Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Finale.


Jede Grenzlinie bezeichnet ebensowohl einen Anfang als ein Ende. Wer kann junge Menschen, mit denen er lange gelebt hat, verlassen, ohne daß der Wunsch in ihm rege würde zu erfahren, wie es ihnen später im Leben ergangen ist. Denn ein Stück aus einem, wenn auch noch so typischen Leben ist nicht mit der Probe eines Gewebes zu vergleichen. Rege gemachte Erwartungen erfüllen sich nicht immer, und einem begeisterten Anfange folgt vielleicht Erschlaffung; schlummernde Kräfte können plötzlich geweckt werden; ein früherer Irrthum kann ein gewaltiger Sporn zum Wiedergutmachen des begangenen Fehlers werden.

Die Ehe, welche den Schluß so vieler Erzählungen bildet, ist doch auch ein großer Anfang, wie sie es schon zu Adam's und Eva's Zeit war, die ihre Flitterwochen im Paradiese verlebten, ihr erstes Kind aber unter den Dornen und Disteln der Wildniß bekamen. Sie ist noch immer der Beginn des großen Gedichtes der Häuslichkeit; des allmäligen Erlangens oder der unwiderbringlichen Einbuße jener vollkommenen Vereinigung, welche die Jahre zu Stufen des Glücks und das Alter zu einer Zeit der Erndte süßer, gemeinsamer Erinnerungen macht.

Einige beginnen ihre Wanderung, wie die alten Kreuzfahrer, reichbeladen mit Hoffnung und Begeisterung; aber unterwegs versagt ihnen die Geduld mit den Schwächen des Anderen und mit der Welt, und sie bleiben erschöpft am Wege liegen.

Alle, welche sich für Fred Vincy und Mary Garth interessirt haben, werden es gern hören, daß es diesen Beiden nicht so erging, sondern daß sie sich eines echten dauernden gemeinsamen Glückes erfreuten. Fred überraschte seine Gutsnachbarn in mehr als einer Hinsicht. Er galt in seiner Gegend für einen theoretisch und praktisch ausgezeichneten Landwirth und schrieb ein Buch über »den Anbau von Getreide und die beste Art der Viehfütterung«, welches ihm große Anerkennung auf landwirthschaftlichen Versammlungen einbrachte; in Middlemarch selbst sprach sich die Bewunderung zurückhaltender aus. Die meisten Leute dort waren zu glauben geneigt, daß Fred das Verdienst seiner Autorschaft seiner Frau verdanke, da sie es nie für möglich gehalten hatten, daß Fred über Runkelrüben und über die Mangoldwurzel schreibe.

Als aber Mary für ihre Jungen ein kleines Buch unter dem Titel: »Geschichten großer Männer nach Plutarch« schrieb, welches bei Gripp u. Co. in Middlemarch erschien, schrieb Jedermann in der Stadt die Autorschaft dieses Buches Fred zu, da er ja auf der Universität gewesen sei, ›wo die Alten studirt würden‹, und, wenn er gewollt hätte, Geistlicher hätte werden können. So stand es fest, daß Middlemarch sich nie habe täuschen lassen und daß man nicht nöthig habe, Jemanden als Verfasser eines Buches zu loben, das ja doch immer von einem Anderen geschrieben sei.

Fred aber blieb überdies unausgesetzt solide. Einige Jahre nach seiner Verheirathung erzählte er Mary, daß er sein Glück zur Hälfte Farebrother verdanke, der ihn im rechten Augenblick gehörig zurechtgesetzt habe. Ich kann nicht behaupten, daß er sich niemals wieder allzu sanguinischen Hoffnungen hingegeben hätte. Der Ertrag der Erndte oder der Erlös eines Viehverkaufes fiel gewöhnlich unter seiner Schätzung aus, und er war immer zu glauben geneigt, daß er durch den Ankauf eines Pferdes, das immer schlecht ausfiel, Geld verdienen könne, obgleich das, wie Mary bemerkte, natürlich an dem Pferde und nicht an Fred's Urtheil lag. Er blieb seiner Liebhaberei für Pferde treu, aber nur selten gestattete er sich einen freien Tag zum Jagen, und wenn er es einmal that, so war es merkwürdig, wie ruhig er es sich gefallen ließ, sich wegen seiner Vorsicht beim Ueberspringen der Zäune auslachen zu lassen; ihm war es dabei jedes Mal, als sähe er Mary und seine Jungen auf dem Zaunthor sitzen, oder mit ihren Lockenköpfen zwischen Graben und Hecke hervortauchen.

Es waren drei Jungen. Mary war nicht unzufrieden damit, daß sie nur männliche Kinder zur Welt brachte, und als Fred den Wunsch äußerte, ein ihr gleichendes Mädchen zu bekommen, sagte sie lachend: »Das wäre eine zu schwere Prüfung für Deine Mutter.«

Für Frau Vincy war es in ihrem Alter und bei dem verminderten Glanze ihres Haushaltes ein großer Trost zu sehen, daß wenigstens zwei von Fred's Jungen echte Vincys seien und nicht ›wie die Garths‹ aussähen. Aber Mary freute sich im Stillen darüber, daß der jüngste von den Dreien gerade so aussah, wie ihr Vater ausgesehen haben mußte, als er ein Jäckchen trug; und daß er außerordentlich genau zu zielen wußte, wenn er mit Marmeln spielte oder mit Steinen nach den reifen Birnen warf.

Ben und Letty Garth, welche Onkel und Tante wurden, noch ehe sie dreizehn Jahre alt waren, stritten viel darüber, ob Neffen oder Nichten wünschenswerther seien. Ben behauptete, es sei klar, daß Mädchen weniger werth seien als Jungen, weil sie sonst keine Röcke tragen würden, woran man ja sehen könne, wie wenig sie zu bedeuten haben, wogegen Letty, die ihre Argumente gern Büchern entlehnte, böse wurde und erwiderte, daß Gott für Adam und Eva beide ganz gleiche Kleider aus Fellen gemacht habe und daß ja im Orient die Männer auch Röcke trügen.

Aber dieses letztere Argument that dem Gewichte des ersteren Eintrag und erwies sich daher als vom Uebel; denn Ben antwortete geringschätzig: »Das zeigt nur, was sie für Narren sind,« und appellirte sofort an seine Mutter, ob nicht Jungen besser seien, als Mädchen. Frau Garth erklärte, beide seien gleich unartig; aber Knaben seien unstreitig stärker, könnten rascher laufen und besser ein entferntes Ziel treffen. Mit diesem Orakelspruch war Ben wohl zufrieden und machte sich nichts aus der Unartigkeit; aber Letty, deren Gefühl der Ueberlegenheit stärker wer als ihre Muskeln, nahm es übel.

Fred wurde nie ein reicher Mann. Auch war er nie sanguinisch genug gewesen, das zu hoffen; aber er ersparte allmälig so viel, daß er das gesammte lebende und todte Inventar von Stone Court eigenthümlich erwerben konnte, und die Beschäftigung, die er durch seinen Schwiegervater erhielt, brachte ihn über die, »schlechten Zeiten«, von welchen die Landwirthe immer reden, glücklich hinweg.

Mary bekam als Frau die stattliche Figur ihrer Mutter; aber anders als ihre Mutter befaßte sie sich wenig mit dem förmlichen Elementar-Unterricht ihrer Jungen; so daß Frau Garth zu besorgen anfing, die Jungen möchten nie gründlich Grammatik und Geographie lernen. Gleichwohl zeigte es sich, daß sie ganz weit genug waren, um in der Schule gut fort zu kommen, – vielleicht, weil sie nichts so gern gemocht hatten, als bei ihrer Mutter sein.

Wenn Fred an Winterabenden nach Hause ritt, erfreute er sich im Voraus an der Vorstellung des freundlichen Kaminfeuers in dem getäfelten Wohnzimmer und bedauerte andere Männer, daß sie nicht Mary zur Frau haben könnten, namentlich Farebrother.

»Er war Deiner zehnmal würdiger als ich,« konnte Fred jetzt großmüthig sagen.

»Gewiß war er das,« antwortete Mary, »und eben deshalb konnte er sich besser ohne mich behelfen. Aber Du – ich schaudere bei dem Gedanken an das, was Du geworden wärest; ein Pfarrgehülfe mit Schulden für Pferdemiethe und Battist-Schnupftücher!«

Vielleicht wohnen Fred und Mary noch heute auf Stone Court, vielleicht lassen die Schlingpflanzen ihren Blüthenregen noch heute über die schöne Steinmauer auf das Feld fallen, aus welchem die Wallnußbäume so stattlich prangen, und vielleicht sitzen die beiden Geliebten, die sich als Kinder mit einem Messingring verlobten, noch als friedliche silberhaarige Greise an dem offenen Fenster, von welchem aus Mary Garth in den Tagen des alten Featherstone so oft nach Herrn Lydgate hatte aussehen müssen.

 

Lydgate wurde nie ein silberhaariger Greis. Er starb schon in seinem fünfzigsten Jahre und hinterließ Frau und Kinder durch eine hohe Lebensversicherung versorgt. Er hatte eine vortreffliche Praxis, abwechselnd, je nach der Jahreszeit, in London und an einem festländischen Badeort erlangt, nachdem er eine Abhandlung über die Gicht, an der bekanntlich viele reiche Leute leiden, geschrieben hatte. Viele gutzahlende Patienten erhofften Hülfe von seiner Geschicklichkeit, aber er betrachtete sein Leben doch immer als ein verfehltes; er hatte nicht ausgeführt, was er sich einst vorgenommen hatte.

Seine Bekannten beneideten ihn um seine reizende Frau, und es ereignete sich nichts, was sie in dieser Auffassung hätte irre machen können. Rosamunde ließ sich nie wieder eine bedenkliche Indiskretion zu Schulden kommen. Aber nach wie vor war sie von sanftem Temperament, unbeugsam in ihrem Urtheil, immer geneigt, ihren Mann zu vermahnen und gelegentlich seine Pläne durch eine Kriegslist zu vereiteln. Mit den Jahren opponirte er ihr immer weniger, woraus Rosamunde schloß, daß er den Werth ihrer Einsicht schätzen gelernt habe.

Andrerseits dachte sie jetzt, wo er viel Geld verdiente und ihr statt des einst drohenden Käfigs in Bride Street einen vergoldeten, mit Blumen geschmückten, für einen Paradiesvogel wie sie gerade passenden geben konnte, noch höher von seinen Fähigkeiten.

Kurz Lydgate war, was man einen Mann, »dem es brillant geht«, nennt. Aber er starb frühzeitig an Diphteritis und Rosamunde heirathete später einen ältlichen reichen Arzt, der ihren vier Kindern ein guter Vater wurde.

Es war ein hübscher Anblick, wenn sie mit ihren Töchtern in ihrer Equipage spazieren fuhr, und sie sprach oft von ihrem Glück, als ›einer Belohnung‹, – sie sagte nicht, für was, meinte aber wahrscheinlich dafür, daß sie so geduldig mit Tertius gewesen sei, dessen Temperament doch immer zu wünschen übrig ließ und dem bis zuletzt gelegentlich ein bitteres Wort entfahren war, das sich ihrem Gedächtnisse fester einprägte als die Zeichen seiner Reue. Er nannte sie einmal sein Basilienkraut und sagte ihr, als sie ihn fragte, was das bedeute, das Basilienkraut sei eine Pflanze, die wunderbarer Weise einmal dem Gehirne eines Ermordeten entsprossen sei. Rosamunde hatte eine ruhige, aber scharfe Antwort auf solche Reden in Bereitschaft: Warum hatte er sie denn genommen? Es sei schade, daß er nicht Frau Ladislaw geheirathet habe, die er ja immer lobe und über sie stelle. Und so zog Lydgate bei solchen Unterhaltungen regelmäßig den Kürzeren.

Aber wir würden uns einer Ungerechtigkeit schuldig machen, wenn wir nicht erwähnen wollten, daß sie nie ein Wort zu Ungunsten Dorothea's sagte, deren großherzige Art ihr über die schlimmste Krisis ihres Lebens hinweg zu helfen, sie ein dankbar frommes Andenken bewahrte.

 

Dorothea selbst ließ sich nicht träumen, daß sie über andere Frauen erhoben werde, denn sie fühlte bei jeder Gelegenheit, daß sie noch etwas besseres hätte thun können, wenn sie nur besser gewesen wäre und es besser gewußt hätte. Aber doch bereute sie es nie, daß sie ihre Stellung und ihr Vermögen aufgegeben habe, um Will Ladislaw zu heirathen, und er würde es als die größte Schmach und den größten Kummer betrachtet haben, wenn sie es je bereut hätte. Sie waren durch das Band einer Liebe verbunden, welche stärker war als vorübergehende Impulse, die diese Liebe hätten stören können.

Dorothea würde kein Leben haben ertragen können, das ihr nicht eine Fülle innerer Erregung geboten hätte, und ihr jetziges Leben bot ihr überdies Gelegenheit zu einer wohlthuenden Thätigkeit, welche sie sich nicht in schmerzlichen Zweifeln selbst zu suchen und zu schaffen brauchte.

Will wurde ein feuriger Politiker und entwickelte eine schöne Thätigkeit in jenen Zeiten, wo man an die Einführung von Reformen mit dem jugendlichen Glauben an eine unmittelbar wohlthätige Wirkung ging, welcher sich in unseren Tagen bedeutend abgekühlt hat, und wurde endlich von einer Wählerschaft, welche die Kosten seiner Wahl bestritt, ins Parlament gewählt.

Dorotheen hätte, da es doch einmal so viel Unrecht in der Welt gab, nichts besser zusagen können, als daß ihr Mann im dichten Gewühl des Kampfes gegen dieses Unrecht stand und daß sie ihm dabei ihre weibliche Hülfe leisten konnte. Viele, die sie kannten, fanden es schade, daß ein so selbständiges und seltenes Wesen in dem Leben eines Anderen aufgehe und nur in einem kleinen Kreise als Frau und Mutter bekannt sei. Aber Niemand vermochte recht genau anzugeben, was denn anderes zu thun in ihrer Macht gestanden hätte, selbst nicht Sir James Chettam, der nicht über die Behauptung hinauskam, daß sie Will Ladislaw nicht hätte heirathen dürfen.

Aber diese seine Ansicht bewirkte doch keine dauernde Entfremdung, und die Art, wie die Eintracht in der Familie wieder hergestellt wurde, war charakteristisch für alle Betheiligten.

Herr Brooke konnte dem Reiz einer Correspondenz mit Will und Dorotheen nicht widerstehen, und eines Morgens, als er sich eben in einem Briefe des Breitesten über Munizipalreformen ausgelassen hatte, ging ihm seine Feder mit einer Einladung nach Tiptonhof durch, welche, nachdem sie einmal auf dem Papier stand, unwiderruflich war, denn sie wieder ungeschrieben zu machen, wäre nichts geringeres erforderlich gewesen, als das doch kaum faßbare Opfer des ganzen kostbaren Briefes.

Während der Monate, in welche diese lebhafte Correspondenz fiel, hatte Herr Brooke in seinen Unterhaltungen mit Sir James Chettam fortwährend als selbstverständlich angedeutet, daß er noch immer die Absicht habe sein Recht, frei über sein Gut zu verfügen, geltend zu machen, und an dem Tage, wo seiner Feder jene kühne Einladung entflossen war, ging er nach Freshitt ausdrücklich zu dem Zweck, um mitzutheilen, daß er mehr als je von der Triftigkeit der Gründe, jenen Schritt gegen jede Vermischung mit niedrigem Blut in dem Erben der Brookes zu thun, überzeugt sei.

Aber an jenem Morgen war auch eine aufregende Nachricht in Freshitt Hall eingetroffen. Celia hatte einen Brief bekommen, der sie stille Thränen vergießen ließ, und als Sir James, der nicht gewohnt war, sie weinen zu sehen, ängstlich fragte, was es gebe, brach sie in Wehklagen aus, wie er sie noch nie von ihr gehört hatte.

»Dorothea hat einen Knaben, und Du willst mich nicht zu ihr lassen. Und sie möchte mich doch gewiß so gern sehen. Und sie wird nicht wissen, was sie mit dem Baby zu thun hat, sie wird verkehrt damit umgehen. Und sie haben geglaubt, sie würde sterben. Es ist ganz schrecklich! Denke Dir, daß ich und der kleine Arthur es gewesen wären und daß Dodo nicht hätte zu mir kommen können! Ich wollte, Du wärest weniger unfreundlich gesinnt, James!«

»Guter Gott, Celia!« sagte Sir James, auf den diese Worte einen tiefen Eindruck machten. »Was wünschest Du? Ich will Alles thun, was Du willst. Ich will Dich morgen nach London bringen, wenn Du es wünschest.«

Und Celia wünschte es.

Nach diesem Vorfall kam Herr Brooke und fing mit dem Baronet, den er im Garten fand, zu plaudern an, ohne etwas von der Nachricht zu wissen, welche Sir James seine Gründe hatte, ihm nicht sofort mitzutheilen. Als aber Herr Brooke die Frage der Herstellung des freien Verfügungsrechtes über sein Gut in der gewohnten Weise berührte, sagte er:

»Mein lieber Herr Brooke, es steht mir nicht zu, Ihnen etwas vorzuschreiben; was aber mich betrifft, so möchte ich die Sache unangerührt lassen. Ich möchte, daß Alles bliebe, wie es ist.«

Herr Brooke war so erstaunt, daß es ihm nicht sogleich klar wurde, wie erleichtert er sich durch das Bewußtsein fühlte, daß man nicht von ihm erwarte, er werde irgend etwas Besonderes thun.

Nachdem Celia ihren Herzenswunsch so zu erkennen gegeben hatte, konnte Sir James natürlich nicht umhin, seine Zustimmung zu einer Versöhnung mit Dorotheen und ihrem Manne zu geben. Wo die Frauen einander lieben, lernen die Männer ihre gegenseitige Abneigung dämpfen. Sir James mochte Ladislaw nie leiden, und Ladislaw zog es immer vor, Sir James in Gesellschaft mit Anderen zu sehen; sie lebten auf einem Fuße gegenseitiger Toleranz, die nur dann ganz behaglich wurde, wenn Dorothea und Celia zugegen waren.

Es wurde als selbstverständlich betrachtet, daß Herr und Frau Ladislaw jährlich wenigstens zwei Mal zum Besuch nach Tiptonhof kamen, und in Freshitt stellte sich allmälig eine kleine Schaar von Vettern ein, die so gern mit den beiden ach Tiptonhof zum Besuch kommenden Vettern spielten, wie es nur der Fall hätte sein können, wenn in den Adern dieser Vettern das reinste Blut geflossen wäre.

Herr Brooke wurde sehr alt, und sein Gut ging auf Dorothea's Sohn über, der Middlemarch im Parlament hätte vertreten können, die Wahl aber ablehnte, weil er glaubte, daß seine Ansichten weniger Gefahr liefen, unterdrückt zu werden, wenn er aus dem Parlamente bleibe.

Sir James hörte nie auf, Dorothea's zweite Heirath als einen Mißgriff zu betrachten, und dem entsprach auch die Tradition, die sich über diese Angelegenheit in Middlemarch bildete, wo man einer jüngeren Generation von Dorotheen erzählte, daß sie ein schönes Mädchen gewesen sei, einen kränklichen Geistlichen geheirathet habe, der ihr Vater hätte sein können, und daß sie dann nach Verlauf von wenig länger als einem Jahre auf ihren Grundbesitz verzichtet habe, um den Vetter ihres ersten Mannes, einen jungen Menschen, der sein Sohn hätte sein können, der kein Vermögen besessen habe und von zweifelhafter Herkunft gewesen sei, zu heirathen. Diejenigen, welche Dorothea nie gesehen hatten, pflegten zu bemerken, daß sie keine angenehme Person habe sein können, da sie sonst weder den einen noch den anderen geheirathet haben würde.

Gewiß waren jene entscheidenden Akte ihres Lebens nicht von idealer Schönheit. Sie waren das gemischte Ergebniß jugendlicher und edler, mit prosaischen Verhältnissen kämpfender Impulse. Unter den vielen, über ihre Mißgriffe in Middlemarch und seiner Umgegend gemachten Bemerkungen kam nie die eine vor, daß solche Mißgriffe nicht hätten begangen werden können, wenn die Gesellschaft, in welcher sie geboren war, nicht dem Heirathsantrage eines kränklichen Mannes an ein kaum halb so altes Mädchen lächelnd zugestimmt, einer Erziehung, welche das Wissen einer Frau nur zu einem anderen Namen für buntscheckige Unwissenheit macht, Vorschub geleistet und herkömmliche Regeln des Benehmens, welche im schreiendsten Widerspruch mit ihren eigenen laut verkündeten Ueberzeugungen stehen, sanktionirt hätte.

So lange das die sociale Atmosphäre bleibt, in welcher Menschen zu athmen beginnen, wird es Collisionen wie die in Dorothea's Leben geschilderten geben, bei welchen große Gefühle als Irrthum und ein großer Glaube als Illusion erscheinen müssen. Denn es giebt kein menschliches Wesen, dessen inneres Leben stark genug wäre, um nicht zum guten Theil durch äußere Umstände bestimmt zu werden.

Eine neue ›Therese‹ wird schwerlich mehr Gelegenheit finden, das klösterliche Leben zu reformiren, so wenig wie eine neue Antigone mit dem Aufgebot ihrer ganzen heroischen Pietät ihr Alles an das Begräbniß eines Bruders setzen wird. Die Atmosphäre, in welcher ihre feurigen Thaten Gestalt gewannen, ist für immer dahin; aber wir gewöhnlichen Menschen bereiten mit unseren täglichen Worten und Handlungen das Leben für viele Dorotheen vor, von denen einige vielleicht als viel traurigere Opfer erscheinen, als die Dorothea, deren Geschichte wir kennen.

Ihr schön angelegter Geist konnte sich doch noch in schöner, wenn auch nicht weithin sichtbarer Weise geltend machen; ihre überströmende Natur ergoß sich, wie jener Fluß dessen gewaltige Strömung Alexander brach, in Kanäle, denen man keine besonderen Namen beilegte. Aber der Einfluß ihres Wesens auf ihre Umgebung war von unberechenbarer Tragweite; denn das wachsende Gedeihen der Welt hängt zum guten Theil von unhistorischen Thatsachen ab, und daß die Dinge für Euch und für mich nicht so schlimm stehen, wie es hätte der Fall sein können, verdanken wir zur Hälfte denen, welche ein verborgenes Leben treu gelebt haben und in unbesuchten Gräbern ruhen.

Ende.


Franz Duncker's Buchdr. in Berlin.

 


 << zurück