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Zwanzigstes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 82 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 20):

My grief lies onward and my joy behind.

Shakespeare: Sonnets.


Verbannte leben bekanntlich großentheils von Hoffnungen und verharren nicht leicht länger, als sie dazu gezwungen sind, in ihrer Verbannung. Als Will Ladislaw sich aus Middlemarch verbannte, hatte er gegen seine Rückkehr keine stärkere Schranke aufgerichtet, als seinen eigenen Entschluß, der nichts weniger als eine eiserne Pallisade, vielmehr nur ein Gemüthszustand war, dem es wie anderen Gemüthszuständen nur zu leicht widerfahren konnte, sich vorkommendenfalls fügsam zu erweisen und veränderten Anschauungen willig Rechnung zu tragen.

Als Monat nach Monat verfloß, wurde es ihm immer schwerer zu sagen, warum er nicht einmal nach Middlemarch hinüberfahren solle, nur um etwas über Dorothea zu hören. Und wenn es ein sonderbarer Zufall fügen sollte, daß er ihr bei einem solchen flüchtigen Besuche begegnete, so brauchte er sich ja einer harmlosen Reise nicht zu schämen, wenn er sich auch vorher vorgenommen hatte, sie nicht zu machen. Da er doch einmal hoffnungslos von ihr getrennt war, so konnte er sich ja getrost in ihre Nähe wagen, und was die argwöhnischen Verwandten anbelangte, die sie wie Drachen bewachten, so erschien ihm ihre Meinung im Verlauf der Zeit und unter einem anderen Himmel von immer geringerer Bedeutung.

Dazu kam, daß sich eine, von Dorotheen ganz unabhängige Veranlassung gefunden hatte, welche ihm eine Reise nach Middlemarch als eine Art von philantropischer Pflicht erscheinen ließ. Will nahm ein uneigennütziges Interesse an einer nach einem neuen Plan vorzunehmenden Colonisation im fernen Westen und die Nothwendigkeit, die Fonds zur Ausführung dieses guten Unternehmens herbeizuschaffen, hatte ihn bei sich überlegen lassen, ob er nicht einen löblichen Gebrauch von seinem Anspruch an Bulstrode machen könne, indem er denselben veranlasse, das Geld welches er ihm angeboten hatte, zu einem wohlthätigen Zweck herzugeben. Der Erfolg der Sache schien Will sehr zweifelhaft, und sein Widerwille gegen jede Wiederaufnahme von Beziehungen zu dem Banquier würde ihn vielleicht bald ganz davon haben abstehen lassen, wenn ihm nicht seine Einbildungskraft die Wahrscheinlichkeit vorgespiegelt hätte, daß ein Besuch in Middlemarch ihm zu einem klareren Urtheil verhelfen würde.

Das war es, was Will sich selbst als den Zweck seiner Reise nach Middlemarch bezeichnete. Er hatte sich vorgenommen, Lydgate zu seinem Vertrauten zu machen und sich mit ihm über die Geldfrage zu berathen, und hatte ferner darauf gerechnet, sich während der wenigen Abende seines Aufenthalts durch fleißiges Musiciren und Schäkern mit der schönen Rosamunde zu amüsiren, ohne darum seine Freunde im Pfarrhause von Lowick zu vernachlässigen; wenn das Pfarrhaus dicht neben dem Herrenhause lag, so war das nicht seine Schuld.

Vor seiner Abreise hatte er die Farebrothers vernachlässigt, weil er in seinem Stolz schon die bloße Möglichkeit der Beschuldigung scheute, daß er am dritten Orte mit Dorotheen zusammen zu kommen suche; aber der Hunger macht uns zahm und Will empfand einen wahren Hunger nach dem Anblick einer gewissen Gestalt und dem Klang einer gewissen Stimme. Nichts hatte ihm dafür einen Ersatz bieten können, nicht die Oper, nicht der Verkehr mit eifrigen Politikern und nicht die seinen Leitartikeln in obscuren Kreisen zu Theil gewordene schmeichelhafte Aufnahme.

So war er nach Middlemarch gekommen, um zu sehen, wie Alles in einer kleinen vertrauten Welt stehe, und ohne irgend welcher Ueberraschungen gewärtig zu sein. Aber er hatte diese kleine Welt in einem Zustande furchtbarer Aufregung gefunden, in welcher selbst Schäkern und Musik zu Explosionen führten, und der erste Tag seines Besuches war zur verhängnißvollsten Epoche seines Lebens geworden.

Am nächsten Morgen fühlte er sich durch den Alpdruck der Folgen dieses Vorganges so erschöpft, fürchtete er die ihm unmittelbar bevorstehenden Wirkungen so sehr, daß er, als er beim Frühstück die Riverstone-Post ankommen sah, hinauseilte und sich einen Platz auf derselben nahm, um sich wenigstens auf einen Tag von der Nothwendigkeit, irgend etwas in Middlemarch thun oder sagen zu müssen, zu befreien.

Der arme Will Ladislaw befand sich in einer jener verwirrenden Krisen, welche öfter im Leben vorkommen, als man nach der leeren Unbedingtheit des Urtheils der Menschen erwarten sollte. Er hatte Lydgate, für den er die aufrichtigste Hochachtung hegte, in Verhältnissen gefunden, welche auf seine innigste und offen ausgesprochene Sympathie Anspruch hatten, und der Grund, aus welchem es trotz dieses Anspruchs für Will besser gewesen sein würde, jedem ferneren vertrauten Verkehr oder selbst jeder Berührung mit Lydgate aus dem Wege zu gehen, war gerade so beschaffen, daß er ein solches Verhalten unmöglich erscheinen ließ.

Für einen Menschen von Will's reizbarem Temperamente, in dessen Natur es keinen Raum für gleichgültiges Verhalten gab, der in Allem, was ihn betraf, einen Stoff zu leidenschaftlich dramatischen Conflikten erblickte, war die Entdeckung, daß Rosamunde ihr Glück in irgend einer Weise von ihm abhängig gemacht habe, eine Schwierigkeit, welche sich durch seinen Zornesausbruch gegen sie noch unermeßlich gesteigert hatte.

Er verabscheuete seine Grausamkeit und fürchtete doch, seine seitdem eingetretene weichere Stimmung ganz zu offenbaren; er mußte wieder zu ihr gehen; ihre Freundschaft sollte nicht so plötzlich abgebrochen werden, und ihr Unglück war eine Gewalt, die er fürchtete. Und bei dem Allen empfand er so wenig Vorgeschmack der Freude an dem seiner harrenden Leben, als wäre er lahm geworden und müßte sich fortan der Krücken bedienen.

Während der Nacht hatte er sich überlegt, ob er nicht die Post, nicht nach Riverstone, sondern nach London nehmen und ein Billet an Lydgate zurücklassen und darin einen Vorwand zur Motivirung seiner Abreise gebrauchen solle. Aber es gab starke Bande, die ihn von dieser plötzlichen Abreise zurückhielten. Die Vernichtung seines Glücks, die ihm der Gedanke an Dorothea nahe brachte; die Zerstörung dieser schönsten Hoffnung, die ihm trotz der anerkannten Nothwendigkeit, auf sie zu verzichten, geblieben war, war ein ihm noch zu wenig gewohntes Elend, als daß er sich darein hätte ergeben und sich entschließen sollen, in eine Ferne zu gehen, die ihm auch nichts als Verzweiflung bot.

So war er zu keinem weiteren Entschlusse gelangt, als sich in den Postwagen nach Riverstone zu setzen. Er kam noch vor Dunkelwerden mit demselben zurück, nachdem er sich entschlossen hatte, den Abend bei Lydgates zuzubringen.

Der Rubicon Kleiner Fluss, der südlich von Ravenna in die Adria mündet und aufgrund seiner Geschichte einer Metapher zur Grundlage dient. Mit der Überschreitung des Rubicon 49 v.u.Z. erklärte Caesar dem Senat den Krieg; ab diesem Punkt gab es kein Zurück mehr, was er in dem berühmten Zitat › alea iacta est‹ (Die Würfel sind gefallen) zum Aussdruck brachte. – Anm.d.Hrsg. war bekanntlich ein sehr merkwürdiger Fluß; aber seine Merkwürdigkeit lag lediglich in gewissen unsichtbaren Umständen. Will war zu Muthe, als habe er einen kleinen Grenzgraben zu überschreiten, und was er jenseits desselben sah, war kein Kaiserreich, sondern unzufriedene Unterwerfung.

Aber bisweilen sind wir selbst im täglichen Leben Zeugen des rettenden Einflusses einer edlen Natur, der göttlichen Kraft der Befreiung, die in einer entsagenden Handlung der Kameradschaftlichkeit liegen kann. Wenn Dorothea nach jener angstvoll durchlebten Nacht nicht zu Rosamunden gegangen wäre, so würde ihr Ruf der Discretion vielleicht dabei gewonnen haben: aber es wäre sicherlich nicht so gut für jene Drei gewesen, welche an diesem Abend in Lydgate's Hause vor dem Kamine saßen.

Rosamunde war auf Will's Besuch vorbereitet gewesen und empfing ihn mit einer matten Kühle, welche sich Lydgate durch ihre nervöse Erschöpfung erklärte und von der er nicht vermuthen konnte, daß sie Will's Person gelte. Und als sie über eine kleine Handarbeit hingebeugt schweigend dasaß, entschuldigte er sie ahnungslos auf indirekte Weise, indem er sie bat, sich zurückzulehnen und auszuruhen.

Will fühlte sich unglücklich in der Nothwendigkeit, die Rolle eines Freundes zu spielen, der Rosamunde zum ersten Mal begrüßte, während seine Gedanken eifrig mit ihren Gefühlen seit der Scene von gestern beschäftigt waren, in welcher eine peinliche Vision ihm sie beide noch unerbittlich, wie von einem zwiefachen Wahnsinn ergriffen, erscheinen ließ.

Es traf sich, daß Lydgate keine Veranlassung hatte, das Zimmer zu verlassen; als aber Rosamunde den Thee einschenkte und Will an sie herantrat, um sich seine Tasse zu holen, legte sie ein kleines Stück gefalteten Papiers auf seine Untertasse. Er bemerkte es und steckte es rasch zu sich, als er aber in sein Hotel zurückgekehrt war, beeilte er sich nicht, das Papier zu öffnen. Was Rosamunde ihm geschrieben hatte, würde wahrscheinlich die peinlichen Eindrücke des Abends nur noch steigern.

Indessen öffnete und las er es bei dem Licht seines Bettleuchters. Es enthielt nur die folgenden wenigen, in ihrer zierlichen fließenden Handschrift geschriebenen Worte:

»Ich habe Frau Casaubon Alles gesagt. Sie sind in ihren Augen keiner Mißdeutung mehr ausgesetzt. Ich habe es ihr gesagt, weil sie mich besuchte und sehr gütig gegen mich war. Sie werden mir jetzt nichts mehr vorzuwerfen haben. Durch mich wird an Ihrem Verhältniß nichts geändert sein.«

Die Wirkung dieser Worte war keine durchaus freudige. Als Will sie mit seiner aufgeregten Einbildungskraft genauer erwog, stieg ihm das Blut in die Wangen bei dem Gedanken an das, was zwischen Dorotheen und Rosamunden vorgefallen war, und in der Ungewißheit darüber, wie weit sich Dorothea durch die ihr angebotene Erklärung seines Benehmens in ihrer Würde verletzt fühlen möchte. Vielleicht, daß ihre Vorstellungen von ihm auch in einer Weise verändert worden waren, welche ihrem Verhältniß einen unheilbaren Stoß versetzt, einen dauernden Makel angehängt hatten.

Seine rastlose Einbildungskraft ließ ihn sich in einen Zustand des Zweifels hineinarbeiten, der kaum behaglicher war, als der eines Menschen, der sich aus einem nächtlichen Schiffbruch gerettet hat und nun in der Dunkelheit auf unbekanntem Boden steht. Bis zu dem unglückseligen gestrigen Tage, mit Ausnahme jenes vor längerer Zeit stattgehabten qualvollen Augenblicks in demselben Zimmer und in Gegenwart derselben dritten Person, hatten alle ihre Vorstellungen von einander, alle ihre Gedanken an einander sich wie in einer besonderen Welt, wo die Sonne große weiße Lilien beschien, wo kein Unheil lauerte, und wo keine andere Seele Zutritt hatte, vollzogen. Aber, würde ihm Dorothea jetzt in dieser Welt wieder begegnen?



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