angenehmeres zu denken. Während er von dem Corso degli Adimari in eine Nebengasse einbog, hatte er nur Sinn dafür, daß die Sonne bereits hoch stand, und daß die Procession ihn länger, als er wollte, von dem Besuche in jenem Gemache in der Via de' Bardi, wo, wie er wußte, sein Kommen mit Sehnsucht erwartet wurde, abgehalten hatte.
Er fühlte die Scene bei seinem Eintritt dort schon im Voraus: die Freude, die sich strahlend wie das Licht in einer halbdurchsichtigen Lampe über das blinde Antlitz ergoß, die vorübergehende Röthe auf Romola's Wangen und Hals, welche ihr nichts von ihrem majestätischen Wesen raubte, sondern ihr noch den zarten Reiz weiblichen, von dem sonderbar scheinen könnenden, knabenähnlichen Freimuth in Blick und Lächeln erhöhten Zartfühlens verlieh.
Sie waren während der Stunden, welche sie miteinander neben dem Sessel des Greises verlebten, die besten Kameraden.
Sie berief sich stets auf Tito, und er unterrichtete sie, er fühlte sich aber seltsamlich von Romola's majestätischer Einfachheit in Unterwürfigkeit gehalten; er fühlte zum ersten Male, ohne es sich selbst klar zu machen, jene liebende Scheu in der Nähe edler Weiblichkeit, was vielleicht der Anbetung ähnelt, welche die Alten der großen Naturgöttin, die zwar nicht allwissend, deren Leben und Macht aber etwas tiefer und urwesentlicher war als die Wissenschaft, weihten.
Sie waren nie allein beieinander gewesen, und er konnte sich kein mögliches Bild von Liebesscenen zwischen ihnen Beiden im Geiste formen, sondern nur denken und leidenschaftlich wünschen, was, wie er wol wußte, unmöglich war, nämlich, daß Romola ihm eines Tages ihre Liebe gestehen würde.
Einstmals in Griechenland, als er sich über eine Mauer im Sonnenscheine lehnte, schlich sich ein kleines, schwarzäugiges Bauermädchen, die ihren Wasserkrug auf das Gemäuer gestellt hatte, immer näher und näher an ihn heran und forderte ihn endlich schüchtern aus, sie zu küssen, indem sie ihm ganz unschuldig ihre runde, olivenfarbige Wange hinhielt.
Tito war an die in dieser ungesuchten Weise kommende Liebe gewöhnt. Aber die Liebe Romola's würde, das wußte er, in dieser Weise niemals kommen, und würde sie überhaupt kommen? Und doch war dies sein höchstes Augenmerk.
Er stand in der Blüthe seiner Jugend, war, wenn auch nicht leidenschaftlich, so doch eindruckszugänglich; es war eben so unvermeidlich, daß er zu Romola sich in Liebe hingezogen fühlte, als wie daß die weißen Lilien sich im hellen, sonnenbestrahlten Strome abspiegeln; aber er war kein eitler Geck, und fühlte bei sich recht wohl, daß Romola weit über ihm stand. Wie mancher Mann hat nicht ein Gleiches einem großäugigen, einfachen Mädchen gegenüber gefühlt!
Nichtsdestoweniger hatte Tito jene schnellen Erfolge gehabt, welche einige Männer anmaßend gemacht haben würden, oder die ihn in dem Gedanken unterstützt hätten, daß es kein zu großer Eigendünkel sei, wenn er die schmeichelhafte Ueberzeugung hegte, daß er eines Tages der Gatte Romola's sein werde, ja, daß ihr Vater selbst die Vision einer solchen Zukunft für ihn habe.
Sein erster, so glücklich ausgefallener Besuch bei Bartolommeo Scala hatte sich als den Anfang einer immer steigenden Gunst des Secretarius für ihn gezeigt, und hatte ein Resultat gehabt, welches genügt haben würde, Tito zu bestimmen, sich in Florenz gänzlich niederzulassen, selbst wenn die Stadt keinen anderen Magnet für ihn gehabt hätte.
Polizian war Professor des Griechischen und Lateinischen in Florenz, da dort Katheder für diese Sprachen bestanden, wiewol die Universität nach Pisa verlegt worden war; aber lange Zeit hindurch hatte Demetrios Chalkondylas, einer der ausgezeichnetsten und achtungswerthesten der griechischen Auswanderer gleichfalls eine Professur des Griechischen bekleidet, zugleich mit dem zu sehr die erste Rolle spielenden Italiäner.
Chalkondylas war jetzt nach Mailand übersiedelt, und es war kein Gegengewicht, kein Nebenbuhler für Polizian vorhanden, wie die Freunde, welche gerne gesehen hätten, daß er etwas Anstand und Bescheidenheit lerne, ihm wünschten.
Scala war keineswegs der einzige Freund dieser Art und er fand noch verschiedene Andere, welche, wenn sie auch eben nicht zu den durstigen Bewunderern der Mittelmäßigkeit gehörten, die froh waren, bei heißem Wetter mit seinen Versen erfrischt zu werden, dennoch gern bereit waren, sich ihm anzuschließen, um dem Polizian jenen moralischen Dienst zu leisten.
Man kam schließlich dahin überein, daß Tito zu einer Professur des Griechischen verholfen werden sollte, wie es beim Demetrios Chalkondylas von Lorenzo selbst geschehen war, der, obgleich er für Polizian ein wohlwollender Gönner war, durch diesen Präcedenzfall gezeigt hatte, daß in einer solchen Maßregel durchaus nichts Gehässiges lag, sondern daß dieselbe nur vom Eifer für wahre Gelehrsamkeit und für die Ausbildung der florentinischen Jugend eingegeben war.
Tito segelte also mit dem günstigsten Winde, und außerdem, daß er unparteiische Richter überzeugte, wie seine Talente seinem Glücke angemessen seien, trug er dieses Glück so unbefangen und anspruchslos, daß er noch Niemandem dadurch zu nahe getreten war.
Es war vorauszusehen, daß er in die beste florentinische Gesellschaft kommen würde, eine Gesellschaft wo weit mehr Silbergeschirr war als ein Kreis von emaillirtem Silber in der Mitte der Erzschalen, und wo es nicht von der Signoria verboten war, die reichsten Brokatstoffe zu tragen.
Wo wäre auch ein schöner, junger Gelehrter, der die Laute schlagen und ein munteres Lied trällern konnte, nicht willkommen?
Dieses strahlende Gesicht, dieses freundliche Lächeln, diese schmelzende Stimme schienen dem Leben einen Festtagsglanz zu verleihen; gerade wie bei heiteren Musikkreisen und beim Aufziehen von Flaggen Ermüdete und Traurige sich schämen, wenn sie sich zeigen sollen. Das war ein Professor, der ganz sicher die griechischen Classiker bei den Söhnen großer Häuser beliebt machte.
Und das war noch nicht Alles, was Tito an Glücklichem begegnet war; er hatte seine sämmtlichen Edelsteine verkauft, bis auf den Ring, von dem er sich nicht trennen wollte, und war jetzt im Besitz von vollen fünfhundert Goldgulden.
Aber der Augenblick, als er zuerst in den Besitz dieser Summe kam, war auch der entscheidende Moment des ersten ernstlichen Kampfes, den sein leichter, heiterer Charakter zu bestehen hatte.
Ein lästiger Gedanke, von dem er bis jetzt nichts weiter als den seinen Schritten nachschleichenden Schatten hatte sehen wollen, überfiel ihn endlich und bemächtigte sich seiner; er mußte innehalten und sich entscheiden, ob er sich ergeben und gehorchen, oder ob er die Abweisung geben sollte, welche unausbleibliche Folgen mit sich führte.
Es war in dem Zimmer über Nello's Laden, welches Tito jetzt ihm abgemiethet hatte, daß der ältere Cennini ihm den letzten Rest der Summe im Namen Bernardo Rucellai's, des Käufers der Kleopatra, einhändigte.
» Ecco, giovane mio!« sagte der ehrenfeste Buchdrucker und Goldschmied. »Ihr habt jetzt ein hübsches kleines Vermögen, und wenn Ihr meinem Rathe folgen wollt, so laßt Ihr mich Eure Gulden an einem sicheren Orte unterbringen, wo sie zunehmen und sich vermehren können, statt sie Euch für Festgelage und andere bei unseren Florentiner Jünglingen in der Mode seienden Thorheiten durch die Finger gleiten zu lassen. Es ist zu sehr der Brauch bei den Gelehrten gewesen, besonders wenn sie, wie unser Pietro Crinito, glaubten, daß ihre Gelehrsamkeit mit Wohlgerüchen und Stickereien einhergehen muß, mit der einen Hand so lange zu verschwenden, bis sie mit der anderen betteln müssen. Ich habe Euch das Geld gebracht, und es steht bei Euch, klug oder unweise zu wählen; ich werde sehen, auf welche Seite die Wagschale sich neigen wird. Wir Florentiner halten Niemanden für ein Mitglied einer Kunst, bis er seine Geschicklichkeit gezeigt hat und in die Genossenschaft eingetragen worden ist; und kein Mensch ist in der Lebenskunst immatriculirt, bis er gehörig versucht worden ist. Wenn Ihr Euch dazu entschließt, Eure Gulden auf Zinsen wegzugeben, so könnt Ihr mir es morgen mittheilen. Ein Gelehrter kann sich verheirathen und muß stets Etwas für die Morgengabe in Bereitschaft haben.«
Als Cennini die Thür hinter sich geschlossen hatte, wendete sich Tito um, indem das Lächeln auf seinen Lippen erstarb und er seine Augen auf den Tisch heftete, wo die Gulden lagen.
Er machte keine Bewegung, als daß er die Daumen in den Gurt steckte und in jenem starren Zustand verharrte, welcher die concentrirte Richtung der Sinne auf ein inneres Bild bezeichnet.
Ein Lösegeld! wer war es doch, der da sagte, daß fünfhundert Gulden mehr als das Lösegeld für einen Menschen sind? Wenn jetzt unter dieser Mittagssonne, an einer fernen heißen Küste, ein bejahrter Mann mit erhabenen Gedanken und einem glühenden Herzen, ein Mann, der vor langen Jahren einen kleinen Knaben einem Leben des Bettelns, des Schmutzes und der grausamsten Mißhandlungen entrissen, ihn zärtlich gepflegt und Vatersstelle bei ihm vertreten hat, wenn jener Mann sich jetzt unter dieser Sommersonne als ein Sklave plagt, Holz haut und Wasser trägt, vielleicht gestoßen und geschlagen wird, weil er nicht gewandt und thätig genug ist? Wenn er jetzt bei sich selbst sagt: »Tito wird mich auffinden; er brauchte ja nur unsere Manuscripte und Edelsteine nach Venedig zu bringen; er wird Geld erworben haben und nicht ruhen, bis er mich findet?« Wenn dem so war, konnte er, Tito, das Geld für die Edelsteine vor sich liegen sehen und dabei sagen: »ich will in Florenz bleiben, wo mich sanfte Lüfte verheißener Liebe und des Wohlstandes fächeln; ich will nichts für ihn wagen?« Nein, sicher nicht – wenn dem nur gewiß auch so wäre.
Aber es gab ja Nichts, was minder gewiß war.
Die Galeere war auf ihrer Fahrt nach Delos von einem türkischen Schiffe genommen worden, diese Thatsache war durch die zweite Galeere, die jene begleitete und die glücklich entkam, bekannt.
Aber die Mannschaft jener ersten hatte Widerstand geleistet, wahrscheinlich war Blut geflossen, man hatte einen Mann über Bord fallen sehen; wer waren die Ueberlebenden, und wie war es ihnen bei aller der Fülle von Möglichkeiten ergangen? Hatte er, Tito, nicht Schiffbruch gelitten und war mit genauer Noth dem Ertrinken entgangen?
Er hatte Ursache genug, die Allgegenwart der Zufälligkeiten, welche menschliche Entwürfe mit Nichtigkeit bedrohten, zu empfinden.
Das Gerücht, daß Piraten eine Niederlassung auf Delos hatten, war sehr unzuverlässig oder nützte auch vielleicht in der Sache zu nichts. Was wäre das wahrscheinliche Resultat, wenn er Florenz verließe und nach Venedig ginge, einflußreiche Briefe mitbekäme (das konnte allerdings, wie er wußte, wol geschehen) und sich nach dem Archipelagus aufmachte? Daß er selbst ergriffen werden, seine Gulden in Vorbereitungen ausgeben, und endlich wieder ein verarmter Wanderer, dann aber ohne Edelsteine zum Verkauf zu haben, sein würde.
Dieses Resultat schwebte Tito deutlicher vor als die Möglichkeit, seinen Vater wiederzufinden und ihn zu befreien.
Es wäre doch gewiß eine Unbilligkeit, zu verlangen, daß er in seiner kräftigsten Jugendfülle, dem das Leben bisher nur die Beschränkung und das Unterworfensein eines Schulknaben geboten hatte, verheißener Liebe und Auszeichnung den Rücken kehren sollte, während solche Verheißung ihm vielleicht nie wieder nahte. »Und doch,« sagte er zu sich selbst, »wenn ich die Ueberzeugung hätte, daß Baldassarre Calvo am Leben wäre, und daß ich ihn befreien könnte, mit welchen Anstrengungen und Gefahren es auch sei, so würde ich jetzt, da ich Geld habe, gehen, denn früher war es ja doch unnütz, die Sache in Erwägung zu ziehen. Ich würde jetzt zu Bardo und Bartolommeo Scala eilen, und ihnen die volle Wahrheit mittheilen.«
Tito gestand sich selbst nicht klar ein, daß, wenn diese beiden Männer die volle Wahrheit gekannt hätten, ihm kein anderer Ausweg übrig geblieben wäre, als seinen Wohlthäter aufzusuchen, der, wenn er noch lebte, der rechtmäßige Eigenthümer der Edelsteine war, wiewol er stets von ihm wie von Jemandem, der »verloren« war, gesprochen hatte.
Er sagte sich nicht, was er recht wohl wußte, daß hochgestellte Griechen Opfer gebracht, fortwährende Reisen gemacht und bei gekrönten Häuptern und hohen Würdenträgern der Kirche Hülfe gesucht hatten, um ihre Verwandten aus türkischer Sklaverei zu befreien.
Die öffentliche Meinung betrachtete dergleichen eben nicht als eine so sehr seltene tugendhafte Handlung.
Dieses war sein erstes wirkliches Selbstgespräch; er war bisher immer nur den Anregungen des Augenblickes gefolgt, und eine derselben war die gewesen, die Hälfte jener Thatsache zu verheimlichen; er hatte diese Seite seines Verhaltens nie lange genug betrachtet, um das Bewußtsein der Gründe, die ihn zu jener Verheimlichung bewogen, genau zu prüfen. Was hätte es genützt, das Ganze zu erzählen? Allerdings war ihm der Gedanke mehre Male, seitdem er Nauplia verlassen hatte, gekommen, daß es für ihn eine große Erleichterung war, Baldassarre los zu sein, und gerne hätte er gewußt, wer der Mann gewesen sein mochte, der über Bord gefallen war.
Aber dergleichen Gedanken entstiegen unter jeden Bedingungen Verhältnissen, die lästig sind.
Baldassarre war anspruchsvoll und war, je älter er wurde, desto launischer; er durchforschte unablässig Tito's Geist, um zu sehen, ob derselbe seinen übertriebenen Ansprüchen entspräche, und das Alter eines schwerfälligen, finsterblickenden, kahlen, mehr als sechszigjährigen Mannes, dessen übertriebener Eifer in vorgefaßten Meinungen längst den Charakter der Einförmigkeit und Wiederholung angenommen hatte, konnte in vielen Beziehungen nichts besonderes Verlockendes haben.
Ein solcher Mann, wenn er zwischen neue Bekanntschaften gerieth, durfte kaum erwarten, Rang, Jugend und Schönheit zu seinen Füßen zu finden, wenn er nicht etwa den Stein der Weisen besaß. Die Gefühle, welche beim Neuen entzückt sind, werden wenig dazu beitragen, die Welt zu einer Heimath für mattsinnige und verwitterte menschliche Wesen zu machen, und wenn es eine Liebe giebt, welche sie noch besitzen, so kann es nur die sein, welche in Erinnerungen wurzelt und immer noch den süßen Balsam von Treue und hingebender Seligkeit braut.
Aber solche Erinnerungen waren doch wol keine Fremdlinge in Tito's Seele? Im fernen Hintergrund seiner Erinnerungen sah er noch, wie Baldassarre ihn, den siebenjährigen Knaben, vor Schlägen gerettet und ihn zu sich in's Haus genommen hatte, das ihm wie ein geöffnetes Paradies erschien, wo er auf Baldassarre's Schoose Leckereien und tröstende Liebkosungen erhielt, und von jener Zeit an bis zur Stunde, da sie von einander schieden, war Tito allein der Mittelpunkt gewesen, um den sich Baldassarre's Vatersorgen drehten.
Freilich war er gelehrig, fügsam, schnell von Begriffen und lernbegierig gewesen, ein sehr lieblicher Knabe, ein Jüngling von einer sogar blendenden Anmuth, der ganz fehlerfrei schien, als ob dieses schöne Aeußere eine so sorgsam abgemessene und abgewogene Lebenskraft besäße, daß sie keine unstäten Begierden, keine Unruhe kennen konnte – eine glanzvolle Anwesenheit, die jenen einsamen Mann da für sich gewonnen hatte! Schwieg er, wenn sein Vater eine Antwort von ihm erwartete, so sah er doch nicht mürrisch dabei aus; wenn er irgend eine Arbeit nicht verrichten wollte, nun, so warf er sich zu Boden, und mit einer so reizenden, halb lächelnden, halb bittenden Miene, daß das Vergnügen, ihn anzusehen, für Jemanden, der sein Heranwachsen mit dem Gefühle des Anspruchs an ihn und des Eigenthums bewacht hatte, Ersatz bot. Die gebogenen Linien um Tito's Mund zeigten eine unaussprechlich heitere Laune. Und dazu kam noch die Gabe, Alles rasch zu begreifen, vom philosophischen Systeme herab bis zu den Reimen einer Straßenballade, die er von einmaligem Hören auffaßte. Konnte da wol Jemand sagen, daß Tito seinem Wohlthäter nicht seine Schuld entrichtet hatte, oder daß es an seiner Liebe und Dankbarkeit bei irgend einer bedeutenden Anforderung fehlen würde? Er räumte es nicht ein, daß es ihm an Dankbarkeit gefehlt hatte; aber es war ja ungewiß, ob Baldassarre in der Sclaverei, oder ob er überhaupt noch lebe.
»Bin ich mir selbst nicht auch etwas schuldig?« fragte Tito sich selbst mit einem leisen Zucken der Achseln, der ersten Bewegung, seitdem er auf die Gulden herniedergeblickt hatte; »ehe ich Alles verlasse und wieder alle die Gefahren laufe, deren ich nachgerade überdrüssig bin, muß ich doch wenigstens eine vernünftige Hoffnung haben! Soll ich mein ganzes Leben mit Suchen beschäftigt umherwandern? Ich glaube, er ist todt. Cennini hatte Recht, was er wegen der Gulden sagte; ich will sie ihm morgen einhändigen.«
Als Tito am nächsten Morgen diesen Entschluß ausführte, hatte er die Farbe der Karten für sein Spiel gewählt und seinen Wünschen ein unverrückbares Ziel bestimmt. Er hatte es unmöglich gemacht, von nun an nicht mehr wünschen zu können, daß der Tod seines Vaters eine Thatsache sei, unmöglich, daß er nicht lieber zu einer Gemeinheit versucht wurde, als daß die näheren Umstände seines Benehmens nicht für immer Verborgen bleiben sollten.
Unter jedem verbrecherischen Geheimniß birgt sich eine Brut verbrecherischer Wünsche, deren ungesundes, verpestendes Dasein vom Dunkel begünstigt wird. Die befleckende Wirkung liegt oft weniger in der Ausführung einer That, als in der folgerechten Einrichtung unserer Wünsche, dem Zutreten unseres eigenen Interesses auf die Seite der Falschheit, wie andererseits der läuternde Einfluß eines öffentlichen Geständnisses daher entspringt, daß durch solches Geständniß das Vertrauen auf Lügen verweht wird, und die Seele ihre edle Einfalt wiedergewinnt.
Außerdem hatten in diesem ersten klaren Selbstgespräch die Ideeen, die früher zerstreut und unzusammenhängend waren, sich jetzt concentrirt.
Die kleinen Bäche der Selbstsucht hatten sich vereinigt und einen Kanal gebildet, so daß sie nie wieder auf denselben Widerstand stoßen konnten. Bis dahin hatte Tito die Frage, ob er nicht mit den Mitteln, die er besaß, zurückkehren und dem Schicksale seines Vaters nachforschen solle, in der Schwebe gelassen; jetzt hatte er eine bestimmte Entschuldigung in seinen Augen herausgefunden, um dieses nicht zu thun; er hatte sich selbst einen Ausweg zugestanden, den er vor Anderen oder in der auferstehenden Gegenwart seines Vaters zu gestehen, sich geschämt hätte. Aber die innere Scham – der Reflex jenes äußeren Gesetzes, welches das große Herz der Menschheit jedem Einzelnen vorgeschrieben hat, ein Reflex, der selbst in Abwesenheit der sympathetischen Triebe existirt, die keines Gesetzes bedürfen, sondern den Werken der Treue und des Mitleids instinctmäßig zueilen, gleichwie das Weibchen der Thiere seine Jungen gegen den Angriff des Erbfeindes schirmt – jene innere Scham zeigte ihr Erröthen bei Tito's zuversichtlicher Behauptung sich selbst gegenüber: daß sein Vater todt, oder wenigstens, daß jede Nachforschung vergeblich sei.