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Das Motto zu Kapitel 74 (in dieser Übersetzung Band 4, Kapitel 12):
Mercifully grant that we may grow aged together.
Book of Tobit: Marriage Prayer.
In Middlemarch konnte eine Frau nicht lange in Unwissenheit darüber bleiben, daß die Stadt schlecht von ihrem Manne denke. Keine weibliche Vertraute trieb vielleicht ihre Freundschaft so weit, der Frau die unliebsame bekannte oder geglaubte Thatsache in Betreff ihres Mannes rückhaltlos mitzutheilen. Wenn aber ein weibliches Wesen, das sehr viel Zeit hatte, ihren Gedanken nachzuhängen, sich plötzlich veranlaßt fand, diese Gedanken gewissen, für ihre Nebenmenschen ungünstigen Gerüchten zuzuwenden, so vereinigten sich verschiedene moralische Antriebe, sie zu reizen, gelegentliche Andeutungen der unliebsamen Wahrheit fallen zu lassen.
Einer von diesen Antrieben war die Aufrichtigkeit. Aufrichtig sein hieß in der Middlemarcher Sprache die erste sich darbietende Gelegenheit benutzen, um seine Freunde wissen zu lassen, daß man von ihren Fähigkeiten, ihrem Benehmen oder ihrer Stellung nicht vortheilhaft denke, und eine derbe Aufrichtigkeit wartete nie, bis sie um ihre Meinung befragt wurde.
Ein zweiter Antrieb war die Wahrheitsliebe; ein weiter Begriff, der aber in diesem Zusammenhange ein lebhaftes Mißfallen daran bedeutete, daß eine Frau glücklicher aussah, als der Ruf ihres Mannes zu rechtfertigen schien, oder eine zu große Befriedigung mit ihrem Loose zu erkennen gab. Dem armen Geschöpfe mußte doch ein Wink gegeben werden, daß, wenn sie die Wahrheit wüßte, sie weniger Gefallen an ihrem Hut und an feinen Schüsseln für ein Souper finden würde.
Der stärkste von diesen Impulsen aber war die Rücksicht auf die moralische Besserung einer Freundin oder, wie es bisweilen genannt wurde, auf das Heil ihrer Seele, welcher voraussichtlich Hinweisungen auf den trüben Ernst des Lebens gut thun würden, besonders wenn dieselben in Begleitung eines nachdenklichen Hinstarrens auf die Möbel und einer Miene gemacht würden, die deutlich sagte, daß die Sprecherin die Gefühle ihrer Freundin schonen und nicht sagen wolle, was sie auf dem Herzen habe.
Alles in Allem konnte man sagen, daß eine eifrige Nächstenliebe die tugendhaften Gemüther darauf hinarbeiten ließ, eine Mitschwester zu ihrem Besten unglücklich zu machen.
Es gab wohl schwerlich Frauen in Middlemarch, deren eheliches Unglück mehr geeignet war, jene sittlichen Antriebe in verschiedener Weise in Bewegung zu setzen, als Rosamunde und ihre Tante Bulstrode.
Frau Bulstrode war nicht unbeliebt und hatte nie mit Bewußtsein einem menschlichen Wesen etwas zu Leide gethan. Die Männer hatten sie immer für eine hübsche angenehme Frau erklärt und hatten es als eines der Zeichen von Bulstrode's Heuchelei angesehen, daß er statt einer bleichen melancholischen Person, wie sie seiner Geringschätzung irdischer Freuden entsprochen haben würde, eine rothwangige Vincy gewählt habe. Als die Sache von ihrem Manne bekannt wurde, sagten sie von ihr: ›O die arme Frau! Sie ist die Rechtschaffenheit selbst, sie hat nie den geringsten Verdacht gegen ihn gehegt, darauf können Sie sich verlassen.‹
Frauen, die mit ihr befreundet waren, unterhielten sich viel über die ›arme Harriet‹, stellten sich vor, was sie empfinden müsse, wenn sie Alles erfahren haben werde, und ergingen sich in Vermuthungen darüber, wie viel sie wohl schon gehört habe. Es herrschte keine feindselige Stimmung gegen sie, vielmehr ein geschäftiges Wohlwollen, das darüber ins Reine zu kommen suchte, was sie unter den obwaltenden Umständen wohl fühlen und thun sollte, wobei sich denn sehr natürlich Veranlassung fand, ihren Charakter und ihr Leben vom Momente ihrer Verheirathung an bis auf den heutigen Tag durchzugehen.
Bei einer Betrachtung der Lage, in welcher sich Frau Bulstrode befand, war es unvermeidlich, auch Rosamunde ins Auge zu fassen, deren Zukunft von demselben Unheil bedroht schien, wie die ihrer Tante. Rosamunde wurde schärfer kritisirt und weniger bemitleidet, obgleich auch sie als ein Mitglied der guten alten Vincy'schen Familie, die von Alters her in Middlemarch ansässig gewesen war, als das Opfer einer Heirath mit einem Eindringling betrachtet wurde. Die Vincys hatten ihre Schwächen, aber diese lagen auf der Oberfläche, es gab bei ihnen nie etwas Schlimmes herauszukundschaften; man verwahrte Frau Bulstrode gegen jede Aehnlichkeit mit ihrem Manne, Harriet's Fehler hatten mit denen Bulstrode's nichts gemein.
»Sie hat immer den Prunk geliebt,« sagte Frau Hackbutt, während sie für eine kleine Gesellschaft den Thee bereitete, »obgleich sie sich angewöhnt hat, ihre Frömmigkeit zur Schau zu tragen, um sich ihrem Manne anzubequemen; sie hat sich über uns andere Middlemarcher zu erheben gesucht, indem sie sich groß damit that, daß sie Geistliche und Gott weiß wen von Riverstone und ähnlichen Orten einlade.«
»Man darf sie deshalb kaum tadeln,« bemerkte Frau Sprague, »weil wenige von den angesehensten Leuten in Middlemarch mit Bulstrode verkehren wollten und weil sie doch Leute an ihrem Tische haben mußte.«
»Herr Thesiger hat ihm immer die Stange gehalten,« sagte wieder Frau Hackbutt. »Ich denke, dem muß es jetzt leid sein.«
»Aber von Herzen hat er ihn nie gemocht, das weiß Jedermann,« sagte Frau Tom Toller. »Herr Thesiger ist allen Extremen abhold, er hält nur immer an der evangelischen Wahrheit fest. Nur solche Geistliche wie Herr Tyke, die gern Dissenter-Gesangbücher und die Art von Religion einführen möchten, haben je an Bulstrode Geschmack gefunden.«
»Ich höre, Herrn Tyke geht sein Schicksal nahe,« sagte Frau Hackbutt; »und er mag alle Ursache dazu haben; wie es heißt, haben die Bulstrode's die Tykesche Familie halb erhalten.«
»Und natürlich bringt es seine Doktrinen in Mißkredit,« bemerkte Frau Sprague, die ältlich und altmodisch in ihren Ansichten war. »Die Leute werden sich jetzt eine gute Weile hüten, in Middlemarch mit ihrem Methodismus zu prahlen.«
»Ich glaube, man darf die schlechten Handlungen der Leute nicht auf ihre Religion zurückführen,« sagte Frau Plymdale mit dem Falkengesicht, die bis jetzt nur zugehört hatte.
»O liebe Frau Plymdale, wir haben nicht daran gedacht, wir sollten davon nicht vor Ihnen sprechen,« sagte Frau Sprague.
»Ich wüßte nicht, warum ich in dieser Sache partheiisch sein sollte,« entgegnete Frau Plymdale erröthend. »Mein Mann hat zwar immer auf gutem Fuße mit Herrn Bulstrode gestanden, und Harriet Vincy war meine Freundin, lange ehe sie ihn heirathete; aber ich habe mir immer meine eigenen Ansichten bewahrt und es der armen Frau immer offen gesagt, wenn ich fand, daß sie Unrecht hatte. Was aber die Religion betrifft, so muß ich sagen, Herr Bulstrode hätte thun können, was er gethan hat und noch Schlimmeres, und hätte doch ein Mann ohne Religion sein können. Ich will nicht sagen, daß er es mit der Religion nicht ein wenig übertrieben hat, ich bin selbst eine Freundin von gemäßigten Ansichten. Aber Wahrheit bleibt Wahrheit. Die Leute, die bei den Assisen verurtheilt werden, sind glaube ich nicht gerade Alle besonders religiös.«
»Nun,« sagte Frau Hackbutt, mit einer geschickten Wendung, »ich kann nur sagen, sie sollte ihn verlassen.«
»Das möchte ich nicht sagen,« bemerkte Frau Sprague. »Sie wissen, sie hat sich bei ihrer Trauung verpflichtet, Freude und Leid mit ihm zu tragen.«
»Aber ›Leid mit dem Manne tragen‹ kann sich doch nicht darauf beziehen, wenn wir finden, daß unsere Männer Newgate Newgate war ein Stadttor im Westen der römisch-mittelalterlichen Stadtmauer Londons. Bis 1902 befand sich hier das berüchtigte Newgate-Gefängnis. Heute steht an dieser Stelle der Strafgerichtshof »Old Bailey«. – Anm.d.Hrsg. verdient haben,« entgegnete Frau Hackbutt. »Ich könnte nicht mit einem solchen Manne leben! Ich würde immer befürchten, von ihm vergiftet zu werden.«
»Ja, mir scheint es gradezu eine Ermunterung zum Verbrechen, wenn solche Männer gute Frauen finden, die für sie sorgen und sie gut pflegen,« sagte Frau Tom Toller.
»Und eine gute Frau ist die arme Harriet gewesen,« bemerkte Frau Plymdale. »Sie hält ihren Mann für den besten aller Männer. Es ist wahr, er hat ihr nie etwas verweigert.«
»Nun wir werden ja sehen, was sie thut,« sagte Frau Hackbutt. »Ich glaube, die arme Frau weiß noch gar nichts davon. Ich hoffe von ganzem Herzen, daß ich sie nicht zu sehen bekomme; denn ich würde mich zu Tode ängstigen, etwas über ihren Mann zu sagen. Glauben Sie, daß ihr schon irgend etwas zu Ohren gekommen ist?«
»Ich glaube kaum,« sagte Frau Tom Toller. »Ich höre, daß er krank ist und seit der Versammlung am Donnerstag nicht aus dem Hause gewesen ist; aber sie war mit ihren Töchtern gestern in der Kirche; sie trugen neue italienische Strohhüte; auf dem ihrigen hatte sie eine Feder. Ich habe nie bemerkt, daß ihre Religion einen Einfluß auf ihre Toilette gehabt hat.«
»Sie kleidet sich immer sehr hübsch und einfach,« sagte Frau Plymdale etwas gereizt; »und die Feder, weiß ich, hat sie sich absichtlich lila färben lassen, um sie zu ihrem übrigen Anzuge passend zu machen. Ich muß Harriet nachsagen, daß sie immer bestrebt gewesen ist, recht zu handeln.«
»Lange kann sie keinenfalls im Dunkeln über das Vorgefallene bleiben,« sagte Frau Hackbutt. »Die Vincys wissen es ja, denn Herr Vincy war in der Versammlung. Es ist ein harter Schlag für ihn; die Sache trifft ja seine Tochter und seine Schwester zugleich.«
»Ja, das ist wahr,« sagte Frau Sprague. »Kein Mensch glaubt, daß Lydgate sich noch ferner in Middlemarch blickenlassen kann; die Sache mit den tausend Pfund, die er gerade bei dem Tode jenes Mannes annahm, wirft ein gar zu schlimmes Licht auf ihn. Man schaudert wenn man daran denkt.«
»Hochmuth kommt vor dem Fall,« bemerkte Frau Hackbutt.
»Mir thut's nicht so leid um Rosamunde wie um ihre Tante,« sagte Frau Plymdale,« sie kann eine Lection brauchen.«
»Ich denke mir, die Bulstrode's werden fortgehen und irgend wo im Auslande leben,« sagte Frau Sprague. »Das geschieht ja auch gewöhnlich, wenn etwas Schimpfliches in einer Familie passirt.«
»Und für Harriet wird es ein furchtbarer Schlag sein,« sagte Frau Plymdale. »Wenn je eine Frau niedergeschmettert war, so wird sie es sein, sie thut mir wahrhaft leid. Und trotz aller ihrer Fehler ist sie doch eine der besten Frauen. Von jeher war sie die Sauberkeit und Ordnung selbst und war immer gutmüthig und offen wie der Tag. Man kann zu jeder Zeit in ihre Schubladen sehen, sie sind immer in Ordnung. Und so hat sie auch Kate und Ellen erzogen. Man kann sich denken, wie hart es ihr ankommen wird, unter Fremden zu leben.«
»Mein Mann sagt, das würde er auch Lydgates rathen,« sagte Frau Sprague. »Er sagt, Lydgate hätte in Frankreich bleiben sollen.«
»Das würde ihr, glaube ich, gerade gefallen,« sagte Frau Plymdale, »sie hat ja so ein leichtes französisches Wesen. Aber das hat sie von ihrer Mutter, gewiß nicht von ihrer Tante Bulstrode, die ihr immer guten Rath ertheilt hat und, so viel ich weiß, es gern gesehen hätte, wenn sie sich anders verheirathet hätte.«
Frau Plymdale befand sich in einer Lage, welche widerstreitende Gefühle in ihr hervorrief. Es bestand nicht nur eine vertraute Freundschaft zwischen ihr und Frau Bulstrode, sondern auch ein vortheilhaftes geschäftliches Verhältniß zwischen der großen Plymdale'schen Färberei und Herrn Bulstrode, welches sie einerseits wünschen ließ, daß sich die mildeste Auffassung seines Charakters als die richtige herausstellen möchte, sie andererseits aber nur um so mehr den Schein fürchten machte, als wolle sie seine Schuld beschönigen.
Und wieder hatte sie die neue Verbindung ihrer Familie mit den Tollers in nahe Beziehungen zu der besten Gesellschaft gebracht, was ihr in jeder Beziehung zur Genugthuung gereichte, außer insofern ihre Neigung zu den ernsten Ansichten in Betracht kam, welche sie in einem anderen Sinne für die besten hielt. Das Gewissen der strengen kleinen Frau fühlte sich etwas beunruhigt bei dem Bestreben, diese widerstreitenden ›besten‹ Dinge und ihre durch neuerliche Vorgänge hervorgerufenen Bekümmernisse und Genugthuungen in Einklang zu bringen, Vorgänge, welche zwar voraussichtlich diejenigen, die der Demüthigung bedurften, demüthigen, aber auch die alte Freundin schwer heimsuchen würden, deren Fehler sie lieber auf einem Hintergrunde des Glücks gesehen hätte.
Inzwischen war die arme Frau Bulstrode von dem nahenden Unheil noch nicht weiter betroffen worden, als insofern das geheime Unbehagen, welches sie seit Raffles' letztern Besuche ›im Gebüsch‹ nie verlassen hatte, sich noch merklich steigerte. Daß der verhaßte Mensch krank nach Stone Court gekommen war und daß ihr Mann sich entschlossen hatte, dort zu bleiben und ihn zu pflegen, schien ihr hinreichend erklärt durch die Thatsache, daß Raffles in früheren Jahren von ihrem Manne beschäftigt und unterstützt worden sei, und dadurch in seinem jetzigen Zustande entwürdigender Hülflosigkeit einen Anspruch auf das Wohlwollen Bulstrode's erworben habe, und sie hatte sich seitdem noch ahnungslos erfreut an der hoffnungsvolleren Anschauung ihres Mannes von seiner Gesundheit und seiner Fähigkeit, sich noch ferner den Geschäften zu widmen.
Aus dieser beruhigteren Stimmung wurde sie aufgestört, als Lydgate ihren Mann aus der Versammlung krank nach Hause brachte. Denn trotz Lydgate's tröstender Versicherungen konnte sie sich der Ueberzeugung nicht erwehren, daß ihr Mann nicht nur körperlich, sondern an etwas leide, das sein Gemüth betrübe, und sie machte ihrem Kummer in heimlichen Thränen Luft. Er wollte sich, unter dem Vorwande einer nervösen Reizbarkeit gegen Töne und Bewegungen, nicht von ihr vorlesen lassen und ihr kaum erlauben, bei ihm zu sitzen; sie aber argwöhnte, daß er sich nur deßhalb in seinem Zimmer einschließe, um ungestört in seinen Papieren kramen zu können.
Sie war überzeugt, daß etwas vorgefallen sein müsse. Vielleicht handelte es sich um einen großen Geldverlust, den man ihr verheimlichen wollte. Da sie es nicht wagte, ihren Mann direkt zu fragen, wandte sie sich fünf Tage nach der Versammlung, während deren sie das Haus nur verlassen hatte, um in die Kirche zu gehen, an Lydgate.
»Herr Lydgate, bitte, seien Sie offen gegen mich; ich mag immer gern die Wahrheit wissen. Ist meinem Manne etwas begegnet?«
»Ein kleiner nervöser Zufall,« sagte Lydgate ausweichend. Er fühlte, daß es nicht seines Amtes sei, der Frau die peinliche Wahrheit zu enthüllen.
»Aber was hat diesen Zufall herbeigeführt?« fragte Frau Bulstrode weiter, indem sie Lydgate mit ihren großen dunkeln Augen gerade in's Gesicht sah.
»Die Luft in öffentlichen Versammlungen ist oft so außerordentlich schlecht,« erwiderte Lydgate. »Kräftigen Leuten schadet sie nichts; aber Leute von zarter Organisation leiden empfindlich darunter. Es ist oft unmöglich, das Eintreten eines Anfalles in einem bestimmten Moment zu erklären, oder vielmehr zu sagen, warum die Kräfte gerade in einem gewissen Augenblick versagen.«
Frau Bulstrode fühlte sich durch diese Antwort nicht befriedigt. Sie glaubte auch jetzt noch, daß ihrem Manne ein Unglück begegnet sei, das man vor ihr verberge, und eine solche Heimlichkeit war ihrem Wesen gründlich zuwider. Sie bat ihren Mann, ihren Töchtern zu erlauben, bei ihm zu sitzen, und fuhr in die Stadt, um einige Besuche zu machen, wo sie dann, wenn es bekannt sei, daß in Bulstrode's Angelegenheiten nicht Alles in Ordnung sei, sicher etwas davon merken werde.
Sie fuhr zunächst zu Frau Thesiger, die aber nicht zu Hause war, und dann zu Frau Hackbutt, die gegenüber auf der anderen Seite des Kirchhofs wohnte. Frau Hackbutt sah sie von einem Fenster im oberen Stock aus kommen und fühlte sich, eingedenk ihrer früher ausgesprochenen Furcht vor einer Begegnung mit Frau Bulstrode, fast verpflichtet, sich verleugnen zu lassen; auf der anderen Seite aber regte sich in ihr der lebhafte Wunsch nach der Aufregung einer solchen Begegnung, bei welcher sie übrigens ganz entschlossen war, auch nicht die leiseste Anspielung auf das zu machen, was sie auf dem Herzen hatte.
So wurde Frau Bulstrode in den Salon geführt und, Frau Hackbutt kam ihr mit noch fester geschlossenen Lippen und noch eifrigerem Händereiben entgegen, als gewöhnlich, um sicher zu sein, sich im Reden nicht gehen zu lassen. Sie war entschlossen, nicht zu fragen, wie es Herrn Bulstrode gehe.
»Ich bin seit beinahe einer Woche außer in der Kirche nirgends gewesen,« sagte Frau Bulstrode nach einigen einleitenden Bemerkungen. »Bulstrode ist am vorigen Donnerstag in der Versammlung plötzlich so unwohl geworden, daß ich das Haus nicht habe verlassen mögen.«
Frau Hackbutt rieb den Rücken der einen Hand mit der Fläche der anderen, die sie gegen die Brust drückte, und ließ ihre Augen über das Muster des Kaminteppichs hinschweifen.
»War Ihr Mann in der Versammlung?« fuhr Frau Bulstrode fort.
»Ja,« erwiderte Frau Hackbutt in derselben Stellung. »Das Stück Land soll, glaube ich, auf dem Wege der Subscription erworben werden.«
»Hoffen wir, daß keine Cholerafälle mehr vorkommen und daß Niemand da begraben zu werden braucht,« sagte Frau Bulstrode. »Es ist eine furchtbare Heimsuchung. Aber ich halte doch Middlemarch immer noch für einen sehr gesunden Ort. Es kommt wohl davon, daß ich von Jugend auf hier gelebt habe; aber ich habe nie eine Stadt gesehen, in der ich lieber hätte wohnen mögen, als besonders da draußen bei uns.«
»Mich würde es ungemein freuen, wenn Sie immer in Middlemarch blieben, Frau Bulstrode,« sagte Frau Hackbutt mit einem leichten Seufzer. »Aber wir müssen ja lernen, uns in unser Loos finden, wohin es uns auch verschlagen mag. Und gewiß wird es immer Leute hier geben, die es gut mit Ihnen meinen.«
Frau Hackbutt drängte es, zu sagen, ›wenn Sie meinem Rathe folgen, so trennen Sie sich von Ihrem Manne‹, aber es schien ihr klar, daß die arme Frau noch nichts von dem Unwetter wisse, das sich über ihrem Haupte zu entladen im Begriff stehe, und sie konnte daher nichts thun, als sie ein wenig vorbereiten.
Frau Bulstrode überlief es plötzlich kalt in dem Gefühl, daß sich hinter Frau Huckbutt's Worten offenbar etwas mehr als eine gewöhnliche Phrase verberge; aber obgleich sie sich mit dem Wunsche, sich genau zu unterrichten, auf den Weg gemacht hatte, fühlte sie sich doch jetzt unfähig, ihren tapferen Vorsatz auszuführen, und nachdem sie der Unterhaltung durch eine Frage nach den jungen Hackbutts eine andere Wendung gegeben hatte, verabschiedete sie sich bald und sagte, sie wolle Frau Plymdale besuchen.
Auf ihrem Wege dahin versuchte sie, es sich glauben zu machen, daß in der Versammlung vielleicht ein ungewöhnlich lebhafter Wortwechsel zwischen Bulstrode und einigen seiner vielen Opponenten stattgefunden habe und daß vielleicht Herr Hackbutt einer von diesen gewesen sei. Das würde Alles erklären.
Nachdem sie sich aber eine Zeitlang mit Frau Plymdale unterhalten hatte, schien diese tröstliche Erklärung nicht mehr haltbar. ›Selina‹ empfing sie mit einer so pathetischen Herzlichkeit und einer so auffallenden Geneigtheit, auf Fragen über die gewöhnlichsten Dinge erbauliche Antworten zu ertheilen, daß doch kaum ein einfacher Wortwechsel, dessen schlimmste Folge ein Unwohlsein Bulstrode's gewesen wäre, als Erklärung dafür hinreichte.
Vorher hatte sich Frau Bulstrode gedacht, es werde ihr leichter werden, Frau Plymdale zu befragen als irgend jemand Anderen; aber sie fand zu ihrer Ueberraschung, daß eine alte Freundin nicht immer die Person ist, die sich am leichtesten zur Vertrauten machen läßt. Die Erinnerung an ihren freundschaftlichen Verkehr unter glücklicheren Verhältnissen, die Abneigung, sich von einer Frau bemitleiden und aufklären zu lassen, welche lange gewöhnt gewesen war, ihre Superiorität anzuerkennen, traten ihr hier als unübersteigliche Schranke entgegen. Denn gewisse, wie eine geheimnißvolle Anspielung klingende Aeußerungen Frau Plymdale's, daß sie fest entschlossen sei, ihre Freunde nie im Stich zu lassen, überzeugten Frau Bulstrode, daß es sich bei dem Vorgefallenen um etwas sehr Schlimmes handeln müsse, und statt sich im Stande zu fühlen, mit ihrer angeborenen Offenheit zu fragen: »Was hast Du denn auf dem Herzen?« trieb es sie, fort zu gehen, bevor sie irgend etwas Näheres erfahren haben würde.
Sie fing an, die schmerzliche Ueberzeugung zu gewinnen, daß das Mißgeschick etwas mehr sein müsse als ein bloßer Geldverlust; denn es war ihr nicht entgangen, daß Selina eben jetzt gerade wie Frau Hackbutt vorhin es vermieden habe, von dem, was sie über ihren Mann sagte, Notiz zu nehmen, als ob sie es vermeiden wollte, etwas sie persönlich Verunglimpfendes zu berühren.
Mit nervöser Hast sagte sie Frau Plymdale Adieu und hieß den Kutscher nach Herrn Vincy's Comptoir fahren. Während dieser kurzen Fahrt steigerte sich ihre Angst in dem Gefühl der Ungewißheit so sehr, daß, als sie das Privat-Comptoir ihres Bruders, wo derselbe an seinem Schreibtische saß, betrat, ihre Knie zitterten und ihr gewöhnlich so blühend aussehendes Gesicht todtenbleich war.
Ihr Anblick bewirkte etwas Aehnliches bei ihrem Bruder; er stand auf, um ihr entgegen zu gehen, ergriff ihre Hand und sagte mit seiner impulsiven Raschheit:
»Gott steh' Dir bei, Harriet, Du weißt Alles.«
Das war vielleicht ein schlimmerer Moment als irgend ein später folgender. Er erzeugte jenes concentrirte Bewußtsein, welches in großen Krisen leidenschaftlicher Aufregung das innerste Wesen einer Natur offenbart und weissagend das entscheidende Handeln voraussieht, welches einem bevorstehenden Kampfe ein Ende machen wird. Ohne jene Erinnerung an Raffles würde sie auch noch jetzt vielleicht nur an einen pecuniären Ruin gedacht haben, aber Blick und Wort ihres Bruders ließen plötzlich den Gedanken an eine Schuld ihres Mannes in ihr auftauchen. Alsbald rief dieser schreckliche Gedanke das Bild ihres, der Schande verfallenen Mannes in ihr hervor, und gleich darauf, nach einem kurzen Augenblick brennender Scham, in welchem sie nur die Augen der Welt auf sich gerichtet sah, stand sie mit einem Aufschrei ihres Herzens in trauriger, aber vorwurfsfreier Gemeinschaft mit Scham und Vereinsamung an der Seite ihres Mannes.
Alles das war das Werk eines Augenblicks; sie sank während dessen in einen Stuhl und schlug die Augen zu ihrem Bruder auf, der über sie gebeugt stand.
»Ich weiß nichts, Walther, was ist es?« sagte sie mit schwacher Stimme.
Er erzählte ihr Alles, ganz schmucklos, bruchstückweise, und versicherte sie, daß bei weitem nicht alles bewiesen sei, was das Gerücht behaupte, namentlich so weit es sich auf Raffles' Ende beziehe.
»Die Menschen müssen nun einmal schwatzen,« sagte er. »Selbst wenn Jemand von einer Jury freigesprochen ist, hören sie nicht auf zu schwatzen, sich zuzunicken und zu winken, und wenn man auf das Urtheil der Welt hören wollte, so möchte man oft sagen, es mache keinen Unterschied, ob Jemand schuldig sei oder nicht. Es ist ein vernichtender Schlag, der Lydgate ebenso schwer trifft wie Bulstrode. Ich maße mir nicht an zu sagen, was wahr an der Sache ist. Ich wünschte nur, wir hätten nie den Namen weder von Bulstrode noch von Lydgate gehört. Es wäre Dir besser gewesen, Du wärest Dein Lebelang eine Vincy geblieben – und Rosamunde auch.«
Frau Bulstrode erwiderte nichts.
»Aber Du mußt, so gut Du kannst, den Kopf oben halten, Harriet. Dir machen ja die Leute keine Vorwürfe. Und ich werde Dir beistehen, wozu Du Dich auch immer entschließen mögest,« sagte ihr Bruder mit rauher, aber wohlgemeinter Zärtlichkeit.
»Bitte, gieb mir Deinen Arm und führe mich an den Wagen, Walther,« sagte Frau Bulstrode, »ich fühle mich sehr schwach.«
Und als sie nach Hause kam, mußte sie zu ihrer Tochter sagen:
»Ich bin nicht wohl, liebes Kind, ich muß mich hinlegen. Sorge für Deinen Vater und laß mich allein. Ich will nicht zu Mittag essen.«
Sie schloß sich in ihr Zimmer ein. Sie brauchte Zeit, sich an das Bewußtsein ihres Schimpfes, an ihr armes verkümmertes Leben zu gewöhnen, bevor sie festen Schrittes an den ihr beschiedenen Platz gehen konnte.
Ein neues, scharfes Licht war auf den Charakter ihres Mannes gefallen, und sie vermochte nicht, milde über ihn zu urtheilen; die zwanzig Jahre, während deren sie vermöge seiner Verheimlichungen an ihn geglaubt und ihn verehrt hatte, zogen jetzt wieder in Zusammenhang mit Thatsachen an ihr vorüber, welche dieselben als eine abscheuliche Täuschung erscheinen ließen. Er hatte, als er sie heirathete, sein böses vergangenes Leben vor ihr verheimlicht, und jetzt blieb ihr keine Kraft des Glaubens an ihn, mit welcher sie für seine Unschuld an dem Schlimmsten, was ihm Schuld gegeben wurde, hätte eintreten mögen.
Ihre rechtschaffene, für den Glanz der Welt sehr empfängliche Natur, machte für sie das Theilen eines verdientermaßen schimpflichen Looses so bitter, wie es nur für einen Menschen sein konnte. Aber diese mangelhaft erzogene Frau, deren Ausdrucksweise und Gewohnheiten ein sonderbares Flickwerk waren, hatte doch den Sinn für echte Pflichttreue. Es war ihr unmöglich, den Mann, dessen glückliche Zeiten sie fast ein halbes Menschenleben hindurch getheilt und der sie unwandelbar zärtlich geliebt hatte, jetzt, wo ein Strafgericht über ihn gekommen war, in irgend einem Sinne zu verlassen.
Es giebt ein Verlassen, welches noch immer mit der verlassenen Seele an demselben Tische sitzt und auf demselben Lager liegt, das aber diese Seele durch lieblose Nähe nur um so unerbittlicher ausdörrt. Sie wußte, als sie ihre Thür verschloß, daß, wenn sie wieder aufschlösse, sie bereit sein werde, zu ihrem unglücklichen Manne hinunter zu gehen und seinen Kummer zu theilen und von seiner Schuld zu sagen: »Ich will trauern, nicht Vorwürfe machen.« Aber sie brauchte Zeit, ihre Kräfte zu sammeln, unter Thränen Abschied von aller Heiterkeit und allem Stolz ihres Lebens zu nehmen.
Als sie sich stark genug fühlte hinunterzugehen, that sie zuvor noch etwas, was einem harten Beobachter vielleicht als reine Thorheit erschienen sein würde; für sie aber war es die Art, wie sie allen sichtbaren und unsichtbaren Zuschauern erkennen gab, daß sie ein neues Leben demüthigender Selbsterniedrigung begonnen habe. Sie legte all' ihren Schmuck ab und zog ein einfaches Kleid an, bürstete ihr kunstvoll frisirtes Haar glatt herunter und setzte sich, statt der Putzhaube, die sie zu tragen pflegte, eine einfache Haube auf, so daß sie plötzlich aussah wie eine Methodistin der alten Zeit.
Bulstrode, der wußte, daß seine Frau ausgefahren sei und beim Nachhausekommen erklärt habe, sie sei nicht wohl, hatte die Zeit in nicht geringerer Aufregung als sie zugebracht. Er hatte sich darauf gefaßt gemacht, daß sie die Wahrheit von Anderen erfahren werde, und hatte sich bei dieser Wahrscheinlichkeit, die ihn eines peinlichen Bekenntnisses überheben würde, beruhigt.
Aber jetzt, wo er sich den Moment ihrer erlangten Kunde als gekommen vorstellte, sah er dem Ergebniß mit Angst entgegen. Seine Töchter hatten ihn allein lassen müssen, und obgleich er sich etwas Nahrung hatte bringen lassen, hatte er dieselbe doch nicht berührt. Er fühlte sich in seinem unbemitleideten Elende langsam zu Grunde gehen. Vielleicht würde er nie wieder den Ausdruck der Zärtlichkeit auf dem Gesicht seiner Frau zu sehen bekommen. Und wenn er sich zu Gott wandte, so fand er auch hier keine Antwort, nur den furchtbaren Druck der strafenden Gerechtigkeit.
Es war acht Uhr Abends geworden, als sich die Thür seines Zimmers öffnete und seine Frau eintrat. Er wagte es nicht, zu ihr aufzuschauen. Die Augen zu Boden geheftet saß er da, und als sie auf ihn zutrat, kam es ihr vor, als sei er kleiner geworden, so welk und verschrumpft sah er aus. Eine Regung neuen Mitleids und alter Zärtlichkeit durchzuckte sie; sie legte die eine Hand auf die seinige, welche auf der Seitenlehne des Stuhles ruhete, und die andere auf seine Schulter, und sagte in feierlichem, aber freundlichem Ton:
»Schau' auf, Nikolaus.«
Als er die Augen zu ihr erhob, fuhr er ein wenig zusammen und sah sie einen Augenblick halb erstaunt an. Ihr bleiches Gesicht, ihre plötzlich angelegte Trauerkleidung, das Zittern ihrer Mundwinkel, alles sprach ›Ich weiß‹, während ihre Hände und ihre Augen freundlich auf ihm ruheten.
Er brach in Thränen aus; sie setzte sich zu ihm, und sie weinten miteinander. Sie vermochten noch nicht von der Schande, welche sie mit ihm trug, und von den Thatsachen zu reden, welche diese Schande über sie gebracht hatte. Schweigend machte er sein Geständniß, und schweigend versprach sie ihm Treue. Offen wie sie war, schreckte sie doch vor den Worten, welche ihrem beiderseitigen Bewußtsein Ausdruck gegeben haben würden, zurück, wie sie vor sprühenden Funken zurückgeschreckt sein würde. Sie mochte nicht fragen, ›wieviel ist nur Verleumdung und falscher Verdacht?‹ und er sagte nicht ›Ich bin unschuldig‹.