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Das Motto zu Kapitel 76 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 14):
To mercy, pity, peace, and love
All pray in their distress,
And to these virtues of delight,
Return their thankfulness.
… … … … … … … …
For Mercy has a human heart,
Pity a human face;
And Love, the human form divine;
And Peace, the human dress.
William Blake: Songs of Innocence.
Einige Tage später ritt Lydgate, einer Aufforderung Dorothea's folgend, nach dem Herrenhause von Lowick.
Diese Aufforderung war ihm nicht unerwartet gekommen; denn ihr war ein Brief Bulstrode's vorangegangen, in welchem er mittheilte, daß er die vorbereitenden Schritte für ein Verlassen von Middlemarch wieder aufgenommen habe und Lydgate an seine frühere Mittheilung in Betreff des Hospitals erinnern müsse, deren Inhalt er auch jetzt nur bestätigen könne. Er habe es vor Ergreifung weiterer Maßregeln für seine Pflicht gehalten, sich mit Frau Casaubon wieder in Verbindung zu setzen, und diese habe auch jetzt wieder wie früher den Wunsch geäußert, sich über die Frage mit Lydgate zu unterhalten.
»Möglicherweise,« schrieb Bulstrode, »haben sich Ihre Ansichten in etwas geändert; aber auch in diesem Fall würde es wünschenswerth sein, daß Sie dieselben Frau Casaubon darlegten.«
Dorothea sah seinem Besuche mit lebhaftem Interesse entgegen. Obgleich sie sich ihren männlichen Rathgebern so weit gefügt und sich dessen, was Sir James ›eine Einmischung in diese Bulstrode-Geschichte‹ nannte, enthalten hatte, verließ sie doch der Gedanke an Lydgate's traurige Lage keinen Augenblick, und als sich nun Bulstrode wegen des Hospitals wieder an sie wandte, fühlte sie, daß ihr damit die Gelegenheit, die herbeizuführen man sie verhindert hatte, entgegengetragen werde.
Wenn sie auf ihrem schönen Besitz, unter den Zweigen ihrer eigenen großen Bäume umherwandelte, wandten sich ihre Gedanken weit weg dem Loose Anderer zu, und sie empfand es schmerzlich, daß man sie zwang, ihren Gefühlen Gewalt anzuthun. Der Gedanke, daß es etwas Gutes für sie zu thun gebe, verfolgte sie wie eine Leidenschaft, und die Hülfsbedürftigkeit eines Anderen, die ihr einmal in bestimmter Gestalt nahe getreten war, war für sie ein beständiger Appell an ihr sehnliches Verlangen zu helfen und verleidete ihr ihr eigenes Behagen.
Sie war voll zuversichtlicher Hoffnung auf diese Zusammenkunft mit Lydgate, ohne auf das zu achten, was man ihr von seiner persönlichen Zurückhaltung sagte, und ohne daran zu denken, daß sie eine sehr junge Frau sei. Nichts erschien Dorotheen unwesentlicher als die Rücksicht auf ihre Jugend und ihr Geschlecht, wenn sie sich angeregt fühlte, einem Nebenmenschen gegenüber ihre Theilnahme zu bethätigen.
Als sie seiner wartend in der Bibliothek saß, konnte sie nichts thun, als alle die Scenen ihres vergangenen Lebens, welche Lydgate's Person ihrem Gedächtnisse eingeprägt hatten, wieder zu durchleben. Sie verdankten ihre Bedeutung alle ihrer Ehe und den durch diese hervorgebrachten Bekümmernissen; aber nein, es gab zwei Gelegenheiten, bei welchen sich Lydgate's Gestalt für sie peinlich mit der seiner Frau und der eines Anderen berührt hatte. Die Pein war für Dorothea gelindert; aber sie hatte bei ihr eine rege Vermuthung von dem, was Lydgate's Ehe wohl für ihn bedeute, und eine Empfindlichkeit gegen die leiseste Andeutung in Betreff Rosamunden's zurückgelassen.
Diese Gedanken zogen wie ein Lebensdrama an ihr vorüber und gaben ihren Augen einen klaren, durchdringenden Blick und ihrer ganzen Gestalt den Ausdruck gespannter Erwartung, obgleich sie nur aus der dunklen Bibliothek auf den Rasen und die hellen grünen Knospen, welche sich von dem dunklen Epheu abhoben, hinaussah.
Als Lydgate eintrat, war sie fast entsetzt über die Veränderung in seiner Erscheinung, welche ihr, nachdem sie ihn beinahe zwei Monate nicht gesehen hatte, besonders auffallen mußte. Es war nicht die durch Abmagerung bewirkte Veränderung, sondern jene Wirkung fortwährender Kränkung und Niedergeschlagenheit, wie sie sich auch auf jungen Gesichtern nur zu bald zeigt. Ihr herzlicher Blick, mit welchem sie ihm die Hand entgegenstreckte, gab seinem Gesichte einen milderen, aber nur noch melancholischeren Ausdruck.
»Ich habe schon lange lebhaft gewünscht, Sie zu sehen, Herr Lydgate,« sagte Dorothea, als sie einander gegenüber saßen; »aber ich habe es verschoben, Sie zu bitten, sich zu mir zu bemühen, bis sich Herr Bulstrode wieder wegen des Hospitals an mich wandte. Ich weiß, daß der Vortheil, welcher dem Hospitale aus einer von der des Krankenhauses gesonderten Verwaltung erwächst, auf Ihnen beruhet oder wenigstens auf dem segensreichen Einfluß, welchen Sie von Ihrer Leitung zu hoffen berechtigt sind. Und ich bin überzeugt, Sie werden mir eine offene Mittheilung Ihrer Ansichten nicht versagen.«
»Sie wollen sich darüber entscheiden, ob Sie dem Hospitale eine großmüthige Unterstützung zu Theil werden lassen sollen,« sagte Lydgate. »Ich kann Ihnen gewissenhafter Weise nicht rathen, das zu thun, wenn Sie dabei irgend eine Thätigkeit von meiner Seite in Aussicht nehmen. Ich werde mich möglicherweise genöthigt sehen, die Stadt zu verlassen.«
Er sprach so kurz in dem verzweiflungsvoll schmerzlichen Gefühl, daß er außer Stande sei, irgend einen Plan auszuführen, der Rosamunden zuwider sei.
»Doch nicht etwa, weil Niemand hier wäre, der an Sie glaubt?" sagte Dorothea, deren vollem Herzen diese Worte entströmten, mit klarer Stimme. »Ich« weiß, zu welchen Unglücklichen Mißverständnissen Sie Veranlassung gegeben haben. Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß es Mißverständnisse seien. Sie haben nie eine niedrige Handlung begangen. Sie würden nie etwas Unehrenhaftes thun.«
Das war die erste Versicherung des Glaubens an ihn, welche Lydgate vernommen hatte. Er schöpfte tief Athem und sagte:
»Ich danke Ihnen.«
Er vermochte nicht mehr zu sagen; es war für ihn eine ganz neue und wunderbare Erfahrung, daß diese wenigen Worte zuversichtlichen Vertrauens aus dem Munde einer Frau ihm so viel sein konnten.
»Ich bitte Sie inständigst, mir zu sagen, wie Alles gekommen ist,« sagte Dorothea furchtlos. »Ich bin überzeugt, daß die Wahrheit Sie von jedem Verdachte reinigen würde.«
Lydgate sprang, ohne daran zu denken, wo er war, vom Stuhl auf und trat ans Fenster. Er hatte sich so oft in Gedanken mit der Möglichkeit beschäftigt, alles zu erklären, ohne die Umstände in vielleicht nicht zu rechtfertigender Weise gegen Bulstrode reden zu lassen, und hatte eben so oft davon abstehen zu müssen geglaubt; er hatte sich sooft gesagt, daß seine Erklärungen die Meinungen der Leute nicht ändern würden – daß Dorothea's Worte ihm wie eine Versuchung klangen, etwas zu thun, was er bei nüchterner Ueberlegung für unvernünftig halten würde.
»Bitte, sagen Sie es mir,« sagte Dorothea so einfach wie dringend, »dann können wir mit einander überlegen. Es ist nichtswürdig, die Leute von irgend Jemandem schlecht denken zu lassen, wenn man es hindern kann.«
Lydgate erinnerte sich, wo er war, sah sich um und sah, wie Dorothea mit dem Ausdruck milden vertrauensvollen Ernstes zu ihm aufschaute. Die Gegenwart einer edelen, von großmüthigen Regungen und feuriger Menschenliebe erfüllten Natur läßt uns die Dinge in einem anderen Lichte, läßt sie uns wieder in ihrem größeren, ruhigeren Zusammenhange erblicken, und wir fangen an zu glauben, daß es möglich sei, auch uns in der Ganzheit unseres Charakters zu sehen und zu beurtheilen.
Dieser Einfluß fing an sich auch auf Lydgate geltend zu machen, der seit längerer Zeit das ganze Leben wie Einer betrachtete, der sich im Gedränge willenlos fortgeschleppt sieht. Er setzte sich wieder und fühlte, daß er sein früheres Selbst in dem Bewußtsein wieder gewinne, sich in der Gesellschaft eines Menschen zu finden, der an dieses Selbst glaube.
»Ich möchte nicht hart über Bulstrode urtheilen,« sagte er, »der mir durch ein Darlehen aus der Verlegenheit geholfen hat, obgleich ich dieses Geld jetzt lieber nicht genommen haben möchte. Er ist matt gehetzt und elend und geht dem Ende seines Lebens mit raschen Schritten entgegen. Aber ich möchte Ihnen Alles erzählen. Es wird ein Labsal für mich sein, mich gegen Jemanden auszusprechen, der schon zum Voraus an mich glaubt und dem es nicht scheinen wird, als wolle ich ihm die Versicherung meiner Rechtschaffenheit aufdrängen. Sie werden in Ihrem Urtheil über Andere eben so billig zu sein wissen wie über mich.«
»Vertrauen Sie mir,« sagte Dorothea; »ich werde von Ihrer Mittheilung nur so weit Gebrauch machen, wie Sie es mir erlauben. Ich werde aber doch dann mindestens sagen dürfen, daß Sie mich über alle in Betracht kommenden Umstände aufgeklärt und mich von Ihrer völligen Unschuld überzeugt haben. Herr Farebrother und mein Onkel und Sir James würden mir glauben. Ja, es giebt Personen in Middlemarch, zu denen ich gehen könnte, obgleich sie wenig von mir wissen und die mir glauben würden. Sie würden wissen, daß mich kein anderes Motiv leiten könne, als die Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit. Ich würde keine Mühe scheuen, Sie von Verdacht zu reinigen. Ich habe sehr wenig zu thun, und ich wüßte in der Welt nicht, was ich Besseres thun könnte.«
Der Ton, mit welchem Dorothea dieses kindliche Bild entwarf, trug fast die Gewähr dafür in sich, daß sie ihre Absichten in der That wirksam ausführen könne. Die suchende Zärtlichkeit ihrer weiblichen Stimme schien wie gemacht zu einer Vertheidigung gegen allzu bereite Ankläger.
Lydgate ließ den Gedanken, daß ihre sanguinische Auffassung seiner Angelegenheit vielleicht einen leisen Anflug von Don Quixoterie an sich trage, nicht in sich aufkommen; zum ersten Mal in seinem Leben überließ er sich dem wonnigen Gefühle, sich ohne jede Schranke stolzer Zurückhaltung ganz an die Sympathie eines edlen Herzens wenden zu können.
Und er erzählte ihr Alles, von dem Zeitpunkte an, wo er sich unter dem Druck seiner Verlegenheiten ungern zuerst an Bulstrode gewandt hatte, und sprach sich dabei, in dem Maße wie ihn das Reden erleichterte, allmälig immer offener über das aus, was in ihm vorgegangen war. Er setzte ihr genau auseinander, wie seine Behandlung des Patienten eine der herrschenden Praxis zuwiderlaufende gewesen sei, verhehlte ihr nicht seine Zweifel im letzten Augenblick, sprach von seinem Ideal ärztlicher Pflichterfüllung und bekannte endlich, daß er sich des unbehaglichen Gedankens nicht erwehren könne, daß die Annahme des Geldes einen gewissen Einfluß auf seine persönliche Anschauung und sein ärztliches Verhalten, wenn auch nicht auf die Erfüllung irgend einer positiven Pflicht geübt habe.
»Es ist mir seitdem zu Ohren gekommen,« fügte er hinzu, »daß Hawley Jemanden hinausgeschickt hat, um die Haushälterin in Stone Court abzuhören, und daß sie erklärt hat, sie habe dem Patienten die ganze in dem von mir zurückgelassenen Fläschchen enthaltene Quantität Opium und reichlich Branntwein gegeben. Aber das würde nicht im Widerspruch mit den gewöhnlichen Verordnungen selbst ausgezeichneter Aerzte gewesen sein. Der Verdacht gegen mich findet daran keinen Anhaltspunkt; er gründet sich vielmehr darauf, daß ich, wie man weiß, von Bulstrode Geld angenommen habe, daß Bulstrode starke Gründe hatte, den Mann todt zu wünschen, und daß er, wie man annimmt, mir das Geld gegeben hat, um mich zu bestechen, ihm bei seinem Mißverfahren gegen den Patienten behülflich zu sein, daß ich unter allen Umständen mich habe bestechen lassen, zu schweigen. Das sind gerade Verdächtigungen, die am zähesten haften, weil sie den Leuten zusagen und niemals entkräftet werden können. Wie es gekommen ist, daß meine Verordnungen nicht befolgt wurden, das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Es ist noch immer möglich, daß Bulstrode frei von der Schuld irgend einer verbrecherischen Absicht ist; es ist selbst möglich, daß er mit der Nichtbefolgung meiner Ordres nichts zu thun hatte und es nur unterließ, derselben gegen mich Erwähnung zu thun. Aber das Alles hat nichts mit der öffentlichen Meinung zu schaffen. Es ist einer der Fälle, in welchen ein Mensch auf Grund dessen, was man ihm zutraut, verurtheilt wird; man glaubt, daß er ein Verbrechen begangen hat, wenn man auch nicht weiß, welches und wie, weil man bei ihm Beweggründe kennt, die ihn zu einem solchen Verbrechen vermögen konnten, und Bulstrode's schlimmer Leumund hat auch mich in diese Angelegenheit verwickelt, weil ich Geld von ihm genommen habe. Ich stehe da wie eine Kornähre, auf die der Mehlthau gefallen ist. Die Sache ist geschehen und kann nicht wieder ungeschehen gemacht werden.«
»O, es ist hart,« sagte Dorothea. »Ich begreife vollkommen die Schwierigkeit ihrer Rechtfertigung und daß Alles das Ihnen zustoßen muß, der Sie ein höheres Leben als die Masse der Menschen leben wollten und höhere Ziele erstrebten! Ich kann mich nicht bei dem Gedanken beruhigen, daß das unabänderlich sein soll. Ich weiß, daß Sie ein solches Streben hatten; ich erinnere mich noch sehr wohl dessen, was Sie mir sagten, als Sie zuerst über das Hospital mit mir sprachen. Es giebt nichts, was mir mehr zu denken gegeben hätte, als der Kummer, das Große zu lieben und ihm nachzustreben und doch sein Ziel zu verfehlen.«
»Ja,« sagte Lydgate in dem Gefühl, daß ihm hier ein Verständniß der ganzen Bedeutung seines Kummers entgegen komme, »ich hatte Ehrgeiz. Ich glaubte, daß Alles für mich anders sei, daß ich eine größere Kraft und Herrschaft besitze als Andere. Aber die furchtbarsten Hindernisse sind die, welche Niemand sieht, als wir selbst.«
»Was meinen Sie,« sagte Dorothea nachdenklich, »was meinen Sie, wenn wir das Hospital in seiner jetzigen Gestalt fortbestehen ließen und Sie, wenn auch nur von wenigen Freunden unterstützt, hier blieben. Die Uebelwollenden würden allmälig verschwinden; es würden sich Gelegenheiten finden, wo die Leute sich zu der Anerkennung gezwungen sähen, daß sie ungerecht gewesen seien, weil sie einsehen müßten, daß Ihre Absichten rein waren. Sie werden vielleicht noch einmal berühmt wie Louis und Laennec Pierre Charles Alexandre Louis (1787-1872), französischer Arzt; entwickelte die »Numerische Methode« als Vorläufer der Epidemiologie. – René Laënnec (1781-1826), französischer Arzt; erfand 1816 das Stethoskop. – Anm.d.Hrsg., von denen ich Sie habe reden hören, und wir werden Alle stolz auf Sie sein,« schloß sie lächelnd.
»Das möchte sein, wenn ich noch mein altes Selbstvertrauen hätte, erwiderte,« Lydgate traurig. »Nichts verstimmt mich mehr als der Gedanke, mich vor dieser Verleumdung ducken und flüchten und sie hinter mir ungehemmt fortwirken lassen zu müssen. Und doch kann ich Niemanden bitten, eine große Summe Geldes einem Unternehmen zuzuwenden, dessen Gedeihen mir anvertraut ist.«
»Für mich würde das ganz der Mühe werth sein,« sagte Dorothea anspruchslos. »Denken Sie doch nur, mein Geld quält mich sehr, weil mir meine männlichen Rathgeber sagen, daß ich zu wenig zur Ausführung irgend eines großen Planes in der Art, wie er mir zusagen würde, habe, und doch habe ich zu viel für meine Bedürfnisse, ich weiß nicht, was ich damit thun soll. Ich habe sieben hundert Pfund jährlich eigenes Vermögen, neunzehnhundert Pfund jährlich aus der Hinterlassenschaft meines verstorbenen Mannes und zwischen zwei- und dreitausend Pfund baares Geld in der Bank. Mein Wunsch wäre gewesen, Geld aufzunehmen, das ich allmälig aus dem Ueberschuß meiner Jahreseinnahme abbezahlt haben würde, und damit Land zu kaufen und ein Dorf zu gründen, welches eine Schule des Fleißes hätte werden sollen; aber Sir James und mein Onkel haben mich überzeugt, daß das Risico zu groß sein würde. Sie sehen also, daß mich nichts mehr freuen könnte, als wenn ich mit meinem Gelde etwas Gutes zu thun wüßte; ich möchte damit das Leben anderer Menschen glücklicher gestalten. Mir ist es ein sehr unbehaglicher Gedanke, daß ich, die ich es nicht brauche, all dieses Geld habe.«
Lydgate's finsteres Gesicht überflog ein Lächeln. Die kindliche ernstblickende Dringlichkeit, mit welcher Dorothea das alles sagte, war ein Ausfluß ihres anbetungswürdigen Wesens und ihres raschen Verständnisses der tiefsten Erfahrungen und wirkte unwiderstehlich. Von niedrigen Erfahrungen, die eine so große Rolle in der Welt spielen, hatte die arme Frau Casaubon nur sehr unklare und mangelhafte Kunde, welcher ihre Phantasie nur sehr wenig nachzuhelfen im Stande war. Aber sie fand in Lydgate's Lächeln eine Aufmunterung für ihren Plan.
»Ich denke, Sie sehen jetzt ein, daß Ihre Aeußerungen gar zu scrupulös waren,« sagte sie im Tone der Ueberredung. »Das Hospital wäre ein Gutes, und die Wiederherstellung eines unversehrten und wohlbehaltenen Lebens für Sie wäre auch etwas Gutes.«
Lydgate's Lächeln war wieder verschwunden.
»Sie haben die Herzensgüte und das Geld, um alles das zu thun; wenn es gethan werden könnte,« sagte er. »Aber –«
Er zauderte ein wenig und sah dabei mit unbestimmtem Blick nach dem Fenster, während sie in schweigender Erwartung dasaß.
Endlich wandte er sich zu ihr und sagte mit Ungestüm:
»Warum sollte ich es Ihnen nicht sagen? – Sie wissen, welche Fesseln die Ehe uns anlegt. Sie werden Alles verstehen.«
Dorothea's Herz fing an, rascher zu schlagen. Hatte er auch diesen Kummer? Aber sie fürchtete, irgend etwas zu sagen, und er fuhr alsbald fort:
»Es ist jetzt für mich unmöglich, irgend etwas zu thun, mich zu irgend einem Schritt zu entschließen, ohne auf das Glück meiner Frau Rücksicht zu nehmen. Das was ich gern thun würde, wenn ich allein wäre, ist für mich unmöglich geworden. Ich kann es nicht ertragen, meine Frau unglücklich zu sehen. Sie hat mich geheirathet, ohne zu wissen, was ihr bevorstehe, und es wäre ihr vielleicht besser gewesen, sie hätte mich nicht geheirathet.«
»Ich weiß, ich weiß!! Sie wären unfähig, etwas ihr Peinliches zu thun, wenn Sie sich nicht dazu genöthigt sähen,« sagte Dorothea in lebhafter Erinnerung an ihr eigenes Leben.
»Und ihr ist der Gedanke, hier zu bleiben, entschieden zuwider. Sie wünscht fortzuziehen. Die Widerwärtigkeiten, die sie hier erlebt hat, haben sie mürbe gemacht,« sagte Lydgate und brach damit aus Furcht, zu viel zu sagen, wieder ab.
»Aber wenn ihr das Gute, das aus dem Hierbleiben erwachsen könnte, klar gemacht würde,« sagte Dorothea, indem sie Lydgate mit einem Blick ansah, der ihn daran erinnern sollte, daß er die eben von ihnen erwogenen Gründe für sein Verbleiben vergessen habe.
Er antwortete nicht gleich.
»Sie würde es sich nicht klar machen lassen,« sagte er endlich kurz, indem es ihm im ersten Augenblick schien, daß diese Angabe ohne weitere Erklärungen genügen müsse. »Und in der That habe ich selbst allen Muth verloren, mein Leben hier weiter fortzuführen.« Er hielt einen Augenblick inne, fuhr aber dann, dem Impulse, Dorothea tiefer in die Schwierigkeiten seines Lebens blicken zu lassen, folgend, fort: »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, diese neueste Widerwärtigkeit ist in verwirrender Ueberraschung über sie gekommen. Wir haben nicht darüber mit einander sprechen können. Ich bin nicht sicher, wie sie darüber denkt; vielleicht fürchtet sie, daß ich mich wirklich einer niedrigen Handlung schuldig gemacht habe. Es ist meine Schuld; ich hätte offener gegen sie sein sollen, aber ich habe schrecklich gelitten.«
»Darf ich zu ihr gehen?« fragte Dorothea eifrig. »Glauben Sie, daß sie für meine Theilnahme empfänglich sein würde? Ich würde ihr sagen, daß nur Sie selbst an Ihrem Benehmen etwas zu tadeln finden. Ich würde ihr sagen, daß Sie vor den Augen jedes Billigdenkenden völlig rein dastehen müssen. Ich würde ihren Muth neu beleben. Wollen Sie sie fragen, ob ich sie besuchen darf? Ich habe sie schon früher einmal gesehen.«
»Sie wird sich gewiß sehr freuen,« sagte Lydgate, indem er den Vorschlag mit einiger Hoffnung annahm. »Sie würde sich, glaube ich, durch den Beweis, daß Sie wenigstens einige Achtung für mich haben, geehrt und aufgemuntert fühlen. Ich werde ihr nichts von Ihrem Kommen sagen, damit sie dasselbe durchaus nicht mit meinen Wünschen in Verbindung bringe. Ich weiß sehr gut, daß ich es nicht hätte zugeben müssen, daß sie irgend etwas von Anderen erfahre, aber –«
Er brach ab, und es entstand eine Pause; Dorothea stand davon ab auszusprechen, was sie bei Lydgate's Worten empfand, wie gut sie wisse, daß es unsichtbare Schranken des Gedankenaustausches zwischen Mann und Weib geben könne. Das war ein auch bei der theilnehmendsten Berührung vielleicht verwundbarer Punkt.
Sie lenkte das Gespräch wieder auf Lydgate's äußere Lage und sagte heiter:
»Und wenn Ihre Frau erführe, daß Sie Freunde haben, die an Sie glauben und Sie unterstützen würden, so würde sie vielleicht froh sein, wenn Sie in Ihrer Stellung verblieben und wieder frische Hoffnung schöpften und Ihre Absichten zur Ausführung brächten. Dann würden Sie vielleicht erkennen, daß Sie Recht hatten, meinem Vorschlage in Betreff der Fortführung Ihrer Thätigkeit im Hospital zuzustimmen. Gewiß, das würden Sie, wenn Sie noch an diese Thätigkeit als an ein Mittel glauben, Ihre Kenntnisse nutzbar zu machen, nicht wahr?«
Lydgate antwortete nicht, und sie sah, daß er mit sich kämpfte.
»Sie brauchen sich ja nicht gleich zu entscheiden,« sagte sie sanft. »In einigen Tagen wird es noch früh genug für mich sein, Herrn Bulstrode meine Antwort zukommen zu lassen.«
Lydgate zögerte, endlich aber sagte er in seinem decidirtesten Ton:
»Nein, ich möchte mir lieber keine Zeit zu längerem Zaudern gelassen sehen. Ich bin meiner selbst nicht mehr sicher genug, ich meine dessen, was mir unter den veränderten Umständen meines Lebens zu thun möglich sein würde. Es würde mir nicht zur Ehre gereichen, wenn ich Andere im Vertrauen auf mich ernste Verpflichtungen eingehen lassen wollte. Ich möchte mich doch schließlich genöthigt sehen, von hier fortzuziehen; ich sehe wenig Aussicht zu irgend etwas Anderem. Die ganze Sache ist zu problematisch, ich kann mich nicht entschließen, Sie zu veranlassen, Ihre Güte zu vergeuden. Nein! mag das neue Hospital mit dem alten Krankenhause vereinigt werden und Alles seinen Fortgang nehmen, wie es vielleicht gethan haben würde, wenn ich nie hergekommen wäre. Ich habe vom Beginn meiner Thätigkeit im Hospital an ein werthvolles Journal geführt; das werde ich einem Manne schicken, der es nützlich zu verwenden wissen wird,« schloß er bitter. »Ich darf auf lange hinaus an nichts denken, als mir eine Einnahme zu schaffen.«
»Es thut mir sehr wehe, Sie so hoffnungslos reden zu hören,« sagte Dorothea. »Es würde Ihre Freunde, welche an Ihre Zukunft, an Ihre Fähigkeit, große Dinge zu vollbringen, glauben, glücklich machen, wenn Sie es ihnen möglich machen wollten, Sie davor zu retten. Denken Sie doch, wie viel Geld ich habe; Sie würden mir förmlich eine Last abnehmen, wenn Sie jährlich etwas davon nehmen wollten, bis Sie sich von diesem fesselnden Geldmangel befreit haben werden. Ich sehe nicht ein, warum man so etwas nicht thun sollte? Es ist so schwer, die Lebensloose irgend wie gleich zu machen, und hier wäre doch wenigstens ein Weg dazu gegeben.«
»Gott segne Sie, Frau Casaubon,« sagte Lydgate, indem er, wie von demselben Impulse getrieben, der ihm seine energischen Worte eingegeben hatte, aufstand und seinen Arm an die Rücklehne des großen ledernen Sessels, auf welchem er gesessen hatte, stützte. »Es ist schön, daß Sie solche Gefühle hegen; aber ich bin nicht der Mann, der sich erlauben dürfte, von denselben Vortheil zu ziehen; dafür habe ich nicht Garantieen genug geboten. Ich muß mich wenigstens davor hüten, so weit zu sinken, daß ich mich für Arbeit, die ich nie gethan habe, bezahlen lasse. Es ist mir ganz klar, daß ich auf nichts anderes rechnen darf, als, sobald ich es irgend einrichten kann, von Middlemarch fortzukommen. Ich würde für lange Zeit unter den günstigsten Umständen nicht im Stande sein, mir hier eine Einnahme zu verschaffen, und es ist leichter, nothwendige Veränderungen in seiner Lebensweise an einem neuen Orte eintreten zu lassen. Ich muß es machen wie andere Leute und an das denken, was der Welt gefällt und Geld einbringt; mich in einen kleinen Platz in dem Londoner Gedränge einzuschieben suchen, mich an einem Badeorte etabliren, oder nach einer Stadt im Süden Englands ziehen, wo viele reiche Müßiggänger leben, und mich durch Reklame in Aufnahme zu bringen suchen. Das ist die Art von Schneckenhaus, in das ich kriechen und in dem ich meine Seele lebendig zu erhalten suchen muß.«
»Sehen Sie, das ist nicht tapfer von Ihnen, den Kampf so aufzugeben,« sagte Dorothea.
»Nein, es ist nicht tapfer,« erwiderte Lydgate, »aber wenn man sich nun einmal vor einer langsam heranschleichenden Lähmung zu fürchten hat. Und doch,« fuhr er in einem anderen Tone fort, »haben Sie mir durch Ihren Glauben an mich neuen Muth gegeben. Alles erscheint mir erträglicher, seit ich mit Ihnen gesprochen habe, und wenn Sie mich in der Meinung einiger Anderen, namentlich Farebrother's, reinigen können, so werde ich Ihnen zum innigsten Danke verpflichtet sein. Ein Punkt aber, den ich Sie nicht zu erwähnen bitte, ist der Umstand, daß meine Vorschriften nicht befolgt worden sind. Das würde bald entstellt werden. Am Ende habe ich doch keinen anderen Beweis für mich, als die Meinung der Leute. Sie können nichts thun, als meine eigenen Angaben über mich wiederholen.«
»Farebrother wird mir glauben, und Andere werden mir glauben,« sagte Dorothea. »Ich bin im Stande, so über Sie zu sprechen, daß nur der Unverstand annehmen könnte, Sie würden sich jemals bestechen lassen, eine niedrige Handlung zu begehen.«
»Ich weiß nicht!« sagte Lydgate in einem wie stöhnend klingenden Ton. »Bis jetzt habe ich mich noch nicht bestechen lassen. Aber es giebt eine abgeblaßte Art der Bestechung, welche man bisweilen glückliches Gedeihen nennt. Wollen Sie also die große Güte haben, meine Frau zu besuchen?«
»Gewiß will ich das. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie hübsch sie ist,« sagte Dorothea, der sich jeder von Rosamunden's Wesen und Erscheinung empfangene Eindruck tief eingeprägt hatte. »Ich hoffe, sie wird Gefallen an mir finden.«
Als Lydgate nach Hause ritt, dachte er:
»Diese junge Frau hat ein Herz, groß genug für die Himmelskönigin. Sie denkt offenbar gar nicht an ihre eigene Zukunft und würde ihr halbes Vermögen sofort weggeben, wie wenn sie für sich selbst nichts bedürfte als eines Stuhles, auf dem sie sitzen und von dem herab sie mit ihren klaren Augen auf die armen Sterblichen blicken könnte, die zu ihr beten. Sie scheint das zu besitzen, was ich nie bei einer Frau gefunden habe, einen unversiegbaren Quell der Freundschaft für Männer; ein Mann kann sie zu seiner Freundin machen. Casaubon muß eine Ader romantischen Opfermuthes in ihr fließen gemacht haben. Ich möchte wohl wissen, ob sie einer anderen Leidenschaft für einen Mann fähig wäre. Etwa für Ladislaw? – unstreitig bestand ein nicht gewöhnliches Verhältniß zwischen ihnen. Und Casaubon muß eine Idee davon gehabt haben. Nun, ihre Liebe könnte einem Manne gewiß mehr helfen, als ihr Geld.«
Dorothea ihrerseits hatte sofort einen Plan entworfen, Lydgate von seiner Verpflichtung gegen Bulstrode zu befreien, welche, wie sie überzeugt war, einen, wenn auch kleinen Theil der schweren Last bildete, die ihn drückte.
Sie setzte sich, noch unter dem Eindruck ihrer Unterhaltung, sofort hin und schrieb ein kurzes Billet, in welchem sie sich darauf stützte, daß sie ein größeres Anrecht als Bulstrode auf die Genugthuung habe, das Geld, welches Lydgate nützlich gewesen sei, herzugeben – daß es unfreundlich von Lydgate sein würde, ihr nicht zu gestatten, ihm in dieser kleinen Angelegenheit zu helfen, was sie lediglich als eine ihr erwiesene Gefälligkeit betrachten würde, die sie so wenig klar bestimmte Zwecke für die Verwendung ihres überflüssigen Geldes habe. Er könne sie ja seine Gläubigerin oder wie er sonst wolle nennen, wenn er ihr nur ihre Bitte gewähre. Sie legte eine Anweisung auf tausend Pfund ein und nahm sich vor, den Brief am nächsten Tage, wenn sie zu Rosamunden gehe, mitzunehmen.